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Hahn, R. M. (Hg.) / Bailey / Resnick / Aurelian / MacLeod / Goulart / MacEwen / Oltion / Rusch – Roosevelt-Depeschen, Die (MFSF 101)

_Vielfalt der Phantastik: Der Weltraum hat abgedankt_

Dies ist einer der letzten Auswählbände mit Erzählungen aus dem traditionsreichsten und mehrfach mit mit Preisen ausgezeichneten „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Die Auswahlbände erschienen rund vier Jahrzente in der Reihe „Heyne Science Fiction & Fantasy“.

Mit Mike Resnick ist ein echter Veteran unter den ausgewählten Autoren, und Kristine Kathryn Rusch, selbst Herausgeberin, ist inzwischen einer der erfolgreichsten SF- und Fantasy-Autorinnen der USA.

|Die Erzählungen|

_1) Dale Bailey: Moment der Stille_

Ein Vertreter für Teppichböden entdeckt in einer Kleinstadt einen unscheinbaren Laden, der aber ein interessantes Ladenschild hat: „Erasmus Brand, Kaufmann – Händler des Unheimlichen, Exotischen und Wunderbaren – Was ist Ihr Herzenswunsch?“ Bei diesem letzten Wort fühlt sich Upton Spencer sofort angesprochen und tritt ein.

Als er wieder herauskommt, hat er für seine Zufriedenheit eine rubinrote Phiole eingetauscht. In dieser befindet sich, wie er Stunden später im Motelzimmer feststellt, eine bezaubernd duftende Flüssigkeit. Er wagt nur einen einzigen Tropfen davon zu kosten, doch schon wünscht er seinen keifenden Boss Frank Enderby zum Teufel. Denn Upton hat irgendwo seinen Musterkoffer verloren. Aber wo? Als ihm Erasmus Brand wieder einfällt, kehrt er dorthin zurück, wo die Phiole hergekommen ist …

|Mein Eindruck|

Es geht um Zufriedenheit in der giftigen Alltagswelt, mit dem frustrierenden Alltagsjob und mit der ganzen banalen Realität eines Handelsvertreters. Den Kontrast dazu, ja sogar die Erlösung bildet die Phiole und ihr Zauber – der Zauber von einer anderen, poetischeren Welt, einer Welt der Magie: der Herzenswunsch. Und dafür hat Upton seinen Chef zum Teufel gewünscht? Upton überlegt es sich anders, denn er will seine Zufriedenheit zurückhaben. Wie viele von uns haben nicht schon diesen unheiligen Deal gemacht? Die Ziele der Kindheit und Jugend für einen Apfel und das Butterbrot der Zufriedenheit verraten?

Die Ironie bei dieser Geschichte: Der Händler der Herzenswünsche riecht nach Schwefel …

_2) Mike Resnick: Die Roosevelt-Depeschen_

13. Juli 1898: Oberst Theodore Roosevelt, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, ist mit seinem Freiwilligenregiment der „Rough Riders“ noch auf Kuba stationiert, als er auf die Jagd in den nahen Dschungel geht. (Im Spanisch-Amerikanischen Krieg wurde Kuba erobert.) Dort stößt er statt auf harmlose Brachvögel auf ein aggressives Untier, das sich nicht durch einen Schuss aus Roosevelts Gewehr in die Knie zwingen lässt. Nicht einmal Schüsse ins Auge oder in den Mund können es töten, vielmehr muss der kecke Schütze selbst in Deckung gehen, als das Untier eine WAFFE zückt. Wer hätte je von einem Tier mit einer Waffe gehört, wundert sich der Oberst. Ein Feuerstrahl verfehlt ihn nur um Haaresbreite, und er ergreift bei so viel Feuerkraft die Flucht.

Doch im nahen Fluss gelingt ihm die Überlistung des tentakelbewehrten Monsters. Als er es im Lager seziert, stößt er auf eine vollkommen fremdartige Anatomie, die ihn in Alarmzustand versetzt. Er warnt den US-Präsidenten McKinley, erntet aber nun Spott. Unterdessen treffen aus England Meldungen über weitere solche Geschöpfe ein …

|Mein Eindruck|

Die Invasion vom Mars hat stattgefunden, der „Krieg der Welten“ hat begonnen! Und ausgerechnet im tiefsten kubanischen Dschungel muss Roosevelt auf einen der Invasoren stoßen. Es ist wirklich ein Heidenspaß, wenn der SF-Freund eins und eins zusammenzählt und nicht zwei, sondern H. G. Wells erhält! Dessen Roman [„Krieg der Welten“ 1475 erschien bekanntlich im Jahr 1898 und erzählte von Monstern vom Mars, die einen Hitzestrahl einsetzen, der alle Waffen außer Gefecht setzt.

Die Erzählung bildet somit eine Fußnote zum Wells’schen Roman, doch ist sie derart authentisch mit Briefen, tagebucheinträgen und einem Redemanuskript erzählt, dass man sie glatt für echt halten könnte. Ein feiner Spaß, der leider abrupt und viel zu früh endet.

_3) Robin Aurelian: Gummiknochen_

Eine Story mit einem sehr ungewöhnlichen Ich-Erzähler. Er oder sie – das ist nicht sicher – wurde im Kofferraum eines Cadillac de Ville gefunden, und zwar ausgerechnet vom Gangsterboss Shilling. Der nahm ihn auf, um ihn als Leibwächter einzusetzen, doch nachdem sein Findling einmal Mist gebaut hatte, ließ er ihn in ein Säurebottich werfen.

