Klassische SF-Erzählungen: von Damen, Magiern und seltsamen Jungs
Dies ist einer der besten Auswahlbände mit Erzählungen aus dem traditionsreichsten und mehrfach mit Preisen ausgezeichneten „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Die Auswahlbände erschienen rund vier Jahrzente in der Reihe „Heyne Science Fiction & Fantasy“.
Die 56. Folge des „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ enthält folgende Erzählungen:
1) Die Story von dem Wissenschaftler, der zwar die Fähigkeiten, aber nicht das Zeug dazu hat, die Welt zu verändern.
2) Die Story von der Schauspielerin, die sich mit den elektronischen Gespenstern ihrer großen Vergangenheit umgibt.
3) Die Story von dem Mann, der die Lizenz besitzt, jedem seine Meinung sagen zu dürfen – aber keine Meinung hat.
4) Die Story von Mardik, dem Schmied, der auf seine handfeste Weise auf Brautschau geht und sich selbst durch Zauberei und Ungeheuer nicht einschüchtern lässt.
5) Die Story von Phil, der sein Leben einem toten Freund verdankt und seitdem jede Nacht seltsamen Besuch bekommt.
6) Die Story von dem Jungen, der die Helden von Presse, Film und Funk aus der Vergangenheit heraufbeschwören kann – und dafür einen bitteren Preis bezahlen muss.
Das Magazin
Das Magazine of Fantasy and Science Fiction besteht seit Herbst 1949, also rund 64 Jahre. Zu seinen Herausgebern gehörten so bekannte Autoren wie Anthony Boucher (1949-58) oder Kristin Kathryn Rusch (ab Juli 1991). Es wurde mehrfach mit den wichtigsten Genrepreisen wie dem HUGO ausgezeichnet. Im Gegensatz zu „Asimov’s Science Fiction“ und „Analog“ legt es in den ausgewählten Kurzgeschichten Wert auf Stil und Idee gleichermaßen, bringt keine Illustrationen und hat auch Mainstream-Autoren wie C.S. Lewis, Kingsley Amis und Gerald Heard angezogen. Statt auf Raumschiffe und Roboter wie die anderen zu setzen, kommen in der Regel nur „normale“ Menschen auf der Erde vor, häufig in humorvoller Darstellung. Das sind aber nur sehr allgemeine Standards, die häufig durchbrochen wurden.
Hier wurden verdichtete Versionen von später berühmten Romanen erstmals veröffentlicht: „Walter M. Millers „Ein Lobgesang auf Leibowitz“ (1955-57), „Starship Troopers von Heinlein (1959), „Der große Süden“ (1952) von Ward Moore und „Rogue Moon / Unternehmen Luna“ von Algus Budrys (1960). Zahlreiche lose verbundene Serien wie etwa Poul Andersons „Zeitpatrouille“ erschienen hier, und die Zahl der hier veröffentlichten, später hoch dekorierten Stories ist Legion. Auch Andreas Eschbachs Debütstory „Die Haarteppichknüpfer“ wurde hier abgedruckt (im Januar 2000), unter dem Titel „The Carpetmaker’s Son“.
Zwischen November 1958 und Februar 1992 erschienen 399 Ausgaben, in denen jeweils Isaac Asimov einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er wurde von Gregory Benford abglöst. Zwischen 1975 und 1992 war der führende Buchrezensent Algis Budrys, doch auch andere bekannte Namen wie Alfred Bester oder Damon Knight trugen ihren Kritiken bei. Baird Searles rezensierte Filme. Eine lang laufende Serie von Schnurrpfeifereien, sogenannte „shaggy dog stories“, genannt „Feghoots“, wurde 1958 bis 1964 von Reginald Bretnor geliefert, der als Grendel Briarton schrieb.
Seit Mitte der sechziger Jahre ist die Oktoberausgabe einem speziellen Star gewidmet: Eine neue Story dieses Autors wird von Artikeln über ihn und einer Checkliste seiner Werke begleitet – eine besondere Ehre also. Diese widerfuhr Autoren wie Asimov, Sturgeon, Bradbury, Anderson, Blish, Pohl, Leiber, Silverberg, Ellison und vielen weiteren. Aus dieser Reihe entstand 1974 eine Best-of-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum, aber die Best-of-Reihe bestand bereits seit 1952. Die Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten erschien 1981 auch bei Heyne.
