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Harris, Joanne – Feuervolk

_Ragnarök reloaded_

Die 14-jährige Maddy weiß nicht, dass sie eine mächtige Zauberin ist. In dem kleinen Dorf Malbry in Strond verrichtet sie deshalb niedere Dienste in der „Schänke zu den sieben Schläfern“. Als sie einen der verbotenen Runenzauber wirkt, um die Kobolde aus dem Vorratskeller zu vertreiben, reißt sie ein Loch in den Boden und beschwört die Wesen der Druntenwelt (s. u.) herbei.

Nun sieht ihr bester Freund, der Landstreicher Einauge, die Zeit gekommen, Maddy auf die wichtigste aller Missionen zu schicken. Maddy soll in die Druntenwelt hinabsteigen und den allwissenden „Flüsterer“, das Orakel aus fast vergessenen Zeiten, aus der Feuergrube eines Geysirs befreien. Dieses Orakel soll Einauge, kein anderer als Wotan / Odin himself, gegen den aufkommenden Namenlosen Gott helfen, der die Welt ins Nichts stürzen will. Aufhalten kann ihn nur jemand, der den „Flüsterer“ als Faustpfand im Kampf um die Mittelwelt der Menschen besitzt.

Leider stößt Maddy bei ihrer Mission auf einen hinterlistigen Burschen, der sich ihr als Führer anbietet. Zu spät merkt sie, was dieser Loki im Schilde führt …

_Die Autorin_

Joanne Harris, geboren 1964, wuchs in England auf, wo sie auch heute als Schriftstellerin lebt. Vor dem Bücherschreiben war sie Lehrerin. Ihr Roman „Chocolat“, verfilmt mit Johnny Depp und Juliette Binoche, wurde ein Bestseller. „Feuervolk“ ist ihr erster Jugendroman.

Mehr Info: http://www.cbj-feuervolk.de.

_Hintergrund_

_Die WELTEN_

An Yggdrasil, der Weltenesche, sind – nach der Götterdämmerung – acht Ebenen angesiedelt. Von oben nach unten sind dies:

1) Asgard: Heim der Asen (Götter).
2) Über die Regenbogenbrücke gelangen Asen in die Drobenwelt und
3) in die Mittelwelt, wo die Menschen leben, z. B. in den Binnen- und Fremdlanden, die im Einen Meer liegen.
4) Gleich darunter liegt die Druntenwelt (das Fundament). Kann man sich als Höhlensystem vorstellen.
5) Der Traumfluss führt von hier in das Totenreich Hels und
6) in die Unterwelt (Die schwarze Festung) an den Wurzeln der Weltenesche. Hier herrscht Surt.
7) Darunter liegt die Chaos-Welt des Jenseits.
8) Über der Weltenesche funkeln die Sterne des Firmaments, die für das Gegenteil von Chaos stehen, für Ordnung.

Die Welt der Riesen / Wanen, Jötunheim, ist Vergangenheit, sollte man nun meinen, aber Maddy entdeckt, dass die Wanen die Zeiten seit der Götterdämmerung überdauert haben.

_Das göttliche Personal:_

1) DIE ASEN

Odin: Oberhaupt und Heerführer der Asen, des Sehergeschlechts; Lokis Blutsbruder und von ihm verraten; einäugig, oft begleitet von zwei Raben namens Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung)
Frigg: Odins Gattin, verlor durch Lokis Schuld ihren Sohn Baldur
Baldur: der Schöne, der Lichtbringer
Thor: der Donnerer, Odins Sohn, Feind Lokis
Sif: Thors Frau; durch Lokis Schuld glatzköpfig
Tyr: Kriegsgott, verlor durch Lokis Schuld seinen Arm
Loki: der Listenreiche, ebenfalls ein Gestaltwandler, Blutsbruder Odins

2) DIE WANEN (Die Sieben Schläfer)

Skadi: die Jägerin des Frostgeschlechts, Göttin der Zerstörung, die Ex von Njörd, Lokis Erzfeindin
Bragi: Gott der Dichtkunst und des Gesangs
Idun: Göttin der Jugend und Fruchtbarkeit, von Loki einst entführt und an das Frostgeschlecht ausgeliefert; meist geistesabwesend
Heimdall: goldzahniger Götterwächter, kann Loki nicht ausstehen
Njörd: Meeresgott, Skadis Ex, hasst Loki ebenso wie sie
Freyja: Göttin der Liebe, von Loki einst schwer gekränkt
Freyr: ihr Zwillingsbruder, Gott der Fruchtbarkeit

ANDERE:

Mimir: das Orakel, das abgeschlagene und von Odin wiederbelebte Haupt eines Zauberers
Surt: der Zerstörer, Hüter der Schwarzen Festung in der Unterwelt
Hel: Herrscherin über das Totenreich
Jormungand: die Weltenschlange
Der NAMENLOSE: der neue Gott, der Das Wort bringt

_Die alten und neuen RUNEN_

1) Fé: Reichtum, Wohlstand, Fruchtbarkeit usw., die Rune Freyjas
2) Úr: Kraft, der Auerochs
3) Thuris: Thors Rune, der Dornige
4) Ós: der Ase, die Asen, das Sehergeschlecht
5) Raido: der Wandersmann (= Odin), die Fremdlande
6) Kaen: Lauffeuer, Chaos
7) Hagall: Hagel, der Zerstörer, die Unterwelt
8) Naudr: die Bindende, Not, Elend, Tod, das Totenreich
9) Isa: die Eisige, Skadis Rune, kann als einzige Rune nicht umgekehrt werden
10) Ýr: der Beschützer, die Druntenwelt, das Fundament
11) Týr: der Krieger
12) Madr: das Menschengeschlecht, der Mann, die Mittelwelt
13) Ár: Fülle, Fruchtbarkeit, reiche Ernte
14) Sól: der Sommer, die Sonne
15) Bjarkán: Hellsicht, Offenbarung, Traum; zum Erkennen von Gestaltwandlern nötig
16) Logr: Wasser, das Eine Meer
17) Aesk: die Esche, Yggdrasil (die Weltenesche)
18) Ethel: die Heimat, die Mutter

_Handlung_

Maddy hat wieder mal den Keller ihrer Dienstherrin Mrs Scattergood, der Schankwirtin, unter Wasser gesetzt. Ständig liegt das Mädel im Clinch mit den Kobolden, die sich in der Speisekammer des Hause kostenlos bedienen wollen. Woher diese Kobolde kommen, will sie noch herausfinden, doch zunächst einmal gilt es, sich unauffällig zu verkrümeln, bevor das Unglück bemerkt wird. Kaum hat Maddy die Hälfte des Weges zu ihrem Lieblingshügel zurückgelegt, da hört sie das Gezeter auch schon losgehen. Sie erinnert sich, wie das passiert ist: Sie hat ihre Rune Aesk (s. o.), die wie ein Brandmal in ihre Handfläche eingelassen ist, auf magische Weise benutzt, um die Kobolde zu bekämpfen – und es hat funktioniert!