Der Findling hat überlebt. Seine Knochen, ja, eigentlich alles hat sich verflüssigt, und so konnte er aus dem Bottich entkommen. Als er wieder bei Shillings Schergen auftaucht, haben sie Mitleid mit ihm und lassen ihn laufen, nachdem er versprochen hat, nie zurückzukehren. Doch die Spur zurück zu seiner Herkunft führt über Shilling. Als der merkt, dass sein Mann nicht tot ist, rastet er aus. Der Findling muss fliehen, nimmt einen der Schergen mit. Zusammen mit Peterson sucht er seine Herkunft in Las Vegas …

|Mein Eindruck|

Eigentlich könnte dies eine richtige Superheldenstory sein, aber dafür ist sie viel zu feinfühling und stilsicher erzählt. Es scheint sich eher um eine Alien-Story zu handeln, wobei sich der Alien bemüht, so menschlich wie möglich aufzutreten, doch immer wieder macht er in seiner Naivität einen Fehler. Er – oder sie – endet mit Peterson in einem Kaff im Norden der USA. Dort erschafft das Alien aus seinem Leib einen Jungen, um jemanden zum Reden zu haben – genau wie eine Mutter. Eine ungewöhnliche Alien-Story also, aus einem neuen Blickwinkel: dem des „Monsters“.

_4) Ian R. MacLeod: Tirkiluk_

Am 18. Juli 1942 löst der Wissenschaftsoffizier Seymour seinen Kollegen auf der arktischen Wetterstation in der Tuiak-Bucht ab. Seymour, dessen Tagebuch wir lesen, gibt dem Hauptquartier in Godalming bei London seine Meldungen per Morsezeichen durch, damit die Zentrale sicher die Geleitzüge nach Murmansk lotsen kann. Der arktische Hochsommer ist wunderschön, und Seymour bewundert die Nordlichter.

Es gibt auch einen Eskimostamm in der Nähe, und Seymour rümpft bei seinem Besuch die Nase. Die Inuit benutzen Urin nicht nur zum Gerben der Felle, sondern auch zum Waschen ihrer Haare. Eine gefesselte Gestalt fällt ihm auf, und der Stammesälteste nennt sie „Inua“, nach einer alten Legendengestalt. Nach dem Abzug des Stammes bleibt „Inua“ zurück und schleicht um Seymours Hütte, ernährt sich mehr schlecht als recht.

Als Seymour diesen ausgehungerten Eskimo bei sich aufnimmt und aufpäppelt, stellt er zu seiner Überraschung fest, des sich um eine Frau handelt und sie hochschwanger ist. Tirkiluk erzählt ihm die Legende von Inua. Diese wurde für ein Verbrechen von ihrer Familie ins Meer geworfen, worin sie bis auf den Boden sank. Dort lebe sie nun als alte Frau ohne Finger, nur mit einer Lampe, mit der sie Unglückliche anlocke. Sie, Tirkiluk, habe mit ihrem Halbbruder geschlafen, und für diesen Inzest wurde sie verstoßen.

Seymour hat kein Problem mit Eskimomoral, sondern kümmert sich um Tirkiluk und das kommende Baby. Er fängt und sie tötet eine Robbe nach der anderen, und das Baby kommt auf die Welt, ein Junge, den Tirkiluk Naigo nennt. Dann beginnt alles schiefzulaufen. Seymours Hütte gerät in Brand, nachdem er im Suff eine Laterne umgeworfen hat. Die beiden können kaum eine Zeltbahn, ihre Kleider und etwas Proviant retten, und die Heizvorräte sind in die Luft geflogen. Seymours Sinne beginnen sich zu verwirren …

|Mein Eindruck|

Eine wunderbar anschauliche und poetische Erzählung, wie sie nur von einem britischen Erzähler stammen kann. Sie erinnert an Franklins Expedition zur Entdeckung der Nordwestpassage und an den Untergang Robert Falcon Scotts am Südpol, an Ernest Shackleton und viele andere Tragödien, die im Eis ihr Ende fanden. Doch die Geschichte hat zwei positive Schlüsse, sowohl für Seymour als auch für Tirkiluk. Und das macht sie fast zu so etwas wie einer arktischen Weihnachtsgeschichte.

_5) Ron Goulart: Warum ich nie fest mit Heather Moon ging_

Im Leben des Studenten Will Harkins herrscht das Chaos. Drei Dämonen hat ihm der eifersüchtige Englischprofessor Matt Krouch auf den Hals gehetzt. Will ist ein Loser: Er gibt klein bei und tritt seine Freundin Sue Smith an Krouch ab. Kein Wunder, wenn so unfaire Mittel wie schwarze Magie eingesetzt werden.

Doch Wills Freund Nat will vom Trübsalblasen nichts hören. Er richtet Will wieder auf und empfiehlt ihm, als neue Verabredung eine Kommilitonin namens Heather Moon kennenzulernen. Leider eilt Heather der Ruf voraus, verschroben zu sein. Als Will sie in ihrem Elternhaus zur Party abholt – dies sind die anständigen fünfziger Jahre – , erlebt er ein paar überraschende Begegnungen mit Mitgliedern von Heathers Familie. Ihr Bruder ist unsichtbar, ihr Onkel schwebt in der Luft, und aus ihm spricht die Stimme eines Geistes, der sich als Orakel betätigt: Es liege noch weiteres Ungemach vonseiten Krouchs in der Luft.