In Großbritannien erschien die Lokalausgabe von 1953-54 und 1959-64, in Australien gab es eine Auswahl von 1954 bis 1958. Die deutsche Ausgabe von Auswahlbänden erschien ab 1963, herausgegeben von Charlotte Winheller (Heyne SF Nr. 214), in ununterbrochener Reihenfolge bis zum Jahr 2000, als sich bei Heyne alles änderte und alle Story-Anthologie-Reihen eingestellt wurden.
Die Erzählungen
1) Olaf Stapledon: Der moderne Magier (ca. 1945/50)
Jim will seine Angebetete Helen beeindrucken, denn sie ist leider, wie sie behauptet, eine atheistische Realistin. Zu Demonstrationszwecken tötet er vor ihren Augen mit seiner Geisteskraft, der Psychokinese, ein Rotkehlchen. Es fällt tot vom Baum. Sie ist fasziniert, aber auch ein ganz klein wenig angeekelt. Jedenfalls hält sie ihn auf Abstand.
Das stachelt seinen Ehrgeiz an, und er setzt seine Versuche mit der Anwendung von Willenskraft auf biochemische Prozesse fort. Er kann zwar als Wissenschaftler nicht die Atomkraft unterdrücken und manipulieren, aber doch die winzig kleinen Vorgänge, die damit verbunden sind, etwa die Zündung einer Masse durch einen elektrischen Funken. Er lernt, solche Funken abzuleiten, damit sie ihn nicht selbst bewusstlos machen. Die Lahmlegung eines Autos mitsamt seinem Fahrer sind ein hübsches Beispiel.
Voll Eifersucht entdeckt er eines tages Helen neben einem fremden Mann. Es ist leicht, dessen Nerven lahmzulegen. Später sieht er Helen wieder: Sie sieht elend aus. Der Mann war ihr Bruder, den sie drei Jahre lang icht gesehen hatte. Erstmals plagen Jim Gewissensbisse: Er ist ein Mörder. Dennoch begehrt er sie weiter, gewinnt ihr Mitgeefühl erneut und demonstriert seine Macht: Er bringt ein Flugzeug zum Absturz. Sie kann ihm nicht mehr widerstehen, will sie nicht selbst getötet werden …
Mein Eindruck
Diese posthum veröffentlichte, zwischen 1945 und 1950 entstandene Erzählung formuliert eine deutliche Warnung vor verantwortungsloser Anwendung von wissenschaftlichen Kenntnissen. Offenbar wurde sie unter dem Eindruck der verheerenden Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki im August 1945 verfasst. Der SF-Historiker Sam Moskowitz hat in einem Nachwort einige interessante Aspekte hierzu zusammengetragen
Stilistisch relativ anspruchslos, aber inhaltlich mit etlichen reizvollen Wendungen versehen, zeigt sie uns eine Welt, in der kindliche Wissenschaftler nicht nur Menschen töten können, sondern auch fähig sind, Frauen zu vergewaltigen. Lediglich der Schluss, in dem sich Jim mit seiner Kraft der Psychokinese selbst tötet, wirkt aufgesetzt.
2) Lee Killough: Zerbrochene Treppen, Mauern aus Zeit
Simon Doyle ist Fotograf. Als er zurückehrt nach Gateside, erinnert er sich an seine sommerliche Jugendliebe Cybele Bournais. Die berühmte Opernsängerin lebt angeblich in einem raffiniert gebauten Haus, das wie ein verzweigter Baum geformt ist, mit Treppen statt Ästen und Räumen statt Baumkronen. Allerdings muss er feststellen, dass er zwar erkannt, aber nur von einem Hologramm nach dem anderen begrüßt wird. Wo ist die echte, leibliche Cybele?
