Friedel Wahren (Hrsg.) – Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin 26. Folge

Classic SF: Vom Gottesexperiment zu Gottes abgesandtem Alien

Dieser Auswahlband aus dem Jahr 1985 enthält Erzählungen von Gene Wolfe, Lucius Shepard, Nancy Kress und Michael Bishop sowie von dem deutschen Autor Hans Bach.

Hier findet man unter anderem:

1) Die Story von dem Globetrotter, der sich absichtlich den lebensfeindlichsten Erdenwinkel zum Ruhesitz wählt;
2) Die Story von dem Mord anlässlich einer Raumkreuzfahrt, bei dem Mörder und Opfer im dunkeln bleiben;
3) Die Story von dem absurden Experiment, bei dem mittels Sex und Trance unerhörte Energien freigesetzt werden;
4) Die Story von dem rätselhaften Alien von Alpha Centauri: ein neuer Heiland, der Antichrist oder nur ein abgeschobener Revoluzzer;
5) Die Story von den Wanderern auf fremden Welten, die allen Widrigkeiten trotzen – und an sich selbst scheitern.

Die Herausgeber

Friedel Wahren war lange Jahre die Mitherausgeberin von Heynes SF- und Fantasyreihe, seit ca. 2001 ist sie bei Piper verantwortlich für die Phantastikreihe, die sowohl SF als auch Fantasy veröffentlicht.

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte.

Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Später verknüpfte er die Foundation mit den Robotern – Aliens blieben wie eh und je außen vor, außer sie waren menschliche Mutanten.

Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien. Im Magazine of Fantasy and Science Fiction hatte er jahrelang eine regelmäßige Kolumne, in der er sich mit zahlreichen wissenschaftlichen Fragen befasste.

Die Erzählungen

1) Lucius Shepard: Der Wanderer (A Traveler’s Tale, 1984 )

Als ausgebürgerter Amerikaner hat sich Frank Winship auf Guanejo Menor niedergelassen, einer Karibikinsel, die dem Festland von Honduras vorgelagert ist. Die Insel war von den Caribe-Indios bewohnt, bis die Europäer und ihre Sklaven kamen. Frank wundert sich immer, dass die Einheimischen abergläubisch sind und an alle Arten von geistern glauben, sogar an Außerirdische. Aber dieser Aberglaube hat zumindest in einem Fall eine historische Grundlage, erzählt er einem anderen Amerikaner, und er zeigt ihm eine Tagebuchnotiz des britischen Kaperkäpitäns Henry Meachem, die dieser am 7. Mai 1793 in sein Log eintrug: zweifellos eine UFO-Sichtung.

Zwei Jahre später kommt dieser Amerikaner, Ray Milliken, zurück, um auf Guanejo eine Sektenkolonie zu gründen. Sie wollen auf die Außerirdischen Warten und währenddessen eine vorbildliche Stadt nach amerikanischem Vorbild erbauen. Dumm nur, dass er sich dafür ausgerechnet die schlangenreichste, von Moskitos verseuchte Stelle der Insel ausgesucht hat. Außerdem löst Milliken unabsichtlich einen Grundstückstreit aus: Er hat für den „Burying Ground“ Hatfield bezahlt, doch Jimmy Mullins, ein arbeitsloser Säufer, meint, das Land und folglich der Kaufpreis stünden ihm zu. In der Strand-Bar kann Frank den Streit hautnah miterleben. Er wundert sich, dass Ray, dieser einst so freundliche Mann, keinen Versuch unternommen hat, ihn zu kontaktieren. Franks Besuch bei Ray ergibt, dass der Ami völlig irre ist.

Allmählich kippt im Laufe der Monate die Stimmung der Einheimischen gegenüber der Sekte. Sogar Frank bekommt die Feindseligkeit zu spüren. Als Jimmy Mullins besoffen zu Frank kommt, bekommt er von Franks einheimischer Freundin Elizabeth eins über den Schädel gezogen. Die Dinge stehen schlecht. Dann löst sich die Sekte auf, doch Ray Milliken bleibt, wie Frank feststellt. Ray ist seltsam verändert und hat seine Hütte mit einem Graben umgeben, der mit giftigen Korallennattern gefüllt ist.

