Michael Connelly – Dunkler als die Nacht (Harry Bosch 7)

Ausgerechnet Harry Bosch, Kriminalist mit Leib und Seele, gerät in Verdacht, zur Selbstjustiz zu greifen, um Verbrecher zu strafen, die der Justiz durch die Lappen gingen; er rechtfertigt sich, sondern beginnt ein vor allem für ihn lebensgefährliches Katz-und-Maus-Spiel … – Es ist kein Spoiler, dass Harry Bosch in seinem siebten Fall natürlich nicht zum Rächer degeneriert, sondern tatsächlichen Schurken auf der Spur ist, die das Gesetz missbrauchen. Die Story ist spannend und wendungsreich, und sie führt die Figuren gleich dreier Connelly-Serien in einem Thriller zusammen.

Das geschieht:

Einst ist er mit Leib und Seele Kriminalist gewesen und hat für das FBI Serienmörder gejagt. Doch vor drei Jahren wurde Terry McCaleb ein neues Herz eingepflanzt. Seither ist er zwar lebendig, aber Invalide, hat geheiratet, ist Vater einer Tochter und Stiefvater eines Sohnes geworden und aus der Stadt Los Angeles auf eine Insel an der Santa Monica Bay gezogen, wo er sich einredet, glücklich zu sein. Wie sehr ihm seine Arbeit hat, merkt McCaleb, als das LA Police Department ihn bittet, einen Mord zu analysieren, dessen Opfer nicht nur regelrecht hingerichtet, sondern wie ein Menschenopfer arrangiert wurde. Die Ermittler wissen, dass sie es mit einem der gefürchteten „Heilige-Kacke“-Fälle zu tun haben: Religiöse Fanatiker sind die schlimmsten Gewalttäter, denn sie morden im Auftrag des HERRN, und sie tun es in der Regel so lange, bis man sie endlich schnappt.

McCaleb beginnt zu recherchieren und stellt fest, wem der Mörder offenbar nacheifert: Der Tatort enthält deutliche Hinweise auf das Werk eines mittelalterlichen flämischen Malers, dessen Werk zwanghaft um die Sünde und ihre grausame Bestrafung kreist: Hieronymus Bosch. Dieser Name lässt McCaleb aufhorchen, denn so heißt auch ein Detective im Morddezernat der Polizei von Los Angeles. Hieronymus „Harry“ Bosch ist ihm sogar bekannt, denn er und McCaleb haben vor Jahren zusammengearbeitet.

Alarmierend findet McCaleb, dass es sich bei dem nun Ermordeten um einen Mann handelt, gegen den Bosch einst wegen eines Prostituiertenmordes ermittelte und der dann wegen eines Verfahrensfehlers freikam. Übt Bosch etwa Selbstjustiz nach dem Vorbild seines Namensvetters? Nachdem seine Ehe scheiterte, scheint es mit Harry Bosch ohnehin abwärts zu gehen. Er trinkt und grübelt über die Welt, die sich ihm zunehmend als ewiger Kreislauf von Gewalt und Rache darstellt. Zudem steht er unter Stress, denn er ist Hauptzeuge in einem Sensationsprozess gegen den Hollywood-Regisseur David Storey. Der liebt es Frauen zu misshandeln und wird jetzt eines Mordes verdächtigt, dessen er sich in einem unbeobachteten Moment Bosch gegenüber gebrüstet hat.

Stress ließ Harry Bosch schon immer aufblühen. Mit Terry McCaleb und David Storey beginnt er ein doppeltes Katz-und-Maus-Spiel, dessen Auflösung nicht alle Beteiligten überleben werden …

Treffen bekannter Connelly-Helden

Mit seinem zehnten Roman versucht sich Thriller-Bestseller Michael Connelly an einem Hattrick: „Dunkler als die Nacht“ ist Band 7 seiner erfolgreichen Harry-Bosch-Serie, Band 2 der Terry-McCaleb-Reihe, und dann taucht auch noch der Journalist Jack McEvoy auf, den wir als Helden in „Der Poet“ („The Poet“, 1996) kennengelernt haben. Allmählich entsteht ein regelrechtes Connellyversum aus Schauplätzen und Figuren, die sich nicht nur ständig begegnen, sondern auch solo oder gemeinsam Dinge erleben, auf die sich der Autor immer wieder und zunehmend häufiger in seinen Romanen bezieht.

Normalerweise achten Schriftsteller, die mehrere Serien parallel schreiben, sorgfältig darauf, ihre Helden getrennt zu halten. Sie vermeiden dadurch die Mehrarbeit, die es bedeutet, deren Viten kongruent zu halten, und damit das Risiko, die Aufmerksamkeit jener Leser zu erregen, die dafür leben, einem Autor Versäumnisse und chronologische Fehler unter die Nase zu reiben.

Aber Connelly wagt es – und gewinnt! Terry McCaleb und Harry Bosch funktionieren als Team ebenso wie als Einzelkämpfer. Allerdings hat Connelly auch den nicht wirklich originellen, aber fabelhaft umgesetzten Einfall, den einen lange gegen den anderen ermitteln zu lassen. Dadurch ist gewährleistet, dass beide sich nicht zu nahe bzw. ins Gehege kommen, was Connelly wiederum in die Lage versetzt, die Unterschiede zwischen seinen Figuren herauszuarbeiten und zu betonen.