Auf dem Hügel mit dem Roten Pferd in seiner Flanke hat sich Maddy immer vom Dorf zurückziehen können. Dort betrachten die Leute sie inzwischen als Dorfhexe, insbesondere der Dorfpfarrer Nat Parson, dem sie ständig Widerworte gibt. Diese Leute findet sie zunehmend unausstehlich und sie sehnt ihren alten Freund Einauge herbei. Der einäugige Wanderer kommt leider nur einmal im Jahr, bleibt eine kleine Weile und zieht dann weiter.

Seit sieben Jahren ist er quasi Maddys Mentor und hat ihr viele Sagen erzählen, aus der alten Zeit vor der Götterdämmerung, und über das Feenvolk der Kobolde und vieles mehr. Besonders aber über Runen und deren Macht und Bedeutung. Sie selbst trägt die Eschenrune in ihrer Hand, die für die Weltenesche Yggdrasil steht. Runen sind zu allem Möglichem gut, beispielsweise, um einen Keller unter Wasser zu setzen.

Nachdem sich die Lage im Dorf und in der Schänke wieder beruhigt hat, geht Maddy wieder zurück und schaut in den Keller. Irgendwo müssen die Kobolde ja herkommen. Sie schlüpft durch ein Loch in der Wand und betritt mit einer Lampe einen der vielen Tunnel, die sich offenbar dahinter befinden. Wie sich herausstellt, handelt es sich um ein ganzes Labyrinth. Und es ist keineswegs unbewohnt. Zucker-und-Sack etwa ist ein Kobold, den Maddy ohne weiteres beherrschen kann. Er muss sie führen, um das Labyrinth erkunden zu können. Maddy ist nicht nur vorlaut und selbstbewusst, sie ist auch einfallsreich und sehr mutig.

In den Höhlen und Tunneln stößt sie auf einen Gnom, der zunächst seinen Namen überhaupt nicht sagen will, der aber offensichtlich etwas von ihr will. Erst nach geschicktem Fragen bekommt sie heraus, dass es sich um Loki handelt. Und weil Einauge (= Odin) verraten hat, dass Loki mal sein Blutsbruder war, ihn aber mit für den Untergang der Asen (Götter) verantwortlich gemacht, hat Maddy auch eine ungefähre Vorstellung, dass Loki ein richtiges Schlitzohr ist, bei dem sie gut aufpassen muss. Außerdem kann er sich in eine Feuergestalt verwandeln – ganz nützlich, um Feuer zu machen, aber man möchte dabei doch nicht neben ihm stehen.

Loki ist ungeheuer scharf auf ein ganz bestimmtes Ding, das er den „Flüsterer“ nennt und das sich am Rande eines Geysirs in einer der Klüfte des Labyrinths befinden soll. Es soll eine Art Kugel sein, doch in Wahrheit handelt es sich um einen sprechenden Kopf. „Ich spreche, wie es mir gegeben ist.“ Und dieser Kopf quasselt unablässig auf seinen Träger ein, wenn man ihn in die Hand nimmt, bis einem vor lauter Wörtern schwindelig wird. Wenn Loki aber so scharf darauf ist, muss der Flüsterer ziemlich wertvoll für seine Zwecke sein. Doch was sind diese Ziele?

Maddy nimmt den Flüsterer an sich und berät sich, wieder an die Oberwelt zurückgekehrt, mit ihrem Freund Einauge, der endlich eingetroffen ist. Mit ihm zusammen grübelt sie über den Sinn folgender Worte, die sich fatal wie eine Prophezeiung anhören:

|“Ich sehe ein zur Schlacht bereites Heer.
Ich sehe einen einsamen Heerführer.
Ich sehe einen Verräter an der Pforte.
Ich sehe ein Opfer.

Und in Hels Reich erwachen die Toten.
Und der Namenlose ersteht wieder auf und die Neun Welten sind dem Untergang geweiht,
So nicht die Sieben Schläfer erwachen
Und der Donnerer aus der Unterwelt befreit wird …“|

Die Sieben Schläfer sind offenbar die Wanen in ihrem Grab aus Eis. Und der Namenlose ist der neue Gott, dem Nat Parsons und seine Kirche anhängen. Der Donnerer ist ganz klar Thor, Odins Sohn, der mit Loki noch einige Hühnchen zu rupfen hat, denn Loki machte Sif, Thors Frau, glatzköpfig. Welche Rolle Maddy in diesem Szenario der Prophezeiung spielt, ist noch unklar. Aber da sie über das Orakel des Flüsterers verfügt, wird es sicherlich keine unbedeutende sein – schließlich sind Loki wie auch Odin dahinter her.

Nat Parsons hat Maddys heidnisches Treiben beobachten lassen. Er hat seinen Bischof Torval Bishop benachrichtigt und dieser wiederum die Kirche in der nächsten, wenn auch entfernten Stadt. Ein Examinator ist im Anmarsch, der Maddy und ihren Umtrieben mit Einauge und Loki ein Ende bereiten soll. Allerdings hat der Pfaffe nicht damit gerechnet, dass Einauge über die Gabe der Fernsicht verfügt und alles bereits mitbekommen hat, was Nat in die Wege leitet.

Als auch noch die Wanen erwachen und sofort einen Anschlag auf Odin planen, um sich zu rächen, spannen sie auch Nat Parsons für ihre Zwecke ein. Nat sieht seine große Stunde gekommen, endlich alle alten Göttern den Garaus zu machen, besonders dem einäugigen Riesen. Allerdings hätte er sich nicht träumen lassen, wie sexy Skadi, Idun und Freyja sein können …

_Mein Eindruck_

„Feuervolk“ ist nichts Geringeres als Joanne Harris‘ „Göttliche Komödie“, insbesondere „Inferno“. Obwohl die Parallelen zu Dantes unsterblichem Meisterwerk begrenzt sind, so tragen sie doch in hohem Maße dazu bei, auch Harris‘ Roman zu verstehen. Maddy, die vierzehnjährige Junghexe, ist ja nicht irgendwer, schon gar nicht gewöhnlich – siehe ihr Brandmal. Nein, es darf ruhig verraten werden, dass sie die Tochter Thors ist. Daher also auch ihr Interesse für alles, was mit den alten Sagen von der [Götterdämmerung]http://de.wikipedia.org/wiki/Ragnar%C3%B6k zu tun hat, die nach Einauges Worten vor rund 500 Jahren stattfand.