Franks zweiter Besuch ist aufschlussreicher. Endlich versteht er die Gerüchte über Rays seltsame Veränderung: Ray ist vom geist einer außerirdischen Frau besessen, deren Raumschiff anno 1793 hier abgestürzt ist – Henry Meachems Tagebucheintrag ist also völlig korrekt. Sie hat sich gemäß Rays Wunsch den Namen Cassiopeia zugelegt. Sie hat sehr viel Interessantes zu erzählen.

Doch Rays Tage sind gezählt, als Jimmy Mullins mit einer Machete auftaucht – und somit auch die Tage von Cassiopeia…

Mein Eindruck

Die Novelle ist beeindruckend stimmungsvoll erzählt, gerade so, als wäre der Autor selbst vor Ort gewesen. Das ist auch gut möglich, denn nicht nur diese Story, sondern auch „Der Pfad des Jaguars“ und „Salvador“ spielen in und um Honduras herum. Nach einer Weile geht dem Leser eine grundlegende Analogie auf: So wie die Amerikaner (Frank, Ray) und Briten Fremdlinge in der Karibik und unter ihren Bewohnern sind, so ist es auch Cassiopeia unter den Erdlingen.

Anders als die Amis in Übersee – man denke etwa an Hemingway – hat jedoch Cassiopeia die Möglichkeit, den Wirtskörper zu wechseln. Allerdings hat sich Henry Meachem, dessen Hexerin den Alien entdeckte, mit der Sternenfrau einen bösen Scherz erlaubt: Er erlaubte ihr, in einem geistig minderbemittelten Engländer zu verweilen, vorausgesetzt, er zeugte mit einer ebenso geistig minderbemittelten Negerin aus der Sippe der Mullins ein Kind. So kam, dass Cassiopeia mit dem ganzen Kuddelmuddel über den Landbesitz am Burying Ground involviert ist.

Der gute Frank versucht das Beste aus der verworrenen Lage zu machen, aber sie durchschaut sofort seinen geldgeilen Versuch, ihre Berichte auf Tonband zu bannen, und wirft das Gerät ins Gebüsch. Immer müssen die Amis an Geld denken! In dieser Hinsicht sind sie keinen Deut besser als Einheimische wie Jimmy Mullins. Der schlägt sogar Franks Geldangebot aus, um seinen Anteil von Ray Milliken zu fordern. Da gerät er aber an den bzw. DIE Falsche…

Die Schönheit der Natur, die eine wichtige Metapher für die Seelen der Menschen darstellt, steht im krassen Gegensatz zu deren niederträchtigen Unternehmungen. Das ist typisch Karibik, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann – ich war 1995 dort.

2) Gene Wolfe: Grund zum Jubel (Cherry Jubilee, 1982)

Der Mars ist rot, das heißt: sowjetisch. An Bord des Passagierschiffs „Roter Stern“ befinden sich daher vor allem Russen und nur drei Amerikaner. B. Smith, angeblich ein Wirtschaftswissenschaftler, betrachtet die sieben anderen Gäste, die am Kapitänsdiner von Käptn Bogdanov teilnehmen, ganz genau. Ein Mitarbeiter des Kunstministeriums stellt zwei Amerikanerinnen vor, die sich Merry und Cherry Houdini nennen. Sie wollen später einen Entfesselungsakt vorführen. Es stellt sich heraus, dass Merry der Klon von Cherry ist – oder war’s umgekehrt? Smith ist sich schnell nicht mehr sicher, denn die beiden Blondinen sehen einander so ähnlich. Dieser Umstand wird später noch eine wichtige Rolle spielen.