Seine Neugier hat verhängnisvolle Folgen, denn Cybele hat allen Grund, ihren Körper oder was davon noch übrig ist, vor der Außenwelt zu verbergen …
Mein Eindruck
Man könnte die Erzählung für eine Etüde in der Demonstration der Holografie-Technik halten. Aber in Wahrheit beschäftigt sie sich mit dem Verhältnis von Kunst und Leben: ars longa, vita brevis. Um weiterhin als gefeierte Opernsängerin verehrt werden zu können, umgibt sich die Hauptfigur nach einem Umfall, bei dem ihr Mann starb, mit virtuellen Persönlichkeiten: Cybele als Cleopatra, Cybele als Anna Boleign (sic!) und so weiter.
Simon Doyle lässt sich nicht damit abspeisen und dringt zum traurigen Kern der Diva vor – was ihm ihren unversöhnlichen Hass einträgt. In einem Gewitter kommt die Diva brennend um. So vergehen scheinbare Göttinnen. Wehe, wenn man ihnen zu nahe kommt. Die Wahrheit ist immer hässlicher als der schöne Schein, vergleiche „Sunset Boulevard/Boulevard der Dämmerung“ von Billy Wilder. Die Erzählung erinnerte mich an die Kunstwelten aus J.G. Ballards Erzählungen über Stellavista („Die tausend Träme von Stellavista“).
3) Thomas M. Disch: Der Mann, der keine Idee hatte
Barry Riordan bekommt von seiner glorreichen Regierung die Lizenz zum Sprechen. Was für eine enorme Freiheit: endlich mündlich kommunizieren zu dürfen! Leider ist die Lizenz aufgrund eines Computerfehlers nur auf drei Monate befristet – er muss also bald eine Verlängerung beantragen und sich bis dahin wohlverhalten. Um die Verlängerung zu bekommen, braucht er drei Gutachten von anderen lizenzierten Sprechern. Die, so denkt Barry, trifft er am ehesten in dem Sprech-Klub „Partyland“.
Doch was er dort so sprechen darf, ist gar nicht so toll. Der Türsteher gibt nur Werbung von sich. Eine Miss Georgia mit dem schönen Namen Cinderella B. Johnson (nach dem Präsidenten, der auf den ermordeten JFK folgte) klagt ihm ihr Leid, und schließlich will ihm ein Pärchen für das Gutachten sein Geld abluchsen. Er verzichtet auf die Gutachten und stellt sich dem Test.
Nach der bestandenen Prüfung – vor einem Regierungsgegner – hat Barry wieder drei Monate Zeit bis zum Ablauf seiner Lizenz. Der Prüfer schickt ihn in ein übles Lokal, wo Barry seltsame Kontakte knüpft. Wird es ihm gelingen, seine drei Gutachten zusammenzukratzen? Und was wird seine Frau Debra sagen, wenn sie aus ihrem Exil in Arizona zurückkehrt?
Mein Eindruck
Auf höchst ironische Weise stellt der Autor das bekannte Märchen von Aschenputtel („Cinderella“) auf den Kopf. Bekanntlich muss dort ein PRINZ nach dem Mädchen suchen, zu dem der blutige Schuh, das sie auf dem Ball im Schloss trug, passt. Diesmal ist der Mann kein großzügiger Potentat, sondern der Bittsteller. Es sind die anderen, darunter etliche Frauen, die ihm weiterhelfen müssen, ein Sprecher zu werden bzw. zu bleiben. Hier werden also die Geschlechterrollen ebenfalls hinterfragt.
Natürlich ist die Erzählung eine Satire, die das Recht auf Kommunikation auf den prüfstand stellt. Nach der Watergate-Affäre mit den von Nixons Leuten abgehörten Vertretern der Demokratischen Partei steht ein Demokratie-Grundrecht auf dem Spiel, nämlich das auf freie Meinungsäußerung. Was aber, wenn man, wie Barry, nichts zu sagen hat, weil man den anderen nach dem Mund reden muss, um eine Lizenzverlängerung für eben dieses Recht zu erhalten?