Maddy ist unsere Führerin in die Unterwelt, und das ist wörtlich zu verstehen, denn die Unterwelt ist nur eine der Neun Welten, die wir in der nordischen Sagenwelt finden (siehe meine Liste oben). Wir könnten nun wie Dante „alle Hoffnung fahren lassen“, doch dann wäre das Buch nicht mehr so lustig. Das ist es aber durchweg, bis zum Schluss. Maddy selbst hat drei Führer: Einauge, Loki und den Flüsterer. Dass sie bei so vielen Ansichten und Anweisungen ins Schleudern kommt, ist Teil des Spaßes, den wir an ihrer Irrfahrt haben dürfen.

|Reise in die Unterwelt|

Teils wird Maddy von diesen Herrschaften gezogen und geführt, teils wird sie auch getrieben, und zwar von den Wanen, die noch ein oder zwei Wörtchen mit ihr zu reden hätten. Maddys Hauptmotiv ist die Enthüllung der Prophezeiung, aber auch das Kennenlernen der Geheimnisse, die in der Unterwelt warten, unter anderem jenes, das ihren Vater Thor umgibt. Wo könnte er sich nur befinden, fragt sie sich. Wie sich herausstellt, erhebt sich am Rande von Hels Totenreich eine Mauer, hinter der das Land des Chaos beginnt, also Surts Reich. Und dorthin muss sie wandeln, um ihren Vater zu finden. Klar, dass ihre „kleine Expedition“ und Wiedersehensfeier einigen Aufruhr verursacht, wie das nun mal Grenzübertretungen so an sich haben. Unter „Aufruhr“ ist so etwas wie die Apokalypse zu verstehen …

|Lehrreich|

Maddy ist nicht nur ein mutiges, vielleicht sogar verzweifeltes Mädchen, sie weiß und erfährt auch jede Menge – und wir mit ihr. Sie und die Autorin nehmen uns an der Hand, um die ganze verworrene Familiengeschichte der Wanen, Asen und sonstigen Angehörigen des Feuervolks vorzustellen. Dabei gemahnen uns diese Streitereien sehr an den Götterhimmel des Olymp, wo es ja mitunter auch sehr menschlich zuging. Faszinierend sind die stetigen Verwandlungen der Götter in andere Wesen sowie ihre Anwendung von Runenmagie. Hier kommen Fantasyfreunde voll auf ihre Kosten.

|Rote Karte|

Doch auch wenn die alten Götter in Hels Totenreich ein kleines, wenn auch turbulentes Stelldichein feiern – Stichwort: [Apokalypse]http://de.wikipedia.org/wiki/Apokalypse – so stehen sie doch kurz davor, die Rote Karte gezeigt und vom Platz gestellt zu werden. Denn sie haben es mit dem Namenlosen Gott zu tun, der zunehmend auf der Mittelwelt der Menschen das Sagen hat und nun zum letzten Schlag gegen die Asen und ihr Gesocks ausholt. Ihm steht eine mächtige Waffe zur Verfügung: nein, nicht irgendwelche antiquierten Runen, sondern etwas viel moderneres – das WORT.

|Papisten?|

In der Mittelwelt hat der Namenlose eine komplette theologische Organisation etabliert, die mit Bischöfen und Magistern das Volk zu lehren weiß. Und wenn das Volk nicht hören will, dann schickt die Kirche die Examinatoren. Man kann sie sich leicht als Mitglieder der Inquisition vorstellen, und sie verfügen ebenso über die Erlaubnis, das WORT herbeizurufen. Einmal ausgesprochen, erfüllt das WORT die Mittelwelt mit seiner Magie und bekehrt die Heiden und Ungläubigen zum Glauben. Es ist also recht mächtige Magie. Man kann sich vorstellen, was es anrichten würde, käme es dazu, dass es in Hels Totenreich und Unterwelt ausgesprochen würde.

Es dauert eine ganze Weile, bis die zerstrittenen Mitglieder der Götterfamilie die wahre Gefahr erkennen. Und noch sehr viel länger, bis sie sich darauf einigen können, was sie dagegen unternehmen können. Doch da zieht der Namenlose ein Ass aus dem Ärmel. Ein Glück, dass auch Maddy, Thors Tochter aufgepasst hat und noch ein Wörtchen mitredet. Die „Erwachsenen“ benehmen sich nämlich kindisch, und dann müssen Kinder wie Maddy eben einspringen und für Ordnung sorgen.

|Häusliches Drama|

Ein Nebenschauplatz ist die Geschichte um Nat Parsons. Sie soll zeigen, wie es wirklich um den Glauben an den Namenlosen bestellt ist. Leider ist der Glaube Nats um einiges größer, als seine Fähigkeiten es sind. Seine Frau Ethelberta findet es gar nicht lustig, dass er ihr schönstes Kleid stibitzt, um es einer nackten Göttin (Skadi) um die Schultern legen zu können, der Sauhund. Womöglich fängt ihr guter Nat jetzt auf seine alten Tage an, fremdzugehen und Ethelberta sitzenzulassen! Da hat Ethelberta aber auch noch mitzureden und pfuscht Nat ins Handwerk. Manche dieser Szenen gemahnten mich an häusliche Ehe- und Eifersuchtsszenen in „Chocolat“.

|Schwächen|

Ich hoffe, die Parallelen zu Dantes Göttlicher Komödie sind deutlich geworden. Ich fand die Geschichte, die die Autorin hier spinnt, ganz amüsant und ihre Wissensvermittlung interessant und unterhaltsam. Woran es noch ein wenig hapert, ist die Spannung. Dies gelingt ihr nur stellenweise. Die Apokalypse, die Maddy in der Schwarzen Festung der Unterwelt auslöst, wo ihr Vater Thor gefangen gehalten wird, ist jedoch für einen Jugendroman ganz schön happig. Sie könnte von manchem Leser für überzogen gehalten werden. Andererseits finden junge Leser auch Tolkiens spannende Konfrontationen an der Brücke von Khazad-dûm sowie am Schicksalsberg sehr eindrucksvoll, ohne sie gleich für bizarr oder überzogen zu halten.

Mir ist es gelungen, den Roman in wenigen Wochen zu lesen. Für eine Lektüre von wenigen Tagen ist er nicht einfach und spannend genug, und zudem muss sich der Leser eine ganze Welt, die uns nicht geläufig ist, erarbeiten. Ich musste häufig nachschlagen, welche Rune nun wie heißt und zu welchem Themenbereich sie gehört. Auf mich wirkte das Runenalphabet manchmal wie ein Kartenspiel, nach dem Motto: „Welche [Rune]http://de.wikipedia.org/wiki/Runen setze ich jetzt am besten als Trumpf ein, um den Stich zu machen?“ Auf einer geistigen Ebene läuft also jede Menge Action ab. Körperliche Action sieht man hauptsächlich im finalen Showdown.

|Die Übersetzung|

Die Übersetzung, für welche die beiden Spitzenkräfte Katharina Orgaß und Gerald Jung zuständig waren, ist ausgezeichnet gelungen. Der Stil ist ironisch-hintersinnig, lebendig und anschaulich, außerdem ist die Sprache so einfach, dass kein Jungleser überfordert sein dürfte.