Auch Heather hat ein paar „zauberhafte“ Eigenschaften von ihrer Sippe geerbt: Sie beherrscht Telekinese und Teleportation aus dem Effeff. Das erweist sich als sehr hilfreich, als Professor Krouch ein weiteres Mal zuschlägt und Will per Magie entführt. Sue Smith liebt Will immer noch, und um dieses Hindernis zu beseitigen, muss Will sterben. Das Pentagramm für den Abholer aus der Hölle ist bereits gezeichnet …

|Mein Eindruck|

Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, dies sei eines von Thorne Smiths zauberhaften Geschichten, die er weiland von 1928 bis 1941 schrieb, z. B. „Meine Frau, die Hexe“ (deutsch bei S. Fischer). Alles ist wunderschön altmodisch – und Magie so selbstverständlich wie das Kuchenbacken. Leider ist das alles aber auch schrecklich klischeehaft und da es sich keineswegs um eine Parodie handelt, ist die Aussage auch etwas belanglos. Es ist lediglich gute Unterhaltung, und obendrein nicht einmal besonders einfallsreich – ganz im Gegensatz zu dem fabelhabten Mr. Thorne Smith.

_6) Pat MacEwen: Die Gabe der Macklins_

Die Gabe der männlichen Mitglieder der Sippe der Macklins besteht in „mind-control“, das heißt in der Überwindung des Willens einer Frau und des Weckens ihres Begehrens. John Macklin, der Chef der Familie, hat mit seiner Frau drei Kinder gezeugt, aber auch mit ihrer Mutter. Williams Großmutter ist im achten Monat von ihm schwanger. Die Dinge stehen nicht zum besten bei den Macklins: John unterdrückt alle mit seiner herrschsüchtigen, gewalttätigen Art. Nicht nur sein Sohn William, der Ich-Erzähler, hat Angst vor ihm. Alle Frauen in der Stadt haben Angst vor ihm.

Als Wills Vater wieder einmal eine Nachbarin „betört“, wird es Will zu viel: Soll es dem Fünfzehnjährigen bald ebenso ergehen und er eine Frau nach der anderen in eine willenlose Puppe verwandeln? Das erscheint ihm ungerecht – sowohl gegen die Frauen wie auch gegen sich selbst, der das nicht will. Als er vor den düster-stolzen Vorhersagen von Wills Schicksal davonläuft, passiert genau dies: die Betörung zweier junger Mädchen. Wann wird das nur aufhören?

Doch die Großmutter warnt Will eindringlich vor der nächsten Nacht, wenn John, der Alteisenhändler, zum Schwarzbrenner Joe Sullivan fahren will. Sullivan wohnt auf einer Insel im Black Lake. Will sträubt sich vergeblich gegen seinen Vater und muss mit, so dass er im Mondschein durch dichten Nebel über den See rudert. Da hört er ein Geräusch … Sie finden eine nackte Frau, die sich in einem alten Fischernetz verfangen hat. Sie hat sehr weiße Haut und silbernes Haar, das im Mondlicht schimmert. Um den Hals trägt sie ein weißes Amulett, und als sich Johns begieriges Messer ihrer Haut nähert, zuckt sie vor dem kalten Eisen zurück.

Will ahnt, womit er es zu tun: mit einer der Wassernixen, die in magischen Nächten wie dieser zu sehen sind. Und vielleicht ist ihnen die Gabe der Macklins zu verdanken. Daher empfindet Will die „Betörung“, die John unwillkürlich ausübt, als Unrecht gegen die Vorfahren. Und so kommt es, dass John Macklin nicht nur in der weißen Lady aus dem See seinen Meister findet, sondern auch in seinem Sohn …

|Mein Eindruck|

Es gibt ein berühmtes Gedicht des irischen Poeten William Butler Yeats, das Donovan vertont hat: „The Song of Wandering Aengus“. Aengus ging in den Haselbuschwald, um Forellen zu angeln. Er fing in der Tat eine Forelle, doch sie verwandelte sich in ein „Glimmering-Girl“, das ihn bei seinem Namen rief und davonlief. Er lief ihm nach und wenn er nicht gestorben ist, so läuft er noch heute seinem Zaubermädchen hinterher, auf der Jagd nach den „silbernen Äpfeln des Mondes und den goldenen Äpfeln der Sonne“.

Irische Sagen und Legenden sind voll von solchen magischen Begegnungen mit dem kleinen Volk, das in allen Dingen wohnt. Und als die Iren Mitte des 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, nahmen sie ihre Legenden mit. Die vorliegende Geschichte spielte zur Zeit der Großen Depression, also zwischen 1929 und 1939, entsprechend rückständig ist das arme Landvolk. Doch John Macklin ist ein besonders konservativer Typ, mehr tyrannischer Unhold als sorgender Vater. Die Macht, die ihm von den Genen verliehen wurde, findet zurück zu ihren Wurzeln – und eine ebenso starke Macht, die der weißen Frau aus dem See innewohnt.

Die psycholgischen Querelen, in denen sich Will verstrickt, sind überzeugend dargestellt. Doch dass sein Vater bezwungen ist, verhindert nicht das Wirken der „Betörung“ in Will selbst. Nach einem schrecklichen Zwischenfall mit seiner neunjährigen Schwester setzt sich Will mit einem Messer ans Ufer des Sees und erfleht Erlösung von der Nixe. Und wenn er sich nicht getötet hat, so sitzt er dort noch heute und pflückt die „silbernen Äpfel des Mondes“.