Die Geschichte geht aus. Barry entwickelt sich und gibt schließlich sogar einer Dichterin vor, was sie zu dichten hat: 15 Vorgaben und das begehrte Gutachten ist sein. Er hat also durchaus Ideen, nur sind sie so ausgefallen/originell, dass sie ihm aufgrund des allgegenwärtigen Konformitätszwangs als spinnert und suspekt erscheinen. Auf subtile Weise erforscht der Autor also wieder mal, wie in seinen Romanen „Angoulême“ und „Camp Concentration“, soziopsychologische Grundaspekte, die politisch relevant sind. Dabei ist seine Erzählung sehr unterhaltsam, sinnlich und ironisch.
4) Stephen R. Donaldson: Die Dame in Weiß
Mardik ist der stolze und kräftige Hufschmied eines Dorfes, das am Rande des Tiefen Forstes liegt. Anders als sein Bruder Festil, einem Träumer, steht Mardik mit beiden Beiden auf der Erde. Obwohl solo, mangelt es ihm nicht an weiblicher Gesellschaft unter Witwen und Jungfrauen. Doch was hat Festil? Festil schwärmt von der Dame in Weiß. Und er hat ihr sein Augenlicht geopfert.
Als Mardik diese Lady mit eigenen Augen sieht, versteht er, was die jungen Burschen, die ihrer Erscheinung in den Tiefen Forst gefolgt und seitdem verschwunden sind, fasziniert haben muss: eine edle Gestalt von unwiderstehlicher weiblicher Attraktivität. Mardik beschließt, dass sie sein werden muss.
Doch seine Brautwerbung verläuft anders als erwartet. Ihr Landhaus ist innen ein riesiger, verwinkelter Palast. Und sobald er einen Fehler macht, steht er flugs wieder vor der Tür – Magie! Festil erklärt ihm, dass es Prüfungen zu bewältigen gilt. Die erste davon: ein Geschenk bringen. Dann: ein Monster überwältigen. Dann die Not einer Frau lösen. Schließlich: durch eine geheimnisvolle Tür gehen. Mardik bewältigt alle Aufgaben mit Bravour, doch mit dem, was er hinter der letzten Tür findet, hat er nicht gerechnet…
Mein Eindruck
Dem Autor des Thomas-Covenant-Zyklus (der eigentlich aus mehreren Trilogien besteht) ist eine spannende, aber auch wegen der Romantik humorvolle Fantasygeschichte gelungen. Ich konnte mir den geradlinig denkenden und handelnden Schmied gut vorstellen, ebenso seinen subtileren Bruder, den blinden Festil. Das Rätsel, das sie lösen müssen, ist die Titelfigur: Was ist sie? Eine Illusion, eine Halluzination, eine Hexe?
Aufgrund des altbekannten Schemas der Liebesprüfungen erinnert die Geschichte stark diverse Ritterabenteuer, nicht zuletzt an „Sir Gawain und der Grüne Ritter“. Diesen Ritter kann man nicht besiegen, denn er steht für etwas anderes: für die Macht der Natur. Doch wofür steht die Dame in Weiß, fragt sich der Leser. Sie ist Frau Venus ebenso wie Fortuna – eine Verlockung, die zum Verhängnis werden kann. Ob Mardik Erfolg bei ihr hat, darf nicht verraten werden.
5) Jean Cox: Der Junge mit der eisernen Maske
Phil Carter ist der beste Freund von Ludwig Ulmann, und beide sind im Jahr 1929 Fans des Schauspielers Douglas Fairbanks. Dieser ist gerade im neuen Film „Der Mann in der eisernen Maske“ zu sehen, einem klassischen Mantel-und-Degen-Film über die drei Musketiere. Doch das wacklige Geländer der Brücke, auf der sie stehen, bricht und Phil stürzt in den Fluss. Er kann nicht schwimmen, und so springt Ludwig ihm nach. Phil wird gerettet, doch Ludwig ist auf einen Felsen gefallen und verblutet in Phils Zuhause.
In einer Nacht nach dem Begräbnis erblickt Phil in seinem Schlafzimmer eine Gestalt, die wie ein Schauspieler kostümiert ist: Sie trägt einen Kopfkäfig aus Stahl, genau wie die Titelfigur aus dem Film, den Phil doch noch angeschaut hat. Lähmende Angst ergreift Phil, so dass er nicht schreien kann – es ist die Gestalt, die kreischt, zusammen mit der Feuersirene des Sägewerks.