Einige Nüsse aber doch zu knacken, wie ich schon angedeutet habe. Deshalb erweisen sich die vorgeschalteten „Anhänge“ als sehr hilfreich. Eine Karte zeigt die Neun Welten als Grafik, eine Landkarte zeigt die Lage von Maddys Dorf. Die Form der Insel erinnert an England. Noch wichtiger sind jedoch die Listen der Personen und ihrer Bedeutung sowie die der Runen. Die Runen sind selbstverständlich abgebildet und mit ihren Namen und Bedeutungen erläutert. Was die Runen bewirken, muss man allerdings im Text nachlesen. Da führt kein Weg daran vorbei.

Im Vergleich mit dem Buch, das die Anhänge zum [„Herrn der Ringe“ 1330 ausmachen, und zu der Bibliothek, die man fürs Verständnis der „Göttlichen Komödie“ benötigt, kommt man also mit dem Anhang von „Feuervolk“ noch ziemlich günstig davon.

_Unterm Strich_

„Feuervolk“ macht sich ganz frei von allen Tolkien-Anklängen, wie sie heute in der Fantasy gang und gäbe geworden sind, und entführt den jungen Leser, besonders aber die geneigte Leserin in eine Welt voller Magie, die nur noch Mythenforscher und Mediävisten zu kennen scheinen: die altnordische Sagen- und Götterwelt. Diese wird jedoch in ihrer ganzen Fülle und Lebendigkeit dargestellt. Manche Szenen gemahnen an die griechischen Sagen über die allzu menschlichen Streitereien auf dem Olymp.

Maddy, eine würdige Nachfolgerin Frodos, bewahrt jedoch als eine der wenigen einen kühlen Kopf und weiß, was zu tun ist, assistiert von ihrem Gandalf-Ersatz Odin Einauge. Dass ihr die Dinge schließlich über den Kopf wachsen und zur Apokalypse geraten, dafür kann sie ja nichts. Sie wollte bloß ihren Papi wiederhaben.

Obwohl ich mir diese Welt erarbeiten musste, hat mir die Lektüre doch einigen Spaß bereitet. Die letzten Seiten lesen sich wie von allein. Aber die Autorin stößt hier auch an ihre Grenzen. Die Story, die sie hier spinnt, nimmt eine derartige Größe an, dass sie schon in der Liga der „Götterdämmerung“ spielt (gemeint ist nicht Wagners Oper), und das ist für ein Jugendbuch möglicherweise ein Nummer zu groß. Das muss aber jeder selbst entscheiden. Der Verlag gibt dem Leser mit den Anhängen jedenfalls alle Hilfestellungen, die er braucht, um mit dem Buch klarzukommen.

|Originaltitel: Runemarks, 2006
543 Seiten, gebunden
Empfohlen ab 12 Jahren
Aus dem Englischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung|
http://www.cbj-feuervolk.de
http://www.cbj-verlag.de

Black, Holly / DiTerlizzi, Tony – Die Spiderwick-Geheimnisse – Über Haltung und Pflege von Elfen

Schönes Handbuch für ernsthafte Elfenhalter

Habt ihr auch Elfen im Haus? Keine Sorge, dieser Elfenführer weiß Rat! Man sollte sich von den angeblich niedliche Geschöpfen nicht täuschen lassen – sie sind Blender und Verführer. Vergesst am besten alles, was ihr über Elfen wisst (oder zu wissen glaubt) und lest zu eurem eigenen Schutz diesen Ratgeber. Er verrät den Neulingen unter den Elfenhaltern, wie sie ihren Elf gesund und glücklich erhalten, wie sie ihn hegen, pflegen, füttern, kleiden und unterbringen müssen. (abgewandelte Verlagsinfo)
Black, Holly / DiTerlizzi, Tony – Die Spiderwick-Geheimnisse – Über Haltung und Pflege von Elfen weiterlesen

Holly Black / Tony DiTerlizzi – Die Rache der Kobolde (Die Spiderwick-Geheimnisse 5)

Showdown: In die Höhle des Drachen

In diesem Buch werden die spannenden und kuriosen Abenteuer dreier Geschwister fortgesetzt. Sie kommen aus der Stadt, müssen sich aber mit den Wundern und Gefahren des Landlebens herumschlagen. Und natürlich mit Elfen und Kobolden, nicht zu vergessen!

Diesmal verschlägt es das Trio in die das Hauptquartier der Kobolde, wohin ihre Mutter verschleppt worden ist. Dies ist der abschließende Band der Serie.

Die Autoren
Holly Black / Tony DiTerlizzi – Die Rache der Kobolde (Die Spiderwick-Geheimnisse 5) weiterlesen

Alexander, Lloyd – Drei Leben für Lukas Kasha

_Ausgezeichnetes Jugendabenteuer im Orient_

Lukas ist ein Faulenzer und Tagedieb, da kommt eines Tages ein Gaukler in seine Stadt. Lukas wagt es, den Kopf in den Wassereimer des Gauklers zu stecken, und als er ihn wieder herauszieht, schwimmt er im Meer – von seiner Welt ist keine Spur mehr zu sehen!

In dem orientalischen Land Abadan, in dem er nun gelandet ist, wird er, gemäß einer Prophezeiung, als König begrüßt. Aber bald schon merkt er, dass sein neues Leben auch seine Schattenseiten hat. Gemeinsam mit einem Reimeschmied und dem rätselhaften und aufmüpfigen Mädchen Nur-Jehan muss er fliehen – und eine Welt voller Gefahren und Überraschungen erwartet ihn.

_Der Autor_

Lloyd Alexander, geboren 1924, ist der Autor der sechsbändigen „Chroniken von Prydain“ (= Britannien). Ähnlich wie bei Tolkien, der mit „The Hobbit“ (1937) zunächst eine Fantasy für Kinder schrieb, beginnt auch Alexander mit einer leichtfüßigen Kinder-Fantasy, um dann jedoch schnell auf tiefere, dunklere Themen sprechen zu kommen. Der erste und Teile des zweiten Bandes fanden Eingang in einen gleichnamigen Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1985: „Taran und der Zauberkessel“. Alexander schrieb mit der „Westmark“-Trilogie eine historische Fantasy, die in einem Fantasieland spielt, das viel Ähnlichkeit mit dem frühen 19. Jahrhundert, aber keinerlei Magie vorzuweisen hat.