Denn der Entfesselungsakt läuft keineswegs reibungslos ab. Eine der Blondinen – Merry? – wird in einen länglichen Werkzeugkasten gelegt, den Bogdanov als „Sarg“ zu bezeichnen beliebt. Er verschließt den Kasten persönlich mit einem Vorhängeschloss, verbindet den Handgriff des Kasten durch ein Hanfseil mit einer Klampe, die sich im Inneren der Hauptschleuse befindet. Auf diese Weise will er verhindern, dass der „Sarg“ abdriftet, während sich das Schiff bewegt, und man so Merry verlöre.

Die Schleuse wird nach außen geöffnet und der Kasten wird vom Luftdruck ins All gerissen. Alle Fluggäste und etliche Mitglieder der Crew verfolgen den Befreiungsakt an Luken, Ausgucks und Plattformen. Aber B. Smith muss an seinem Ausguck bestürzt feststellen, dass das Seil durchtrennt worden ist. Er eilt Richtung Schleuse, um Maßnahmen zu ergreifen, doch als er die innere Seite der Schleuse öffnet, schweben ihm Blutstropfen entgegen – und eine Leiche…

Oberstleutnantin Vera Oussenko, Smiths Sitznachbarin beim Diner, übernimmt die Ermittlungen in Sachen Cherry Houdini. Sie erklärt alle für verdächtig, die beim Diner bei ihr waren. Denn es war ihr Steakmesser, das nun in der Brust der Leiche steckt. Jemand musste es beim Diner an sich genommen haben…

Mein Eindruck

Dies ist eine klassische Kriminalgeschichte, wie sie der Krimikenner von Agatha Christie oder Rex Stout (Nero Wolfe) her kennt. Hier kommt es darauf an, immer mitzudenken und alle Figuren zu berücksichtigen. In der Mitte „ermittelt“ Vera Oussenko vom KGB anhand ihrer Beobachtungen und bezeichnet am Schluss den Täter. Ungewöhnlich ist lediglich das Setting an Bord eines Raumschiffs der Sowjets. Es könnte sich aber genauso gut um den Orient-Express handeln. Der Clou ist natürlich das Klonpaar: Wer würde da nicht sofort an Verwechslungsgefahr denken?

Das tut beispielsweise B. Smith und kommt im dritten Teil der Geschichte zu einem verblüffenden Schluss: Es war alles ganz anders. Aber das hindert ihn nicht daran, mit der Mörderin eine Beziehung anzufangen. Er hat nämlich bedacht, dass ein Klon keine Kindheit erleben und folglich auch kein Gewissen aufbauen kann. Das ist die Kernaussage dieses kleinen Krimis. Und dafür lohnt es sich, diese harte Nuss zu knacken.

3) Nancy Kress: Wer suchet, der findet (Trinity, 1984)

Seena Konig, die amerikanische Wissenschaftlerin, ist entsetzt über das abgemagerte Aussehen ihrer jüngeren Schwester Devrie: Sie besteht nur noch aus Haut und Knochen. Der Grund dafür muss wohl in ihrem längeren Aufenthalt im „Institut für biologische Hoffnung“ zu finden sein, das ein Nobelpreisträger illegal auf der Karibikinsel Dominica betreibt. Anscheinend ist er ein Gottsucher, und seine Studenten – oder besser „Jünger“ – sollen ihm dabei helfen, indem sie Drogen nehmen und in Trance verfallen. Devrie hat ihm ihr geerbtes Vermögen vermacht.

Es wäre Devries Privatsache, sich zugrundezurichten, doch sie hat einen Klon als „Bruder“ und somit eine Verantwortung zu tragen. Seena soll ihr helfen, ihren Sohn aus dem Institut herauszuholen. Natürlich gibt es einen Hintergedanken: Laut der verqueren – und bewiesenen – Theorie des Forschers erschaffen eineiige Zwillinge bei besonders enger emotionaler Verbindung („Zwillingstrance“) ein drittes Bewusstsein, quasi eine Simulation Gottes. Einer dieser besonders emotionalen Momente ist der sexuelle Höhepunkt. In Ermangelung eines Zwillings braucht Devrie dafür ihren Klon-Bruder. Und Seena soll ihn ausfindig machen und zu Devrie locken.