Warum Harry Bosch geblieben ist

Das ist reizvoll und verkommt nicht zur reinen literarischen Fingerübung, denn „Dunkler als die Nacht“ bleibt ein lupenreiner Thriller; ein Doppel-Thriller sogar eigentlich, denn es gibt nicht nur zwei Helden, sondern auch zwei Kriminalfälle. Dass diese im Finale zueinanderfinden, dürfte keine Überraschung sein; das Wie ist abermals entscheidend, und Connelly enttäuscht seine Leser auch in diesem Punkt nicht!

Da der direkte Vergleich möglich ist, wird aber auch deutlich, dass Harry Bosch noch immer der interessantere Connelly-Charakter ist. Nicht von ungefähr sind es die Schurken, die seit jeher vom Publikum geliebt werden, auch wenn sie das Finale meist nicht überstehen. Ein Punkt ist wohl, dass Terry McCaleb als Figur seine Dynamik eigentlich verloren hat. In „Blood Work“ (1998; dt. „Das zweite Herz“) erlebten wir ihn als Kriminalisten, der gleichzeitig mit dem Verbrechen und mit dem Tod rang. Jetzt ist er vergleichsweise gesund und kämpft hauptsächlich mit ganz Alltags- und Familienproblemen. Das ist schön für ihn, aber weniger faszinierend für die Leser, und sicherlich die Erklärung dafür, dass Harry Bosch noch heute regelmäßig neue Kriminalfälle löst, während Terry McCaleb in „The Narrows“ (2004; dt. „Die Rückkehr des Poeten“) den Tod fand.

Denn Harry Bosch ringt weiterhin bei jedem seiner Auftritte mit neuen Dämonen. Er fordert sein Schicksal ständig heraus, und es enttäuscht ihn nie: Bosch befindet sich im Dauerkrieg mit dem Verbrechen, seine Vorgesetzten (die er auch schon einmal durch eine Glasscheibe schleudert), der Justiz, der Presse; er kämpft mit Nikotin und Alkohol, wird geplagt von Erinnerungen an seine schrecklichen Erlebnisse in Vietnam oder besonders üble Mordfälle und scheitert selbstverständlich regelmäßig in seinem Privatleben. Fast könnte man ihm masochistische Züge unterstellen, aber dafür teilt Bosch gar zu gern und kräftig aus. Das stellt er auch in „Dunkler als die Nacht“ erneut unter Beweis, nur dass er dieses Mal die Grenze zu dem, was er bekämpft, dieses Mal deutlich überschreitet: hochinteressanter Konfliktstoff für das nächste Kapitel dieses Dramas!

Noch tiefer hinab ist immer möglich

Natürlich lag es nahe, den exotischen Namen, den Harrys Mutter ihm gab, zum Gegenstand einer eigenen Geschichte zu machen. (Bosch‘ desaströse Familiengeschichte ist ein eigenes dramatisches Kapitel, das in „The Last Coyote“/dt. „Der letzte Coyote“ 1995 aufgeschlagen wurde. Hier lesen wir übrigens auch von jenem vermasselten Mordfall, dessen glücklich entkommener Täter zum ersten Opfer in „Dunkler als die Nacht“ wird.) Selbst den meisten Kunstbanausen sagt der Name Hieronymus Bosch (um 1450-1516) etwas; spätestens wenn man ein Bild von ihm gesehen hat, weiß man, wieso er so berühmt ist. Es heißt, Bosch (der Maler) sei seiner Zeit voraus gewesen, weil er offenbar Dinge gesehen, erlebt und in Bilder gegossen hat, deren Kenntnis man den Menschen Jahrhunderte vor der ‚Erfindung‘ von Psychologie und Psychoanalyse zugestehen mochte. In dieser Beziehung bewies Bosch‘ Mutter weise Voraussicht; ihr war offensichtlich bewusst, wessen Geistes Kind sie in die Welt setzte.

Auch Michael Connelly schätzt Sinnbilder. Er setzt sie dieses Mal nicht so auffällig (oder aufdringlich) wie in „Angel’s Flight“ (1999; dt. „Schwarze Engel“) ein, profitiert andererseits jedoch davon, dass der Mörder in „Dunkler als die Nacht“ sich über Symbole mitteilt. Aber Vorsicht: Nicht alle Serienkiller frönen ihrem Hang zu möglichst medienwirksamen Untaten – und Michael Connelly ist ein Meister darin, seine Leser auf falsche Fährten zu locken! Auch dieses Mal kommt alles anders als gedacht, was erneut für einen Connelly-Roman sorgt, der auf der ganzen Linie überzeugt.

Muss darüber hinaus betont werden, dass „Dunkler als die Nacht“ zum Vorteil der Geschichte auf ostentative „political correctness“, plumpe Happy-Endings oder pseudoerotische Einschübe verzichtet? Stattdessen gibt es eine ebenso spannende wie deprimierende Lektion in Sachen US-Justiz, die nicht dem Gladiatorenkampf heroischer Grisham-Anwälte huldigt, sondern das Elend einer Rechtsprechung offenlegt, die inzwischen endgültig zum reinen Medienspektakel verkommen ist.

Autor

Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Den Büchern von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf. Nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eine der größten Blätter des Landes, Connelly an.

Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.

Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000) sowie der ungleich erfolgreicheren Serie „Bosch“ (ab 2014). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida.

Taschenbuch: 464 Seiten
Originaltitel: A Darkness More Than Night (Boston : Little, Brown and Company 2001)
Übersetzung: Sepp Leeb
http://www.michaelconnelly.com
https://www.droemer-knaur.de

eBook: 568 KB
ISBN-13: 978-3-426-42584-8
https://www.droemer-knaur.de

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