_Handlung_

Lukas Kasha ist ein junger Tagedieb, der am liebsten ohne Geld in den Tag hineinlebt. Und er ist auch noch stolz darauf, seine Mitbürger in Zara Petra ums liebe Geld zu prellen. Daher macht es dem Bruder Leichtfuß auch nichts aus, bei einem Kunststück eines Gauklers, der gerade in die Stadt gekommen ist, mitzumachen. Der Gaukler nennt sich Battisto und behauptet, er könne jeden mit Hilfe eines Wassereimers in eine andere Welt befördern. Lukas will sich nicht auf den Arm nehmen lassen und da ein Lohn winkt, steckt er seinen Kopf in den Wassereimer.

Doch er findet sich mitten in einem Ozean wieder! Mit kräftigen Schlägen schwimmt er ans Ufer. Dort schaut er zu, wie Soldaten in seltsamer Kleidung ein Mädchen auf einem schönen Pferd gefangen nehmen. Sie wehrt sich, doch Widerstand ist zwecklos. Die Soldaten werden auf den Gestrandeten aufmerksam und verhaften ihn gleich mit. Lukas fällt auf, wie schön das Mädchen ist, doch er wird sie erst Tage und Wochen später wiedersehen.

Hier ist das orientalische Land Abadan, und seine Hauptstadt ist Shirazan. In diese wird Lukas gebracht, aber nicht etwa ins Gefängnis, sondern – oh Wunder! – in den Königspalast. Zufällig trifft es sich nämlich, dass Abadan keinen König mehr hat und der Hofastrologe Locman sagte die Ankunft eines neuen Königs voraus: Lukas nämlich!

Doch was nützt es, gegen die nun folgende gute Behandlung zu protestieren, denkt sich Lukas. Schließlich wird er rundum gehätschelt und gepflegt und alle tanzen nach seiner Pfeife. Doch nach ein paar Ausflügen in die Stadt vermisst Lukas den direkten Kontakt mit seinen Untertanen: Er darf sich ihnen nicht einmal zeigen, sondern muss in seiner Sänfte bleiben. Die Palastwache unter ihrem Kommandanten verwehrt Lukas, kurz mal so in die Stadt zu gehen, um mal etwas anderes als Lakaien oder Minister zu sehen. Lukas sieht jedoch das Sklavenmädchen vom Strand wieder und nähert sich ihr in einem verbotenen Bezirk des Palastes, dem Harem: Sie heißt Nur-Jehan und hat eine sehr spitze Zunge. Sie gefällt Lukas auf Anhieb, denn sie verbeugt sich kein einziges Mal vor ihm.

Der Großwesir Shugdad findet es gar nicht witzig, dass der neue König Kasha sich in Staatsgeschäfte einmischen will, um zum Beispiel das Köpfen und Auspeitschen abzuschaffen. Wenn es nach Shugdad ginge, dürfte sich der Herrscher nur ums Spielen kümmern und ansonsten den Erwachsenen das Regieren überlassen. Als Lukas auch noch einen Reimeschmied, der etwas kritisch aufgefallen ist, begnadigt und zu seinem persönlichen Diener macht, zieht er sich die Missbilligung des gesamten Ministerrates zu. Das sieht nicht gut, Lukas.

Zum Glück erfährt Lukas von einem Geheimgang unter der Palastmauer und entschlüpft mit seinem neuen Diener Kayim in den Basar. Dort tut Lukas, was er schon immer getan hat: Er will die Händler übertölpeln. Leider sind sie genauso schlau wie er und kennen schon alle Tricks. Als er mit Kayim wieder in den Palast zurückkehrt, lässt Großwesir Shugdad ein Attentat auf ihn verüben, doch Kayim vereitelt, dass Lukas stirbt. Dennoch lässt Lukas den Attentäter, seinen Leibwächter, nicht töten. Vielmehr bereitet er seine Flucht vor. Der erstaunte Kayim muss mit einer List das Mädchen aus dem Harem holen, dann fliehen sie zu dritt durch den Geheimgang.

Doch wohin soll sich Lukas wenden, der verbannte König? Das Königreich Abadan befindet sich in einem Krieg gegen Rebellen des eroberten Königreichs Bishangar. Lukas ist dieser Krieg, der nur den Ministern nützt und das Volk verarmen lässt, zuwider. Er will lieber Frieden mit dem König von Bishangar schließen. Zufällig weiß Nur-Jehan ganz genau den Weg dorthin. Eine Reise voller Gefahren und Abenteuer beginnt für die drei Gefährten. Unterdessen rüstet der neue König Shugdad zum Krieg gegen Bishangar …

_Mein Eindruck_

Wow, was für ein toll erzähltes Jugendabenteuer! Ich habe es in nur wenigen Stunden gelesen und fühlte mich dabei stets gut unterhalten. Mal von dem langsamen Beginn abgesehen. Aber die Figur des Lukas ist recht ungewöhnlich in einem orientalischen Umfeld, das nur die Sitten und Gebräuche des tiefsten Mittelalters kennt. Abadan entspricht ungefähr dem alten Bagdad, mit ein paar persischen Assoziationen (Shirazan = Shiraz), und Bishangar ist relativ stark arabisch angehaucht und erinnert etwas an die rebellischen Afghanen.

Alle diese Länder entsprechen den alten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht in jedem Klischee. Aber mit einem deutlichen Unterschied: Die Gesellschaft ist mit großem Scharfblick sehr realistisch geschildert. So ein Großwesir ist keiner, der sich von einem dahergelaufenen König auf der Nase herumtanzen lässt. Schon bald schickt er Lukas einen Attentäter. Leider sind die Bishangaris zu Lukas‘ Leidwesen keinen Deut besser: Sie verstehen sich mehr auf Tapferkeit und und tapferes Sterben als auf weniger nobles Überleben.

Aufs Überleben versteht sich hingegen Lukas ganz ausgezeichnet, und Kayim kann ihm dabei nur beipflichten – mit gedrechselten Reimen, versteht sich. Lukas bringt Nur-Jehan ein paar Lektionen in Geduld und List bei, mit praktischen Beispielen. So übertölpelt er beispielsweise auf eine geradezu geniale Weise einen Pferdehändler, der Nur-Jehan ihren stolzen Schimmel geklaut hat. Also braucht Nur-Jehan den Rosshändler nicht gleich umzubringen und dabei die ganze Stadt auf sie aufmerksam zu machen. Das stolze Mädchen dankt es ihm aber schlecht: Als Lukas und Kayim Proviant kaufen, verduftet sie mit ihrem Pferd. Erst viel später soll er sie unter ungewöhnlichen Umständen wiedersehen.

Der listenreiche Lukas scheint ein Nachfahre von Odysseus zu sein, doch auch er muss ein oder zwei Lektionen lernen. Damit aber kein falsches Pathos aufkommt, streut Kayim stets einen seiner mehr oder weniger gelungenen Verse ein, was dann wieder auf ironische Weise Humor aufkommen lässt. So bleibt der Leser von Belehrungen mit erhobenem Zeigefinger verschont.