_7) Jerry Oltion & Kristine Kathryn Rusch: Deus X_

Marcus Chambers ist der erfolgreiche Bürgermeister einer Großstadt und befindet sich in den neunziger Jahren im Wahlkampf, als er mehrere Peinlichkeiten zu überstehen hat. Seine Schwester Lita, die seit längerem mit Unsichtbaren spricht, lässt er in eine psychiatrische Anstalt einweisen, damit sie ihn nicht mehr kompromittieren kann.

Doch kaum glaubt er, das Blatt zu seinen Gunsten gewendet zu haben, ereignet sich auf einer Pressekonferenz ein Zwischenfall: Ein seltsam gekleideter Mann spricht ihn auf Litas Einweisung an, und Marcus antwortet ihm mit diplomatischem Geschick. Doch Marcus‘ Wahlkampfleiter Phil, ein treuer Wegbegleiter, fragt Marcus nach der Konferenz, was das sollte? Wieso hat Marcus mit der Luft gesprochen? Phil hat den Mann nicht gesehen, und für ihn sieht es so aus, als habe Marcus die „Geisteskrankheit“ seiner Schwester geerbt.

Der seltsam gekleidete Mann taucht in Marcus‘ eigenem Heim auf. Nachdem er sich weigert wegzugehen, muss ihm Marcus zuhören. Kaldakeddy, wie er sich nennt, ist ein Wanderer zwischen den Welten, und seine Welt ist von den kriegerischen Zetain erobert worden. Lita habe den Unterworfenen zwar Tipps in zivilem Widerstand gegeben und eine Rebellengruppe gegründet, doch nur eines könne dem Widerstand Dauerhaftigkeit verleihen: die Geburt eines Heilands. Marcus ist die Parallele zu den von den Römern unterdrückten Juden nicht entgangen. Solch ein Heiland würde in der Tat aus einer unbefleckten Empfängnis stammen, denn der Vater befände sich ja nicht in der anderen Welt, sondern in der von Marcus.

Lita erklärt es ihm klipp und klar: Marcus braucht nicht in die Anderwelt zu wechseln, er braucht bloß eine der Frauen der Widerstandsbewegung zu schwängern. Dann endlich würde er seinem Ehrennamen „Geheiligter Geist“ alias „Sidanta“ gerecht werden. Marcus hegt einige Zweifel trotz der angenehmen Aussicht auf eine erotische Nacht. Doch als Naralena von Kaldakeddy herbeigeführt wird und sie Marcus einen Kuss gibt, merkt er, dass alles halb so schlimm ist. Der Sex ist mit einer Unsichtbaren ist wahrlich nicht schlimm, ganz im Gegenteil.

Natürlich fangen Marcus‘ Schwierigkeiten damit erst so richtig an …

|Mein Eindruck|

Auf 78 Seiten breiten die beiden Autoren zunächst eine realistische politische Landschaft aus, nur um sie dann systematisch zu unterminieren, als die Andersweltler eindringen. Dann wird aus der Erzählung ein Szenario, das sehr stark an Philip K. Dick erinnert, etwa in der VALIS-Trilogie. Nach einem erotischen Intermezzo und einer Expedition, in der er „das Hochheilige Paar“ – Kaldakeddy und die schwangere Naralena – in Sicherheit fährt, begibt sich die Story noch weiter ins vertraute Dick’sche Fahrwasser, als Marcus schließlich in der Klapse landet.

Eigentlich hätte ich erwartet, dass sich die Zetain, die Eroberer der Anderwelt, in unserer Realität zu erkennen geben, doch ihr einziger Agent scheint Phil zu sein. Das wird aber nie zugegeben. Und so bleibt dieser letzte tragisch-ironische Schlenker zu unserer Frustration aus.

Na ja, die Stoßrichtung der Aussage der Story ist eine andere: Sie erklärt die Erscheinung und den Tod Jesu als Intervention aus einer anderen Welt. Nur dass diesmal die andere Welt in unserer besteht. Der „Wanderer zwischen den Welten“ ist offenkundig ein Engel. Naralena, die Mutter des Heilands, entspricht Maria (ist aber wesentlich älter als die historische Maria, nämlich etwa 25). Der Clou ist allerdings, dass ein amerikanischer Bürgermeister Gott sein kann. Und der biblische Gott hat bekanntlich mehrmals korrigierend und hilfreich in die Jesus-Geschichte eingegriffen – Stichwort „Wunder“.

Die Botschaft ist klar, aber nur wenig ironisch gebrochen: Die amerikanischen Ideale, denen Marcus gehorcht, stünden einem Gott gut zu Gesicht, wenn er sie denn zur Befreiung von Unterdrückten einsetzen könnte. Doch leider gibt es eine Menge Kräfte wie Phil, die aus kleingeistigem politischem Kalkül solch idealistisches Verhalten verhindern. Diese Aussage könnte man als auf die amerikanische Außenpolitik angewandt interpretieren, wie sie sich im Jahr 1997 präsentierte, also unter Bill Clinton.

_Die Übersetzung_

… durch Horst Pukallus verdient eine Erwähnung. Der Übersetzer von John Brunner und Stephen Donaldson ist ein stilsicherer Meister deutscher Grammatik (Konjunktiv!) und der Umgangssprache. Vielfach klingen die Figuren durch ihre Zusammenziehung von Wörtern („wär’s möglich“ und dergleichen) natürlicher als sonst.