Der ängstliche Zustand ihres Sohnes bleibt seiner Mutter Cora und ihrem Mann, Sheriff Carter, nicht verborgen. Außer dem Satz, dass er Ludwigs geist gesehen habe, bekommen sie nichts aus ihm heraus. Es ist Dr. Vredenburg, der medizinisch lizenzierte Freidenker von Rosewood, der auch Phils Geist untersucht: Er diagnostiziert einen schweren Schuldkomplex. Phil gibt sich die Schuld an Ludwigs Tod.
Doch der Geist kehrt wieder und will erlöst werden. Phil erkennt den Ernst der Lage und was getan werden muss. Zusammen mit dem Jungen in der eisernen Maske geht er in die Scheune, um die Maske auf dem Amboss zu entfernen. Doch welches Gesicht wird er darunter vorfinden – das von Ludwig oder sein eigenes?
Mein Eindruck
Die Erzählung versucht eine Gratwanderung zwischen psychologischer Jugendanalyse und klassischer Geistergeschichte. Das Ergebnis ist zwar stellenweise holprig und vielleicht sogar gekürzt (was bei Heyne-SF-Bücher vor 1980 eher die Regel als die Ausnahme war), aber es gibt packende und anrührende Szene, in denen die Figuren zum Leben erwachen.
Ulkigerweise sind es weniger Phil als vielmehr Dr. Vredenburg und Sheriff Carter, die lebhafter erscheinen als die Jungs und die beiden Mütter. So ist der Sheriff auch in der lokalen Larven-Gesellschaft: Diese Typen ziehen Kostüme an und maskieren sich (Larve = Maske). Diese beiden Männer haben auch noch über das Schicksal eines weiteren Jungen zu entscheiden und dazu konträre Meinungen. Die Lösung des Problems des Geistes, bei dem der Sheriff mithilft, trägt dazu bei, auch das zweite Problem zu lösen: Etwas muss den Sheriff verändert haben. Ich werde nicht verraten, was es ist.
Insgesamt ist diese Geistergeschichte auch eine schöne, einfallsreiche Coming-of-age-Erzählung.
6) Harlan Ellison: Jeffty ist fünf
Don Horton wächst mit Jeffty Kinzer auf, seinem besten Freund. Zusammen lauschen sie den aufregenden Hörspielserien um The Lone Ranger, Captain Midnight und viele andere Helden der Kriegszeit. Doch aus kleinen Leuten werden schließlich große – nur Jeffty nicht. Er hat zwar die Körpermaße eines kleinwüchsigen 22-Jährigen, aber sein Geist ist 17 Jahre später immer noch der eines Fünfjährigen. Sein Freund Donny lässt ihn nicht im Stich, aber seine Eltern sind das Inbild stiller Verzweiflung.
Das wäre alles nicht so wahnsinnig interessant, wenn Donny nicht eines Tages das Wunder entdecken würde, das Jeffty darstellt. In seinem Geheimversteck unter der Veranda des Elternhauses sammelt Jeffty immer noch Comics seiner Serienhelden – und sie sind aus neuester Produktion. Ebenso die Hardware wie etwa der „Codeograph“, den die Hörer von „Captain Midnight“ bis anno 1949 gewinnen konnten – und er trägt das Datum des aktuellen Jahres!
Nicht genug damit, gelingt es Jeffty auch, moderne Fortsetzungen der alten Hörspielserien auf seinem Radio zu hören. Donny beginnt zu weinen, als ihn diese Erlebnisse an die alten Tage seliger Unschuld erinnern, dabei ist er längst ein erfolgreicher Geschäftsmann mit Familie. Zusammen schauen sie Fortsetzungen oder Neuverfilmungen alter Kinofilme, und an einem dieser Abende, als sie ins Kino wollen, vergisst Donny die Regel Nummer eins: Jeffty niemals der Gegenwart auszusetzen…
Mein Eindruck
Die wunderschöne und mit den wichtigsten SF-Preisen (Hugo, Nebula) ausgezeichnete Erzählung beschäftigt sich in ganz konkreten Bildern mit dem Thema Nostalgie. Jeffty ist ein Junge, der nicht nur aus der Zeit gefallen ist, sondern die Vergangenheit auch noch weiterspinnt. Sein Freund Donny, der Ich-Erzähler, muss sich damit auseinandersetzen, ob er seiner Nostalgie frönt oder doch lieber dem Fortschritt huldigt.