Selbst als Lukas den alten Sterndeuter und Hofastrologen Locman wiedertrifft, wird die Lektion, die Lukas erhält, so geschickt verpackt, dass wir mehr schmunzeln als grübeln müssen. Locman hat entdeckt, dass seine astrologischen Berechnungen keinen Pfifferling wert sind: Er hat das Attentat auf Lukas nicht vorhergesehen. Schließlich floh er ebenfalls, verwarf seine Bücher und Tabellen und wurde in einem kleinen Dorf Wahrsager und Berater. Statt Tabellen und Berechnungen schrieb er auf Zettel unsinnige Empfehlungen, verteilte sie wahllos nach Gutdünken an Ratsuchende und staunte, als immer mehr zu ihm kamen. Denn wenn sein Rat fehlschlug, gaben sie nicht ihm die Schuld, sondern sich selbst. Und weil 50 Prozent der Ratschläge ja gute waren, wählten ihn seine Mitbürger schließlich zum Bürgermeister. Mir erscheint dies wie eine kleine Satire auf Fernsehprediger und amerikanische (nur amerikanische?) Politiker.

Natürlich gehen der Krieg und Lukas‘ Abenteuer gut aus, und das Mädchen Nur-Jehan entpuppt sich als etwas viel Besseres als nur ein Sklavenmädchen. Leider wird keine Romanze daraus. Gerade als es so aussieht, als käme sie zu ihm zurück, versetzt ihn ein Missgeschick zurück in den Wassereimer des Gauklers. Interessant ist nun natürlich die Frage: Was hat Lukas aus seinem zweiten Leben gelernt? Wie wird er sein drittes Leben gestalten? Wer die Antwort auf diese Fragen erfahren will, sollte selber lesen. Es lohnt sich.

_Unterm Strich_

Dass Lloyd Alexander ausgezeichnet erzählen kann, wusste ich ja schon von seinem Taran-Zyklus her, den ich hier vollständig besprochen habe. Aber dass er auch über die Aufgabe des Erzählens und des Erzählers nachgedacht hat, zeigt sich unter anderem in Geschichten wie „Lukas Kasha“. Mit Geschichtenerzählen kann man nicht nur seinen Lebensunterhalt verdienen, sondern auch noch seinen Mitmenschen Nachrichten und Weisheiten vermitteln, die zugleich zu unterhalten wissen. Beide Seiten erhalten also einen großen Nutzen davon. Und weil gute Geschichten genau wie gute Witze stets eine größtmögliche Verbreitung suchen, geht einem guten Erzähler, der ja auch ein guter Zuhörer sein muss, der Stoff für sein Metier nie aus.

Mir hat die Geschichte jedenfalls viel Spaß gemacht. Und wer sich wundert, wie man per Wassereimer von A nach B gelangt, der hat noch nicht begriffen, dass eine gute Geschichte wie ein Traum funktioniert: Sie verzaubert das Bewusstsein des Zuhörers / Lesers und entführt ihn in unwahrscheinliche Gegenden, um unwahrscheinliche Dinge zu erleben. Doch erwacht man aus diesem erzählten Traum, kann man sich im Gegensatz zu den meisten Träumen noch gut daran erinnern und auf diese Weise vielleicht etwas daraus lernen. Zum Beispiel eine Botschaft, die unseren Helden den Frieden dem Krieg vorziehen lässt.

Ich würde das Buch Jugendlichen ab 14 Jahren wärmstens empfehlen. Da es auch noch ausgezeichnet übersetzt ist – es bekam anno 1982 den Österreichischen Kinderbuch-Übersetzerpreis – liest es sich auch noch sehr schön und flüssig. Es besteht fast nur aus Dialogen, von denen die meisten recht witzig und geschliffen sind. So etwas findet man bei modernen Autoren nicht mehr oft.

|Originaltitel: The first two lives of Lukas Kasha, 1978
256 Seiten
Aus dem US-Englischen von Wolf Harranth|
http://www.randomhouse.de/cbjugendbuch/

Nuyen, Jenny-Mai – Nocturna – Die Nacht der gestohlenen Schatten

Vampa ist seit neun Jahren vierzehn. Und er hat seine Erinnerungen verloren, selbst die an seinen wirklichen Namen. Das Einzige, woran er sich aus der Zeit vor den letzten neun Jahren erinnert, ist ein gesichtsloser Mann mit Zylinder, der ihm eine Geschichte erzählte. Seine – Vampas – Geschichte, und mit jedem Wort der Erzählung verschwand ein Teil dieser Geschichte aus seinem Gedächtnis und wanderte in das Dritte Buch. Seither ist er auf der Suche nach diesem Dritten Buch. Er will seinen Namen und seine Erinnerungen wiederhaben. Denn ohne sie ist er kein Mensch, kann weder leben noch sterben …

Apolonia dagegen hat ganz andere Probleme. Vor kurzem ist die Buchhandlung ihres Vaters abgebrannt, was diesen den Verstand gekostet hat. Da Apolonias Mutter vor einigen Jahren gestorben ist, bleibt dem Mädchen nun nichts anderes übrig als bei ihrer Tante und ihrem Onkel zu wohnen. Seither löchert sie den mit der Klärung des Falles betrauten Polizeiinspektor nahezu täglich nicht nur mit Fragen nach dem Fortschritt der Ermittlungen, sondern auch mit ihrer Theorie einer Zaubererverschwörung!

Tigwid wiederum ist in die ganze Sache aus purer Neugier hineingeschlittert. Er hat ein paar ungewöhnliche Fähigkeiten, zum Beispiel kann er Dinge bewegen, ohne sie zu berühren, und er kann mit Tieren sprechen. Und er will unbedingt wissen, woher diese Fähigkeiten kommen. Was er nicht weiß: Auch ihm wurden Erinnerungen genommen …

Schon bald stellt sich heraus, dass die hartnäckigen Fragen und Nachforschungen der drei auf denselben Punkt zielen. Einen Punkt, der sie schon bald in große Schwierigkeiten bringt …

Der dominierende Charakter unter den dreien ist Apolonia. Sie ist nicht nur von wohlhabender Herkunft, sie ist auch sehr intelligent. Das hat eine scharfe Zunge und eine gehörige Portion Arroganz zur Folge. Sie ist überzeugt davon, dass ihre Mutter keines natürlichen Todes starb, und dass der Brand im Geschäft ihres Vaters und dessen jetziger Gesundheitszustand damit zusammenhängen. Sie fühlt sich bestohlen, ihrer Familie und ihres Zuhauses beraubt und sinnt auf Rache. Daß sie tatsächlich einen Teil der Wahrheit herausfindet, liegt allerdings mehr an ihrem Mut als an ihrer Intelligenz. Und Letztere kann sie auch nicht davor bewahren, letztlich doch ihren Gegnern auf den Leim zu gehen …

Tigwid ist ein Straßenjunge, der von Diebstählen lebt und von Botengängen für einen der städtischen Unterweltbosse. Ein echter Überlebenskünstler, dem man nur schwer die gute Laune verderben kann. Er besitzt eine gesunde Portion Misstrauen, einen durch seinen Lebenswandel geschulten, sicheren Instinkt und außerdem Köpfchen.