Keith Thorellen ist ein etwa 23 Jahre alter Schauspieler in New Hampshire. Er sieht Seena ähnlicher als Devrie, stellt Seena mit einem emotionalen Schock fest. Sie wird sogar mehrfach für seine Mutter gehalten, so etwa von Keiths Vermieterin. Ein dunkles Verlangen steigt in Seena auf: Sie ist steril, hat die fruchtbaren Jahre bereits hinter sich, beschäftigt sich im Museum nur mit toten Insekten – und nun kommt da ein beinahe-Verwandter in ihr Leben. Ihn abzuwehren, nützt nichts: Er macht sie in New York City ausfindig. Ihr Verlangen überwindet ihre Vernunft – und es ist kein Inzest, denn sie sind ja nicht verwandt, oder?

Natürlich findet es Devrie heraus – denn Keith ist impotent. Wütend kommt sie zu Seena und tischt ihr Lügen mit der Drohung auf, sich umzubringen, wenn Seena nicht mit Keith redet. Seena bleibt nichts anderes übrig, tischt ihm aber ihrerseits Lügen über Devries finanzielle Unabhängigkeit auf: Sie sei schließlich Devries Vormund. Zu ihrem Erstaunen erklärt ihr Keith, dass Devrie völlig in Ordnung sei.

Also kann das Gottesexperiment unter Beteiligung von Devrie und ihrem Klonbruder doch noch stattfinden. Es führt zu einem verblüffenden Ergebnis…

Mein Eindruck

Der Leser darf bei einer gewieften Autorin wie Nancy Kress, der Autorin von „Bettler in Spanien“, nicht erwarten, dass sie gleich zum Punkt kommt und all ihr Pulver verschießt. Darauf muss der Leser bis zur allerletzten Szene warten: Wird Gott erscheinen und wenn ja, wie wird er/sie/es aussehen und reagieren? Diese Fragen werden beantwortet, keine Sorge.

Auf dem Weg dorthin entwirft die Handlung eine Welt, die düster ist. In Afrika hat es einen Atomkrieg gegeben, der Mutationen erzeugt hat. Diese wiederum landen direkt auf Seenas Präpariertisch, wo sie wie eine Göttin über sie herfallen kann. Auch ihr eigener Vater hat Gott gespielt und dabei Keith sowie andere Klone erzeugt. Nun erscheint Gott im Experiment selbst, mit dem Forscher als Hebamme oder Merlin. Was macht das mit dem Bewusstsein der Menschen? Seena für ihren Teil fühlt sich wie eine Motte in einem Glaskäfig, unter Beobachtung, gefangen, wehrlos.

All das scheinbar müßige Hinundher in dieser Dreifaltigkeit aus Schwester Devrie, Pseudo-Mutter Seena und Pseudo-Bruder Keith ist ein Ringen um Freiheit des Individuums, bei dem die Bedingungen für den Eintritt auf eine höhere Ebene verhandelt werden: die Ebene eines Gottes oder zumindest Geburtshelfers Gottes. „Gott“ ist lediglich die transzendente Ebene für die künstliche biologische Evolution, die Seenas und Devries Vater in Gang gesetzt hat.

Der Text ist wie stets bei Kress lang und anspruchsvoll, aber ausgezeichnete Science Fiction: Literatur, die sich mit den Veränderungen befasst, die Wissenschaft in jeder Form herbeiführt oder herbeiführen könnte.

4) Michael Bishop: Das Evangelium nach Gamaliel Crucis oder: Das Vermächtnis des Astrogators (The Gospel According to Gamaliel Crucis or, The Astrogator’s Testimony, 1983)

An Bord des Raumschiffs „Pilger“ kehrt der Heiland auf die Erde heim. Dieser Messias hat die Gestalt einer großen Gottesanbeterin und nennt sich deshalb „Lady Mantis“ oder „Mantikhoras“. Der Navigator Gamaliel Rashba, der sich nun „Crucis“ nennt, ist ihr Jünger, denn er hat, wie zwei weitere Crewmitglieder, ihre Göttlichkeit erkannt. Gamaliel gehört der 20. Expedition an, die die interstellare Behörde für Forschung, Handel und Raumfahrt zu den Sternen ausgesandt hat. Auf dem fünften Planeten des Doppelsterns Alpha Crucis wurde er fündig: Diese Welt wimmelt von Heilanden, und sie sind alle weiblich. Während die Mächtigen der Ureinwohnerschaft von Acrux 5 alle anderen Manis-Aliens wegen Ketzerei hinrichten lassen wollte, erlaubten sie Gamaliel, die Mantikhoras mit zur Erde zu nehmen.

Die erste Pressekonferenz findet in Cleveland, Ohio, statt, denn die Ostküsten-Megalogpolis zwischen Washington, D.C., und New York City / Boston existiert nicht mehr. Die Mantikhoras zeigt sich der Pressemeute, und Gamaliel verkündet das Evangelium, während Kapitän Bajaj den Tumult zu besänftigen versucht. Unter den Reportern tut sich besonders lautstark Rachelka Dan vom Star-Telex hervor. Doch auf jede ihrer bohrenden Fragen haben die Sternenfahrer und das Alien eine Antwort – bis auf eine: Was will die Mantikhoras auf der Erde wirklich?

Zunächst muss sie ein paar Prüfungen bestehen. Sie leistet den Treueid auf die Vielgeteilte Union von Nordamerika (VUNA) und verbringt anschließend 40 Tage in der Wildnis, wo sie diversen Versuchungen ausgesetzt ist. Erst danach erreicht sie, unterm Radar der VUNA-Luftwaffe fliegend, das Gelobte Land: Kalifornien! Hier trifft sie ihre Jünger wieder, zu denen nun auch die durch ein Wunder bekehrte Rachelka Dan stößt. Sie verliebt sich in Gamaliel und heiratet ihn.

Die Mantis verbreitet die Frohe Botschaft auch an Delfine, Killerwale und Affen aller Arten. Das finden die Bewohner der postatomaren VUNA recht verdächtig, denn insbesondere für die fundamentalistischen Neutestamentarischen Erwecker (kurz „Neutester“) des Bischofs Thaddeus Thorogood ist nur der Menschen von Gott auserwählt, Tiere haben jedoch keine Seele. Er fordert die Mantis heraus, sich seinem Gerichtsurteil zu stellen, auf dass er feststellen könne, ob sie der Antichrist, ein Jesus-Imitator oder gar der Höllenfürst persönlich sei. Zur Bestürzung Gamaliels und der anderen Jünger beschließt seine Herrin, sich in die Höhle des Löwen zu wagen und sich Thorogood zu stellen…

Mein Eindruck

Die Vorlage für diese Pastiche liefern die vier Evangelien des Neuen Testaments. Stilecht ist die Passion der Mantis in Kapitel und diese wiederum Verse unterteilt. Auf diese Weise sind auch Verweise auf andere Stellen dieses „Evangeliums“ leicht aufzufinden. Wichtiger aber ist für den Leser die Frage, ob das Ende der Mantis mit dem von Jesus, dem gesalbten Messias, identisch sein wird. In positiven Fall hätte dies eine negative Wirkung: Das Ende wäre vorhersehbar, die Spannung würde gegen null tendieren.

Doch dazu kommt es glücklicherweise nicht. Die Mantis verfügt nämlich über gottähnliche Kräfte, die sie allen Arten von Mordanschlägen der Neutester überstehen lassen und sie in die Lage versetzen, ihre vergifteten Jünger zu heilen und in Sicherheit zu bringen. Die spannende Frage: Wird es ihr gelingen, sich selbst zu retten und die Herrschaft über die atomar verwüstete Erde anzutreten? Dass sie sich in der Todeszone von Calgary, Kanada, auf einen Turm fesseln lässt, der mit einem nuklearen Sprengsatz versehen ist, lässt nichts Gutes erwarten. Ach, ihr Kleingläubigen. Die Wunder der Mantis enden nie!

Der sehr durchdachte und kenntnisreiche Text bezieht sich nicht nur auf die römische Epoche, zu der ein gewisser Jehoschua aus Nazareth auf Aramäisch obskure Prophezeiungen ausstieß und Heilversprechen predigte, sondern auch auf das berühmteste Gedicht des irischen Poeten William Butler Yeats: „The Second Coming“. Es behandelt die Wiederkehr des Messias und was man hienieden davon zu halten habe. Weil Gamaliel, der Zweifler, es zitiert, entsteht Spannung: Wird die Mantis die Prüfungen überleben?

Merke: Man sollte die Passion Christi aus den vier Evangelien kennen – es gibt erhebliche Unterschiede, die in den Verfilmungen allesamt unter den Tisch fallen. Die „Offenbarung des Johannes“ wird zum Glück nicht erwähnt, sonst wäre die Erzählung uferlos. Die Story richtet sich an die fundamentalistischen Christen, die einen gewissen Donald J. Trump an die Macht gebracht haben, zuvor aber auch schon Ronald Reagan und Richard Nixon. Diese Ultrarechten haben in Charlottesville, Virginia, gezeigt, dass sie auch zu Mord bereit und fähig sind. Diese Zielgruppe dürfte einen Text wie dieses Mantis-Evangelium für blasphemisch halten.

Ich selbst fand den Text nicht so lustig, sondern viel zu lang. Die Hälfte hätte bei weitem gereicht.

5) Hans Bach: Wandelsterne (1985, DE)

Die „Chelydra“ (Schnappschildkröte: https://de.wikipedia.org/wiki/Schnappschildkr%C3%B6te)) ist über einem unbekannten Planeten havariert, die mit dem Schleudersitz ausgestiegene Besatzung ist verstreut und versucht, im Nebel, der über der kahlen Oberfläche liegt, wieder zueinander zu finden. Die Funkverbindung zwischen den Schutzanzügen ist miserabel, so dass Goreg (lies: Georg) nur von Nash erfährt, dass die anderen wieder beisammen sind. Er selbst stolpert weiter durch den Nebel, sucht einen Fluss – oder das Diara-Gerät, das angeblich an Bord war. Er beginnt zu halluzinieren, sich an seine von Nash vertriebene Herzensdame Aganja zu erinnern und über die Todespille nachzudenken, die einwurfbereit in seinem Gürtel steckt.

Nach vielen Tagen erreicht er endlich wieder das Basislager und entdeckt das halbintelligente Diara-Gerät. Es berichtet, dass Nash auf der Suche nach Goreg umgekommen sei: Er sei in ein Loch der einheimischen Raubtiere gefallen. Goreg ist mit schweren Schuldgefühlen belastet und nimmt den einzigen Ausweg, dem ihm das Diara-Gerät bietet: in eine Rettungskapsel zu steigen, die in die Kreisbahn geschossen wird. Denn gleich darauf beginnt das Gerät mit der explosiven Selbstzerstörung…

Mein Eindruck

Dies ist in der Tat „die Story von den Wanderern auf fremden Welten, die allen Widrigkeiten trotzen – und an sich selbst scheitern“. Die Kommunikation zwischen Goreg und Nash scheitert, entweder weil sie technisch realisierbar ist oder weil Goreg immer noch auf Nash zornig ist. Der Grund für das Scheitern, das sich beide verhängnisvoll auswirkt, liegt also vor diesem Raumflug. Bei einem Erdaufenthalt hatte Goreg die Erdenfrau Aganja „gebucht“, wohl eine Escort-Dame. Aber bevor er bei ihr zum Ziel gelangen konnte, funkte Nash dazwischen. Nun zahlt Nash den ultimativen Preis für seinen Fauxpas, denn Goreg hat ihm das nie verziehen. Was nur wieder zeigt, dass alle Aktivitäten im Weltraum und auf fremden Welten auf der Grundlage einvernehmlicher Zusammenarbeit erfolgen müssen.

Dass der Text von dem 1940 geborenen SF-Autor Hans Bach stammt, ist der Autorennotiz zu entnehmen. Bach arbeitete demzufolge mit psychisch kranken Menschen zusammen. Das passt zur Aussage des Textes. Der heutige, westdeutsche Leser könnte jedoch mit altertümlichen Wörter Schwierigkeiten haben, die der Autor verwendet. Was sind beispielsweise „vergeilte Erdpflanzen“? Auch Wörter wie „Unbill“ sind heute kaum noch geläufig.

Die Übersetzung

Die Texte sind durchweg korrekt und gut lesbar übersetzt worden, doch wie so oft tauchen hie und da ulkige Druckfehler auf.

S. 76: „Ich wusste schon […] Bescheid, ob Sie Zwillinge sind oder nicht.“ Hier fehlt wohl das Wörtchen „gerne“.

S. 195: „über der Haut ein[e]s Hammerhais hinweg…“ Das E fehlt.

S. 205: „Sie brauchte sich lediglich den Bart und die Peies stutzen zu lassen.“ „Peies“ wird nicht erklärt, steht aber im DUDEN (24. Auflage): „Schläfenlocken der orthodoxen Ostjuden“.

S. 209: „eine milde Brise von den Karolinen…“ Gemeint ist nicht irgendeine Inselgruppe im Pazifik, sondern die beiden US-Bundesstaaten South & North Carolina.

S. 250: „Kamer[a]den“: Das A fehlt.

S. 251: „vergeilte Erdpflanzen“. Heute setzt die Jugendsprache „geil“ und „Geilheit“ mit „lustvoll, toll“ und „Lust“ gleich, aber das war nicht immer so. Früher bedeutete „geil“ soviel wie „ins Kraut geschossen, übermäßig gewachsen, ungepflegt, wild“. Das ist hier wohl gemeint.

Unterm Strich

Am lesbarsten von all diesen hochkarätigen Texten ist der von Lucius Shepard. Der titelgebende „Wanderer“ ist indes keiner der Männer in dieser Aussteigergeschichte, sondern das weibliche Alien von den Sternen, das von einem Wirtskörper zum nächsten wandert. Dies ist vermutlich eine Analogie zu den Aussteigern und Sektengründern, die Shepard so gerne porträtiert, hier in Honduras.

Gene Wolfe und ein Krimi? Da sollten beim Leser Zweifel aufkommen, denn der schreibende Ingenieur verdreht jeden Sachverhalt so lange, bis das Gegenteil des Anfangs herausgekommen ist. So auch hier in einem der merkwürdigsten Kriminalfälle, die man je an Bord eines Sternen-Luxusliners erleben wird.

Nancy Kress untersucht die Anstrengungen der Wissenschaft, Gott zu spielen – es ist das alte Frankenstein-Thema, komplett mit Klonen und Drogen. Dabei stößt sie aus weiblicher Perspektive auf ein paar beunruhigende Aspekte, die die Entdeckung Gottes und seiner Begegnung mit den Menschen zur Folge haben.

Bei Michael Bishop landet Gott oder zumindest sein Verkünder hienieden und seine bzw. ihre Leidensgeschichte wird als Evangelium ihres Jüngers Gamaliel mit Kapitel und Vers dargeboten. Das Stilexperiment ist zunächst witzig und sorgt für kurzweilige Lektüre, doch es scheint nicht enden zu wollen. Und das war mir ein bisschen zuviel des Guten.

Dieser Auswahlband lohnt sich für jeden Freund von hochwertiger Phantastik, insbesondere aber für Kenner des Genres. Neueinsteiger könnten mit anspruchsvollen AutorInnen wie Gene Wolfe, Nancy Kress und Michael Bishop ein wenig Mühe haben, aber es lohnt sich, den Geschichten bis zum Ende zu folgen. Die Stil- und Druckfehler führen zu Punktabzug.

Fazit: vier von fünf Sternen.

Michael Matzer © 2019ff

Taschenbuch: 272 Seiten
Originaltitel: Asimov’s Science Fiction Magazine, 1982-84
Aus dem Englischen von Rüdiger Hipp, Jürgen Langowski und Ingrid Herrmann
ISBN-13: 9783453312302

www.heyne.de

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