Michael K. Iwoleit übertrug die ersten beiden Erzählungen sowie „Tirkiluk“. Ich fand seine Arbeit sehr gelungen, denn sein genauer Stil trägt stark zum richtigen Ausdruck bei. Manfred Weinland übersetzte die restlichen Storys, und das sind die So-lala-Storys. Ihm unterläuft auf Seite 125 unten ein übler Stilfehler. Statt „bezweckte“ müsste es „bewirkte“ heißen, was doch etwas anderes ist.

_Unterm Strich_

Die Auswahl von Herausgeber Ronald M. Hahn ist breit gestreut und vielfältig in Thematik, Stil und Tempo. In der Ausführung und der Aussage haben mir am weitaus besten die Erzählungen von Mike Resnick und Ian McLeod gefallen. „Die Roosevelt-Depeschen“ bildet eine witzige Fußnote zu H. G. Wells‘ klassischem Invasionsroman „Krieg der Welten“.

„Tirkiluk“ hingegen ist eine zunächst sehr realistische Schilderung des Lebens in der (schwindenden) Arktis, die parallel zur geistigen Verwirrung des Chronisten geradezu traumhafte oder psychedelische Zuge annimmt. Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass die Geschichte unglücklich ausginge. Ich war an den armen Robert F. Scott erinnert, der sich 1912 aufmachte, den Südpol zu erobern. In England ist er immer noch ein Held, denn er erfüllt das Ideal des „ehrenvollen Todes“.

Die anderen Erzählungen sind so lala, vielleicht mit Ausnahme von „Die Gabe der Macklins“, eine poetische Verarbeitung des Schuldkomplexes eines Super-Mannes. Die Storys sind raffiniert angeordnet: Sie werden zunehmend länger, und die letzte ist quasi ein Kurzroman – dessen Länge von 78 Seiten man erst realisiert, wenn man sich die letzte Seitenzahl ansieht.

Es fällt auf, dass keine einzige Geschichte irgendwo auf anderen Welten spielt, sondern alle auf der Erde. Der Weltraum hat abgedankt. Magie, Anderwelt, Super-Mann – phantastische Elemente qualifizieren die Storys für die Publikation in „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Wer Raumschiffe und Telepathen sucht, wird eher in „Asimov’s SF Magazin“ fündig. Aber dessen Auswahlbände erscheinen hierzulande ja auch schon längst nicht mehr.

Hahn, Ronald M. (Hg.) / Cassut, M. / Wheeler, D. / Reed, K. / Lethem/Kessel/Kelly / Bova, B. / Ducha – Tod im Land der Blumen, Der (The Magazine of Fantasy and Science Fiction, Band 98)

SF-Storys: Kulturen treffen aufeinander

Diese Auswahl aus dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ fällt im Niveau der Beiträge merklich gegenüber dem „Asimov Science Fiction Magazine“ ab. Es gibt keine witzige Story, und einziger gemeinsamer Nenner scheint das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen zu sein. Das allerdings ist eines der uralten Themen der Science-Fiction. Die beste Story ist meiner Ansicht nach Ben Bovas schon oft anthologisierte Story „Der Caféhaus-Putsch“. Sie hat Pfiff und eine überraschende Pointe.

Die Storys

1) Bei Michael Cassuts Story |“Auf großer Fahrt“| ist bereits der Titel der blanke Hohn. Das große Generationenraumschiff, das zum Alpha Centauri fliegen soll, hängt seit Jahren in der Kreisbahn über der Erde fest. Schon haben sich an Bord Menschen entwickelt, die unter Erdbedingungen kaum noch leben könnten. Unterklasse und Management sind streng getrennt, denn die Verwalter sind alle mit dem Gehirn in das weltumspannende Netz (Internet?) eingeklinkt, die anderen nicht. Es geht um zwei Brüder, die aufeinandertreffen, sozusagen Jakob und Esau. Der eine ist Verwalter, der andere lebt unvernetzt in der Arbeiterklasse. Letzerer lässt eines Tages einen Virus auf die Verwalteranlagen los, bringt das Netz zum Absturz. Sein Kontrahent zieht sich zurück und überlässt ihm den Posten. Am Schluss steht „Alpha Cen“ nicht mehr für Tod, sondern für Leben. Die Fahrt kann losgehen.

Die Story ist schlecht und unübersichtlich erzählt, vieles muss man sich zusammenreimen. Insgesamt ein schlechter Einstieg in das Buch. Das Thema Vernetzung taucht später nochmal auf.

2)

Da erledigt Deborah Wheeler mit |“Der Tod im Land der Blumen“| einen wesentlich besseren Job. Wie in der nachfolgenden Story treffen zwei Kulturen aufeinander: hier die mittellosen, kranken, stets vom Tode bedrohten Einwohner einer kolumbianischen Küstenstadt und dort die reichen, gesunden Anglo-Urlauber, die auf einer vorgelagerten Insel, dem Land der Blumen, ihre Freizeit verbringen. Eines Tages wird es Javier gestattet, dort im Hotel zu putzen.

Sofort beginnt er eine superscharfe Affäre mit einer weißen Anglo. Die stellt sich als krank in der Seele heraus, während man bei ihm eine Blutkrankheit diagnostiziert. Nach dem Austausch ihrer Lebenssysmbole (ihr Dolch, mit dem sie sich die Pulsadern aufschneidet; seine Pistolenkugel, die ihn fast erledigt hätte) haut die Anglo ab und lässt ihn sitzen. Javier kehrt gebrochen, aber reicher heim.