Über Vampa gibt es nicht besonders viel sagen, denn durch den Verlust seiner Erinnerungen ist ihm seine Persönlichkeit abhanden gekommen. Er strahlt vor allem Leere und Kälte aus, was seine Umgebung ziemlich einschüchtert.

Ein interessanter Charakter war Apolonias Tante Nevera, die zunächst wirkt wie eine oberflächliche, egozentrische dumme Gans. Wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt, hat sie es aber in sich. Und die Entwicklung vollzieht sich ganz allmählich und ohne Knacks.

Mit anderen Worten, auch in ihrem dritten Buch ist Jenny-Mai Nuyen die Charakterzeichnung wieder gut gelungen. Zwar sind die Figuren nicht ganz so eindringlich geraten wie in ihren ersten Büchern, das mag aber auch daran liegen, dass Tigwid und vor allem natürlich Vampa ein mehr oder weniger großer Teil ihres Ichs fehlt. Trotzdem waren auch Vampas Leblosigkeit und seine Reaktion auf das Buch mit Tigwids Geschichte sehr gut gemacht.

Auch die Grundidee, auf der das Buch basiert, fand ich sehr ungewöhnlich und faszinierend. Eine Gruppe magisch Begabter, die sich die Dichter nennen, stiehlt den Menschen ihre Erinnerungen, um damit Bücher zu schreiben. Diese Bücher üben einen einzigartigen Zauber auf den Leser aus, und zwar deshalb, weil sie echte Gefühle beinhalten. Die Dichter behaupten, dies sei der einzige Weg, andere an den eigenen Gefühlen teilhaben zu lassen, und ihre Taten brächten Liebe und Glück in die Welt und seien deshalb zum Wohle der Menschheit.

Die Originale der Bücher werden mit dem Blut desjenigen geschrieben, dessen Erinnerungen sie enthalten sollen. Worte, die mit Blut geschrieben wurden, besitzen noch eine weitere Eigenschaft, die den Kopien fehlt: Ihren Worten wohnt die Macht inne, so tief in den Geist des Lesers einzudringen, dass er sie für seine eigenen hält. Auf diese Weise können die Dichter Menschen manipulieren, in den Wahnsinn treiben, sogar töten. Daran ist unschwer zu erkennen, dass die Dichter durchaus noch andere Ziele haben, als nur für ihre genialen literarischen Werke bewundert zu werden und ein Vermögen damit zu verdienen.

Um gegen einen solchen Gegner zu bestehen, müssen natürlich die Hauptfiguren der Geschichte auch mit entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet sein. So stellt sich schon bald heraus, dass auch Apolonia mit Tieren sprechen kann, und zwar wesentlich besser als Tigwid. Außerdem erhalten sie Unterstützung vom Treuen Bund der Kräfte, ebenfalls magisch begabten Leuten, die die Dichter bekämpfen.
Und dann ist da noch die Polizei, die logischerweise von all dem überhaupt nichts glaubt!

So kommt es, dass es nahezu unmittelbar, nachdem Apolonia ihr Elternhaus verlassen hat, um Tigwid zu folgen, ziemlich drunter und drüber geht. Von allen möglichen Seiten werden die drei verfolgt, getrennt, entführt. Das sorgt zunächst einmal für eine Menge Trubel, spannend wird es aber erst, als Apolonia ins Wanken gerät und nicht mehr weiß, welcher Seite sie glauben soll.

Leider empfand ich gerade diesen wilden Trubel als etwas hektisch und chaotisch. Irgendwie verläuft der Erzählfluss in diesem Teil des Buches nicht ganz glatt, auch wenn er so amüsante Nebensächlichkeiten bot wie die Verbrüderung von Tigwids betrunkenem Boss und Dotti, der mindestens genauso betrunkenen Inhaberin der geheimen Gangsterkneipe.

Auch die physikalische Erklärung der magischen Talente der Motten, wie hier die Zauberer genannt wurden, hakelt etwas. Abgesehen von dem unglücklich gewählten Wort Magnetismus glaube ich nicht, dass die elektrischen Gehirnströme von Erinnerungen sich in irgendetwas von denen anderer Gedanken unterscheiden. Strom ist Strom.

Unterm Strich bleibt zu sagen, dass mir dieses Buch von Jenny-Mai Nuyen recht gut gefallen hat, wenn auch nicht ganz so gut wie ihre ersten beiden. Den Handlungsaufbau fand ich zunächst nicht so gelungen, später wurde es besser. Die Charakterzeichnung war nicht ganz so intensiv, aber immer noch sehr glaubwürdig und anschaulich. Und für die kleinen Knackse entschädigt die ausgefallene Thematik der Geschichte. Mit anderen Worten: Auch wenn es nicht ganz an die beiden Vorgänger heranreicht, ist auch dieses wieder ein sehr gutes Buch der jungen Autorin.

Jenny-Mai Nuyen stammt aus München und schrieb ihre erste Geschichte mit fünf Jahren. Mit dreizehn wußte sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. „Nijura“, ihr Debüt, begann sie im Alter von sechzehn Jahren. Inzwischen ist sie neunzehn und studiert Filmwissenschaft an der New York University.

Gebundene Ausgabe 580 Seiten
ISBN-13: 978-3-570-13337-8

www.jenny-mai-nuyen.de/
www.randomhouse.de/cbjugendbuch/index.jsp

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Nuyen, Jenny-Mai – Nijura – Das Erbe der Elfenkrone

Scapa ist ein Dieb. Zugegeben, ein sehr geschickter, findiger Dieb, trotzdem ist das Leben in den engen Gassen der Kesselstadt für einen gerade mal dreizehnjährigen Gassenjungen nicht einfach, schon gar nicht, wenn man von einem übermächtigen Unterweltboß ausgebeutet wird. Trotzdem wäre Scapa womöglich nie auf die Idee gekommen, sich gegen Vio Torren aufzulehnen, wäre da nicht seine Freundin Arane. Die ist unter keinen Umständen bereit, sich irgendjemandem zu beugen! Wenn es nach ihr ginge, wären sie und Scapa die Herrscher über Kesselstadt, und kein Rückschlag kann sie von ihrem festen Ziel abbringen: die Eroberung von Vio Torrens Fuchsbau …

Einige Tagesreisen von Kesselstadt entfernt in den dunklen Wäldern lebt in einem Hykaden-Dorf das Mädchen Nill. Als Halbelfe ist sie eine Außenseiterin und erfährt von den Menschen ringsum hauptsächlich Ablehnung und Spott. Am wohlsten fühlt sie sich draußen im Wald, zwischen Bäumen, Moos und Farn. Dort findet sie eines Tages in einer hohlen Birke einen schwarzen, steinernen Dorn und nimmt ihn mit. Doch mit dem ungewöhnlichen Stück hat es eine besondere Bewandtnis, und schon bald findet Nill sich zu ihrer Überraschung auf einer Queste wieder.