Die Gegenwart ist die tödliche Feindin der Vergangenheit, und dass er dies noch nicht gelernt hat und lieber der Gegenwart und dem Fortschritt (in Gestalt neuester TV-Geräte) huldigt, bringt seinem Freund Jeffty, der Verkörperung der Vergangenheit, den Tod. In einem unbeobachteten Moment wird Jeffty von Halbstarken zusammengeschlagen und schwer verletzt. Dann begeht Donny einen zweiten Fehler: Er bringt seinen Freund nicht ins Krankenhaus, sondern ins Haus seiner Eltern. Schon bald dröhnt Rockmusik aus Jefftys Radio. Rockmusik?!! …
Die beiden Helden sind keine Alter Egos des Autors. Ellison wurde bereits 1934 geboren, war also fünf Jahre alt, als es „Captain Midnight“, der ab 1940 Heldentaten beging, noch gar nicht gab. Dennoch beschreibt er jene Kinderzeit ganz genau und vergleicht sie mit dem, was als „Fortschritt“ durchgeht, in ganz genau beschriebenen Details. So wird die Lektüre zur Entdeckungsreise.
SF-Autoren wie Stanley Weinbaum und Henry Kuttner, die viel zu früh verstarben, leben hier wieder auf, und selbst Edgar Rice Burroughs schickt seinen John Carter von Barsoom zu den Monden des Jupiter – ein Fest für den Freund von wundersamen Zukunftserzählungen. „Jeffty ist fünf“ ist eine meiner Lieblingsgeschichten in der Phantastik.
Unterm Strich
Mit Recht liefert also „Jeffty ist fünf“ den Titel zu dieser Auswahlband. Der zweite Junge in dieser Auswahl ist einer mit eiserner Maske: die perfekte Metapher für das Verbot des Sprechens. Dieses betrifft übrigens auch den „Mann, der keine Idee hatte“.
In dieser umgekehrten Cinderella-Satire stellt der Autor das Recht auf Meinungsfreiheit bzw. dessen Unterhöhlung durch Regierung und Gesellschaft auf den Prüfstand. Ein Thema, das nach dem Abhörskandal von Watergate-Hotel besonders brisant war – und bis heute, wenn alle Welt von der NSA belauscht wird, weiterhin ist. In „Der moderne Magier“ fegt ein Wissenschaftler alle Moralgrundsätze beiseite, so wie es Richard M. Nixon zu tun pflegte.
Zwei seltsame Damen runden den Reigen ab. Cybele Bournais tritt quasi in der JG-Ballard-Version von „Sunset Boulevard“ auf, was nicht sonderlich originell klingt – und es auch nicht ist, wenn man diese zwei Vorlagen kennt. Weitaus interessanter, witziger und actionreicher ist da schon die Novelle „Die Dame in Weiß“ des Fantasy-Bestsellerautors Stephen R. Donaldson. Seine Variante des alten Grüner-Ritter-Stoffs aus den Artus-Epen wird durch den Schmied tatkräftig und humorvoll geerdet, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Das es auch hier um einen Zauberer geht, verbindet die Erzählung mit der von Altmeister Olaf Stapledon.
Insgesamt ist dieser Auswahlband auf einem recht hohen Niveau angesiedelt und inhaltlich-thematisch eine abgerundete Sache. Dass dafür dem deutschen Herausgeber Manfred Kluge das Verdienst der Auswahl und Anordnung gebührt, dürfte wohl klar sein. Eine klare Empfehlung für SF-Classic-Sammler.
Broschiert
Originaltitel: The Magazine of Fantasy and Science Fiction, 1975-1979
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453306424
www.heyne.de
Der Autor vergibt: