„Strahlend und verdreckt, edel und käuflich, sinnlich und verwelkt, brüderlich und hasserfüllt.“ So beschreibt „Le Monde“ im Klappentext von „Total Cheops“ das Marseille von Jean-Claude Izzo. Und trifft damit den Nagel auf den Kopf.
„Total Cheops“, der Auftakt zu Izzos viel gelobter Marseille-Trilogie (deren zweiter Teil immerhin mit dem Deutschen Krimipreis 2001 ausgezeichnet wurde), erzählt von Fabio Montale. Er ist Polizist in den nördlichen Vierteln Marseilles, einem sozialen Brennpunkt. Bandenkriminalität, Drogenhandel, Prostitution: So sieht dort der Alltag aus und Montale versucht dazwischen immer wieder auf der richtigen Seite zu stehen. Er hat ein großes Herz für die Bewohner dieses Schmelztiegels, egal ob Araber, Italiener, Spanier oder Franzosen, und er liebt gutes Essen, Musik und Wein. Zum Abschalten vom Polizeialltag fährt der Einzelgänger mit seinem Boot zum Angeln aufs Meer hinaus.
Das Buch startet mit der Geschichte einer Rache. Ugo, ein alter Freund von Fabio, kehrt zurück nach Marseille, um den Tod ihres gemeinsamen früheren Freundes Manu zu rächen. Doch auch Ugo stirbt schon kurz darauf mit mehreren Kugeln im Rücken in der Gosse. Fabio bleibt als einziger der früheren Freunde zurück. Hungrig nicht nur danach, die Hintergründe aufzuklären, sondern auch seine beiden Freunde zu rächen, macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Ehre und Freundschaft haben den Dreien immer sehr viel bedeutet.
Wenig später wird Leila, die Tochter eines befreundeten algerischen Einwanderers, vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Sie war die Hoffnung der Familie: hübsch, intelligent und auf dem besten Wege, etwas aus ihrem Leben zu machen und so auch dem Leben ihres Vaters einen Sinn zu geben. Ein Fall, der Fabio auch deswegen so nah geht, weil er zu Leila ein sehr enges Verhältnis hatte. Schon bald stellt sich heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen Leilas Tod und einer Schießerei organisierter Banden geben muss und Fabio versucht, mehr oder weniger auf eigene Faust, Leilas Mörder zu finden und ganz nebenbei auch in der Sache Ugo/Manu seinen Frieden zu finden. Sein Weg führt ihn mitten in die Marseiller Unterwelt.
„Total Cheops“ will keine durchschnittliche, typische Krimikost sein. Der Einstieg fordert viel Aufmerksamkeit. Der Prolog wird aus der Sicht Ugos erzählt. Danach wechselt die Perspektive zu Fabio. Es tauchen so viele Namen auf einmal auf, dass man sich die Zusammenhänge kaum auf die Schnelle merken kann, und wer man nicht konzentriert genug liest, kann schon mal irgendwo ein Detail übersehen. Auch sprachlich ist „Total Cheops“ letztendlich eher genreuntypisch und überdurchschnittlich anspruchsvoll. Die eigentliche Krimihandlung wird hier und da immer wieder etwas an den Rand gedrängt und gibt Izzo den Raum, sich näher seinen Figuren, der provenzalischen Küche und seinem „antiken Theater“ Marseille zu widmen.
|“Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit. Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren. Dafür oder dagegen sein. Leidenschaftlich sein. Erst dann wird sichtbar, was es zu sehen gibt. Und dann ist man, wenn auch zu spät, mitten in einem Drama. Einem antiken Drama, in dem der Held der Tod ist. In Marseille muss man sogar kämpfen, um zu verlieren.“| (S. 31)
In vielen Punkten wird das Buch zu einer Bestandsaufnahme, zu einem Blick in das Leben in den Einwanderervierteln Marseilles, die einerseits soziale Brennpunkte sind, andererseits aber auch das bunte, fröhliche Leben in der Vergangenheit Fabio Montales und seiner früheren Freunde widerspiegeln. Dem Roman tut das sehr gut, denn die Figuren und auch die Handlung gewinnen dadurch an Tiefe. Er ist auf der einen Seite zwar sicherlich ein Krimi, auf der anderen Seite erzählt er aber auch die Geschichte des Lebens eines Mannes an einem ganz bestimmten Ort.
Izzo zeigt eine bröckelnde Fassade Marseilles, wobei es nicht nur die Fassaden der Gebäude in den nördlichen Vierteln sind, die bröckeln, sondern auch die Fassade des Polizisten – des Mannes, der auf der Seite des Gesetzes stehen sollte. Fabio ist im Grunde kein typischer Polizist, denn Izzo differenziert gar nicht so klischeehaft in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß.
Man kann die Hauptfiguren nicht nach klassischen Kriterien aufteilen, denn so wie Izzo sie beschreibt, tragen viele von ihnen beide Hälften in sich – die gute Seite ebenso wie die böse. Sie sind wie Ying und Yang. Das schafft nicht nur Sympathie, sondern lässt die Handelnden außerdem menschlicher erscheinen. So wie Fabios alten Freunde nicht die eiskalten Gangster sind, so ist Fabio nicht der Polizist, der immer treu auf der Seite des Gesetzes steht. Die Grenzen verwischen und Fabio scheint mehr Sozialarbeiter als Polizist zu sein. Ein Mann, von dem seine Kollegen sagen, er würde abgleiten.
Fabio hat eine unrühmliche Vergangenheit hinter sich. Er weiß aus seiner Jugend, in der er mit Ugo und Manu nicht nur viele Träume teilte, sondern auch die Beute einiger Raubzüge, wie die andere Seite aussieht. Ob jemand Polizist oder Gangster wird, scheint mehr ein biographischer Zufall zu sein. Für Fabio bleiben seine alten Freunde seine Freunde, auch wenn sie außer der Vergangenheit längst keine Gemeinsamkeiten mehr teilen. Und so bildet der Aspekt der Freundschaft eine wichtige Komponente in Izzos Buch.
Die Person des Fabio ist sicherlich auch ein Punkt, der die besondere Faszination des Romans ausmacht. Er schildert seine Ansichten der Stadt und der dort lebenden Menschen, er erzählt von seiner Freundschaft zu Ugo und Manu. Alles geschieht sehr persönlich und offen, so dass man viel über Fabios Motive und seinen Lebensweg erfährt und seine Persönlichkeit mit jeder Seite mehr entblättert wird. Genau wie Mankells Kommissar Wallander ist auch Fabio ein Antiheld, der in einer Lebenskrise zu stecken scheint. Er ist einsam, zweifelt an seiner Arbeit und ist an manchen Tagen etwas zu sehr dem Alkohol zugetan.
|“Ich war wie alle Männer, die auf die fünfzig zugehen. Ich fragte mich, ob das Leben meine Hoffnungen erfüllt hatte. Ich wollte mit JA antworten, und mir blieb nicht viel Zeit. Wenn dieses JA keine Lüge sein sollte. Ich hatte nicht die Möglichkeit, wie die meisten Männer, einer Frau, die ich nicht mehr begehrte, noch ein Kind zu machen, um diese Lüge zu verdrängen. Mich nach der allgemein üblichen Praxis selbst an der Nase herumführen zu lassen. Ich war allein und musste der Wahrheit direkt ins Gesicht sehen. Kein Spiegel würde mir sagen, du bist ein guter Vater, ein guter Ehemann. Oder ein guter Polizist.“| (S. 137)
Neben den konturreich gezeichneten Figuren und den bildhaften Beschreibungen Marseilles weiß „Total Cheops“ auch auf sprachlicher Ebene zu überzeugen. Izzo formuliert auf eine recht eigentümliche Weise. Er benutzt viele Metaphern und bedient sich einer poetischen Ausdrucksweise. Zu den Geschehnissen, die in der Geschichte geschildert werden, bildet diese sprachliche Feinfühligkeit einen reizvollen Kontrast. Izzo scheint seine poetische Sprache ganz bewusst so gewählt zu haben, denn an einer Stelle im Roman heißt es: |“Die Sinnlichkeit der am Leben Verzweifelten. So können nur Dichter reden. Aber die Poesie hat nie irgendwelche Antworten gehabt. Sie ist Zeuge, das ist alles. Zeuge der Verzweiflung. Und der verzweifelten Leben.“| (S. 141)
Auch Izzo hat keine Antworten parat, sondern ist nur Zeuge. Er dokumentiert das Leben in Marseille, trostlose Momente ebenso wie Augenblicke voller Lebensfreude, und bewegt sich in einem Spannungsfeld irgendwo zwischen Einwanderervierteln, organisierter Kriminalität und dem steigenden Einfluss der Front National – und das Ganze auf so poetisch-schöne Weise, dass man sich in „Total Cheops“, wie auch in den weiteren Büchern der Marseille-Trilogie („Chourmo“ und „Solea“), verlieren kann. Dennoch sind wir andererseits am Ende froh, wenn die Geschichte vorbei ist, denn Izzos Marseille ist so düster und hart, dass es weh tut. Der Tod ist Montales ständiger Begleiter.
Taschenbuch: 256 Seiten
Originaltitel: Total Kheops