Stimmungsvoll, packend, realistisch und höchst erotisch.

3)

In seiner Story |“Rajmahal“| stellt Kit Reed die Erlebnisse dreier Personen in Indien einander gegenüber. Der Rajmahal ist ein altes Grabmal, in dem eine Gruppe ahnungsloser Amis aus Minnesota Abenteuerurlaub macht. Das Dorf, das sie ab und zu besuchen, ist bettelarm und fühlt sich miss- bzw. verachtet. Als eine der US-Frauen eine Affäre mit dem Dorfschullehrer anfängt, um ihren Mann zu ärgern, bricht Gewalt aus, in deren Verlauf nicht nur diese Frau umkommt, sondern auch das Monument geschlossen wird.

Reed macht klar, welchen Störfaktor reiche Touristen in einem bettelarmen Land darstellen und dass es nur eines kleinen Funkens bedarf, um dieses Pulverfass explodieren zu lassen. Ironisch wird das subjektive Bild, das sich jeder der Beteiligten vom Gegenüber macht, gespiegelt – ein Kaleidoskop der Missverständnisse.

4)

Gleich drei Autoren – Lethem/Kessel/Kelly – haben sich daran gesetzt, ums uns zu erzählen: |“So endet die Welt wirklich“|. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist gespalten in die Mehrzahl der Menschen mit einer geistigen Verstärkung, die an Telepathie grenzt, und eine kleine Minderheit von Verweigerern dieser so genannten CK-Verstärkung, die sich in kleine autarke Kolonien zurückgezogen haben. In der doppelbödigen Handlung werden zwei der wichtigsten Verweigerer umgedreht, um angeblich zu ihrem eigenen Wohl Erlösung zu erlangen – ihre eigene Welt endet.

Die Ironie dabei: Die Frau, die sie bekehrt, behauptet, lediglich die Eingebungen der Jungfrau Maria weiterzuleiten! Sie ist auch deshalb so glaubwürdig, weil sie selbst einst bis zu einem Unfall CK-verstärkt war. Als Renegatin ist sie doppelt so glaubwürdig, aber insgeheim arbeitet sie – quasi als Märtyrerin – für die Sache der CK-Verstärkung.

Eine komplexe Erzählung also, in der die subjektive Annahme über die Realität sowohl der Figuren wie auch des Lesers unterlaufen wird – vielleicht ein wenig zu clever für manchen Leser, der Action bevorzugt. Die gibt’s hier nicht.

5)

Ben Bova ist mit seiner bekannten Story |“Der Caféhaus-Putsch“| vertreten, die ich schon einmal in einer anderen |Heyne|-Anthologie gelesen habe. Ein Zeitreisender sitzt in einem Pariser Café in einem Jahr nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Verlauf er selbst verändert hat, so dass die USA nicht in den Krieg eintraten. Sein Ziel war es, Hitler zu verhindern. Denn dessen geistige Nachkommen bedrohen die Zivilisation der Zukunft, aus der der Zeitreisende kommt. Ironischerweise verhindert er zwar Hitler und dessen Antisemitismus, zeitigt aber in Frankreich eine anti-arische Bewegung, die ebenso fanatisch ist.

Wie man also auch immer in die Geschichte eingreift – es ist stets verkehrt, wie es scheint.

6)

L. Timmel Duchamp hat sich in der 75-Seiten-Novelle eines ungewöhnlichen Themas angenommen: In „De secretis mulierum“ geht es um zwei Fälle von Frauen, die sich Zeit ihres Lebens als Männer ausgaben: Leonardo da Vinci und der heilige Thomas von Aquin. Jane, eine Historikerin, darf eine neu entwickelte Methode benutzen, mit deren Hilfe man Menschen der Vergangenheit aufgrund ihrer DNS quasi virtuell wiederbeleben kann. Was sie beobachtet, erschüttert besonders in Thomas‘ Fall die Lehren der katholischen Kirche. Was Jane aber umso mehr ärgert, ist der Unglauben und Zweifel ihres Doktorvaters und Lovers Teddy, der seine Glaubenssätze als männlicher Vertreter der Spezies in Frage gestellt sieht, dies aber nie zugeben würde. Jane hintergeht Teddy und führt die Versuche weiter. Am Schluss kann sie ihre Dissertation zwar vergessen, hat sich aber emanzipiert.

Der/die AutorIn hält es offenbar für wichtiger, wenn eine Frau ihre geschlechtliche Identität nicht verrät, dafür aber die Beziehung zu einem Menschen, der sie zu der Unterdrückung dieser Identität und anderer unangenehmer Wahrheiten zwingen will.

Faszinierender als dieses Thema, dessen Querelen wenig unterhaltsam dargestellt sind, ist die Entdeckung, dass es zu allen Zeiten – nun ja, die US-Regierung lässt Forschungen nur bis zum Jahr 1750 zu – Frauen gab, die sich als Mann verkleideten. Im Mittelalter war dies verboten und wurde mit dem Tode bestraft.

Es bleibt jedem Leser selbst überlassen, die offensichtlichen Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der Erzählung zu ziehen.

Eine engagierte Story, leider wenig routiniert umgesetzt, aber einen Blick auf jeden Fall wert.