Eine äußerst gefährliche Fahrt, wie sich bald herausstellt. Denn ein Usurpator hat die Krone der Moorelfen an sich gerissen, und er will Krieg …

Scapa, Arane und Nill sind die Hauptcharaktere des Buches.

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als sei Scapa der Anführer. Er ist derjenige, der spricht, sowohl mit den Hehlern, denen sie ihre Beute verkaufen, als auch mit den anderen Straßenkindern, deren Unterstützung für ihren Angriff auf Torren sie suchen. Die treibende Kraft in seinem Leben jedoch ist Arane! Ganz gleich, was er auch tut, er tut es immer für sie. Scapa ist ein Kind der Extreme. Nachdem er sich Arane verschrieben hat, gibt es nichts anderes mehr für ihn, ohne sie ist er wie eine leere Hülle. Ein trauernder Scapa, der seinen Weg ohne Arane weitergeht, ist unvorstellbar. Entweder ein Leben mit ihr, oder gar keines!

Arane dagegen wirkt nicht so, als könnte sie ohne Scapa nicht leben. Was nicht heißen soll, dass sie nicht an ihm hängt. Aber sie hat mehr als nur das eine Ziel, Scapa glücklich zu machen. Arane ist ehrgeizig, ja geradezu machthungrig. Und als sie von Scapa getrennt wird, geht sie ihren Weg ebenso zielstrebig weiter wie zuvor. Ihr Antrieb ist Zorn: Zorn auf alle, die ihr nichts zutrauen! Weil sie arm ist, nur ein Kind und noch dazu ein Mädchen! Sie will es ihnen allen zeigen!

Nill ist im Vergleich zu Arane außerordentlich bescheiden. Alles, was sie sich wünscht, ist Zuneigung. Doch die Liebe ist launisch, und so verliert sie ihr Herz ausgerechnet an Scapa, hinter dessen finsterem Gesicht und abweisender Art sie eine tief verletzte Seele vorfindet …

Die Zeichnung ihrer Charaktere ist Jenny-Mai Nuyen hervorragend gelungen. Das gilt nicht nur für die drei Hauptprotagonisten, sondern für alle ihre Figuren, von den vier Elfenkriegern, die Nill begleiten, bis hin zu den kleinen Nebenrollen wie dem verstoßenen Nachtelf Maferis. Dabei ist es nicht mit Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit getan – keine der Figuren ist ausschließlich gut oder böse -, sondern jeder einzelne von ihnen ist so plastisch beschrieben, dass man ihn fast anfassen kann. Außer bei Juliet Marillier ist mir so etwas noch nicht begegnet.

Dieselbe Intensität findet sich auch bei den Beschreibungen des Dunklen Waldes, der Kesselstadt oder der Marschen. Die Autorin schreibt in einer sehr poetischen Sprache, die mit wenigen Worten Bilder und Stimmungen wachzurufen weiß. Wer sich darauf einlässt, auf den wartet eine Welt, die vielleicht in ihrem Entwurf nicht absolut neu ist, aber ungeheuer lebendig und hautnah!

Die Handlung mag ebenfalls nicht unbedingt neu sein. Eine Gruppe von Gefährten, die sich aufmachen, einen Tyrannen zu stürzen, ist uns schon oft genug begegnet. Doch einige überraschende Wendungen sorgen dafür, dass das Schema „Held folgt seiner Bestimmung in die Höhle des Löwen und ficht dort den Kampf zur Befreiung der Welt aus“ auf dieses Buch nicht anwendbar ist. Abgesehen davon wird die Geschichte größtenteils von den Charakteren getragen, deren eindringliche Schilderung dem Geschehen seine Dramatik verleiht.

Das soll nicht heißen, dass im Grunde außer Gerede nicht viel passiert. Die Gefährten werden verfolgt, nicht nur von Schergen des Usurpators, sondern auch von Lebewesen der Sümpfe, eine Verfolgungsjagd durch die Gassen Kesselstadts findet sich ebenso wie Verrat und Krieg. Die Autorin hält geschickt die Balance zwischen der Entwicklung der Charaktere, dem Fortlauf der Geschichte und den gelegentlich eingestreuten Rückblenden, die Erklärungen für die Ausgangssituation der Erzählung liefern. So kommt bei der Lektüre zu keiner Zeit Langeweile auf.

Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass ich auch bei diesem Buch an ein paar Kleinigkeiten hängen geblieben bin.

Zum Beispiel hat es mich doch sehr überrascht, dass die Elfen und ihr Wildschwein so problemlos dicke Kerkermauern durchbrechen konnten. Außerdem fragte ich mich, wie Fesco es so ganz ohne Proviant zurück bis nach Kesselstadt geschafft hat. Am erstaunlichsten fand ich, dass nicht Ifredes das Weiße Kind war, obwohl er eigentlich alle Voraussetzungen dafür erfüllt hätte … Im Hinblick auf die Gesamtheit des Buches jedoch sind das nur Kleinigkeiten.

Um es kurz zu machen: Jenny-Mai Nuyen hat vielleicht nicht die Fantasy neu erfunden, aber sie hat einen faszinierenden und beeindruckenden Beitrag dazu abgeliefert! Ihre Charakterzeichnung und die Darstellung ihrer Welt beweisen viel Gespür und Einfühlungsvermögen, ihre Geschichte zeigen deutlich Geschick und Einfallsreichtum. Ein neuerlicher Beweis dafür, dass für das Verfassen lesenswerter Bücher nicht unbedingt die Lebenserfahrung eines Erwachsenen nötig ist! „Nijura“ ist ein Roman, den ich guten Gewissens nicht nur Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen empfehlen kann. Er hat mir so ausnehmend gut gefallen, dass ich bestimmt auch ihren nächsten Roman lesen werde.

Jenny-Mai Nuyen stammt aus München und schrieb ihre erste Geschichte mit fünf Jahren. Mit dreizehn wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. „Nijura“ begann sie im Alter von sechzehn Jahren. Inzwischen ist sie achtzehn, studiert Film an der New York University und arbeitet an ihrem nächsten Roman.

Gebundene Ausgabe 512 Seiten
ISBN-13: 978-3-570-13058-2

www.jenny-mai-nuyen.de/
www.randomhouse.de/cbjugendbuch/index.jsp

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)