Unterm Strich

Ich würde diesen Auswahlband aus dem MFSF nicht noch einmal lesen. Kein Wunder, dass diese Reihe schon bald danach – mit Band 101- eingestellt wurde. Storys liefern und verarbeiten zwar Ideen, aber die Zubereitung derselben sollte den Geschmack des Lesers treffen. Dieser Geschmack hat sich seit Ende der neunziger Jahre offenbar erheblich gewandelt.

Taschenbuch: xxx Seiten
Diverse Übersetzer.
ISBN-13: 9783453140097

www.heyne.de

Manfred Kluge (Hg.) – Die Cinderella-Maschine (MFSF Folge 50)

Die Könige des Mars: klasse SF-Storys

Dieser 50. Auswahlband aus dem bekannten amerikanischen SF- und Fantasymagazin bietet folgende Storys:

1) Die Titelstory von der alternden Diva, deren elektronischer Jungbrunnen recht makabere Effekte erzielt.

2) Die Story von dem engelsgleichen buckligen Jungen, den alle mochten, weil ihn die Natur so ungerecht behandelt hatte.

3) Die Story von dem wunderbaren Apparat, der dem Menschen endlich den ewigen Frieden bescherte – um den Preis seiner Privatsphäre.

4) Die Story von der Marsexpedition, deren Teilnehmer eine ganze Weile brauchen, bevor sie erkennen, dass man ihr Kommen längst erwartet hat.

Das Magazin

Das |Magazine of Fantasy and Science Fiction| besteht seit Herbst 1949, also rund 58 Jahre. Zu seinen Herausgebern gehörten so bekannte Autoren wie Anthony Boucher (1949-58) oder Kristin Kathryn Rusch (ab Juli 1991). Es wurde mehrfach mit den wichtigsten Genrepreisen wie dem |HUGO| ausgezeichnet. Im Gegensatz zu „Asimov’s Science Fiction“ und „Analog“ legt es in den ausgewählten Kurzgeschichten Wert auf Stil und Idee gleichermaßen, bringt keine Illustrationen und hat auch Mainstream-Autoren wie C. S. Lewis, Kingsley Amis und Gerald Heard angezogen. Statt auf Raumschiffe und Roboter wie die anderen zu setzen, kommen in der Regel nur „normale“ Menschen auf der Erde vor, häufig in humorvoller Darstellung. Das sind aber nur sehr allgemeine Standards, die häufig durchbrochen wurden.

Hier wurden verdichtete Versionen von später berühmten Romanen erstmals veröffentlicht: „Walter M. Millers „Ein Lobgesang auf Leibowitz“ (1955-57), [„Starship Troopers“ 495 von Heinlein (1959), „Der große Süden“ (1952) von Ward Moore und „Rogue Moon / Unternehmen Luna“ von Algus Budrys (1960). Zahlreiche lose verbundene Serien wie etwa Poul Andersons „Zeitpatrouille“ erschienen hier, und die Zahl der hier veröffentlichten, später hoch dekorierten Stories ist Legion. Auch Andreas Eschbachs Debütstory „Die Haarteppichknüpfer“ wurde hier abgedruckt (im Januar 2000), unter dem Titel „The Carpetmaker’s Son“.

Zwischen November 1958 und Februar 1992 erschienen 399 Ausgaben, in denen jeweils Isaac Asimov einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er wurde von Gregory Benford abglöst. Zwischen 1975 und 1992 war der führende Buchrezensent Algis Budrys, doch auch andere bekannte Namen wie Alfred Bester oder Damon Knight trugen ihren Kritiken bei. Baird Searles rezensierte Filme. Eine lang laufende Serie von Schnurrpfeifereien, so genannte „shaggy dog stories“, genannt „Feghoots“, wurde 1958 bis 1964 von Reginald Bretnor geliefert, der als Grendel Briarton schrieb.

Seit Mitte der Sechzigerjahre ist die Oktoberausgabe einem speziellen Star gewidmet: Eine neue Story dieses Autors wird von Artikeln über ihn und einer Checkliste seiner Werke begleitet – eine besondere Ehre also. Diese widerfuhr Autoren wie Asimov, Sturgeon, Bradbury, Anderson, Blish, Pohl, Leiber, Silverberg, Ellison und vielen weiteren. Aus dieser Reihe entstand 1974 eine Best-of-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum, aber die Best-of-Reihe bestand bereits seit 1952. Die Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten erschien 1981 auch bei |Heyne|.

In Großbritannien erschien die Lokalausgabe von 1953-54 und 1959-64, in Australien gab es eine Auswahl von 1954 bis 1958. Die deutsche Ausgabe von Auswahlbänden erschien ab 1963, herausgegeben von Charlotte Winheller (|Heyne| SF Nr. 214), in ununterbrochener Reihenfolge bis zum Jahr 2000, als sich bei |Heyne| alles änderte und alle Story-Anthologie-Reihen eingestellt wurden.

Die Erzählungen

1) Michael Coney: Die Cinderella-Maschine

Peninsula ist eine Gefängniswelt, wenn auch sehr hübsch mit einem tropischen Klima ausgestattet. Die Häftlinge werden nicht nur als Leibeigene „ausgeliehen“, sondern auch als lebende Organbanken benutzt. Nutznießer ist nicht nur der Ich-Erzähler Joe Sagar, der Knechte beschäftigt, sondern auch seine Bekannte, die alternde Filmdiva Carioca Jones. Die Diva ist Joe verhasst, seit sie die Hände seiner einstigen geliebten Joanne trägt …

Carioca bereitetet eine Art Auferstehung vor. Sie will nicht nur die alten 3D-Filme aus ihrer Jugend zeigen, sondern sich selbst ebenfalls verjüngen. Ein Mann namens Douglas Sutherland führt ihr und Joe seine Maschine vor, die er „Skulptograph“ nennt. Der Computer darin ist nicht nur in der Lage zu berechnen, wie irgendein menschliches Gewebe vor Jahren ausgesehen hat, sondern auch, wie es in der Zukunft aussehen könnte. Joe macht einen kleinen Test: Seine Warze am Finger wird zwar entfernt, aber dafür schält sich danach die abgestoßene Haut.

Als er beim Rennen eine sexy junge Frau aufgabelt, die sich als Carioca entpuppt, ahnt er, dass die Diva ihre Auferstehung ernst meint. Doch er freut sich schon darauf, wie sich ihre Haut schälen wird. Wie schlimm die Sache für sie ausgeht, hätte er sich allerdings nicht in den schlimmsten Albträumen ausgemalt …

|Mein Eindruck|

Die Story ist ein schönes Beispiel dafür, wie man mit nur wenigen Pinselstrichen eine komplexe Kultur zeichnen und ihre Fehler charakterisieren kann. Carioca ist nur der Exponent einer herrschenden Oberschicht von Ausbeutern. Eigentlich sollten wir uns freuen, wenn es ihr schlecht geht, aber das schadenfrohe Lachen bleibt uns im Halse stecken, so geschickt ist die Geschichte vom Autor erzählt. Die bitterböse Pointe hebt er sich für den letzten Satz auf. Carioca ist pars pro toto Opfer der selbst geschaffenen Verhältnisse geworden.

2) Tom Reamy: Der Detweiler-Bub

Bert Mallory ist Privatdetektiv im Los Angeles der sechziger Jahre, als er einen merkwürdigen Anruf erhält. Sein Kumpel Harry Spinner logiert gerade im Brewster Hotel, einer Absteige, als er einen seltsamen Jungen erwähnt, den Bert sich mal ansehen sollte. Als Mallory im Brester eintrifft, findet er Harry mit durchschnittener Kehle vor. Die Hotelbesitzerin, eine alternde, fette Diva, erwähnt diesen „Detweiler-Bub“, der so süß aussieht. Unter einem Vorwand sei er aber schon wieder ausgezogen. Das wird ja immer sonderbarer, findet Mallory. Da er die Sache persönlich nimmt, macht er sich auf die Suche nach dem Detweiler-Bub.

Der ist gar nicht mal so jung, schon über zwanzig, aber die Schwulen im Almsbury Hotel fanden, er habe eine Gesicht wie ein Engel. Rein zufällig ist auch im Almsbury jemand gestorben. Das wundert Mallory schon nicht mehr. In der |Los Angeles Times| der vergangenen vier Monate stößt er endlich auf ein Muster. Alle drei Tage fand ein blutiger Todesfall statt – und immer befand sich ein gewisser Andrew Detweiler in der Nachbarschaft. Er logierte immer nur drei Tage lang.

Um der Sache auf den Grund zu gehen, mietet sich Mallory in eine Bungalow-Anlage ein, aus der tags zuvor ein blutiger Selbstmord einer jungen Frau gemeldet worden ist. Der Detweiler-Bub logiert in Bungalow Nr. 7. Doch als Mallory mit dem jungen Mann Karten spielt, kann er nichts Schlimmes an ihm feststellen. Der Junge mit dem Buckel und dem Engelsgesicht ist ein Schriftsteller, schreibt Horrorgeschichten. Na, und?

Erst in der Nacht nach dem dritten Tag lüftet sich das Geheimnis …

|Mein Eindruck|

Die Geschichte erinnert mich an Stephen Kings verfilmten Roman „Stark – The dark half“, in der die Hauptfigur, ein Schriftsteller, sich einen finsteren Doppelgänger erfindet, und zwar in seinen Romanen: Machine. Diese andere Hälfte ist zu furchtbaren Taten imstande, die unser Autor niemals wagen würde.

Auch in Tom Reamys Novelle (43 Seiten) hat der Schriftsteller, Detweiler, einen Doppelgänger, einen finsteren Zwilling, der zu finsteren Taten fähig ist. Der Widerspruch zwischen diesem Teufel und dem Engelsgesicht Detweilers ist offensichtlich und symbolisch aussagekräftig. Jeder kann sich selbst einen Reim darauf machen. Aber Detweiler interessiert es nicht, was sein dunkler Zwilling tut – Hauptsache, er gibt ihm, was er selbst braucht. Es ist eine Symbiose. Wenn der eine stirbt, muss auch der andere vergehen.

Die Erzählung liest sich hervorragend, denn Bert Mallory erwähnt nicht umsonst den Detektivroman „Der Malteser Falke“ von Dashiell Hammett, aber erhält sich nicht für dessen Helden Sam Spade, sondern für eine Nummer kleiner. Dieser Selbsteinschätzung zum Trotz leistet Mallory saubere Arbeit, was die Story sehr spannend macht: eben eine klassische Detektivstory, mit viel Blut, vielen Frauen und viel trockenem Humor.

3) Damon Knight: Ich seh dich

Stell dir vor, du hättest einen Guckapparat, mit dem du nicht nur überallhin sehen könntest, sondern auch in jede beliebige Zeit. Nenn‘ das Ding einfach „Gucker“. Es hilft dir, die anderen Kinder zu sehen, wenn sie Verstecken spielen, und es hilft dir bei der sexuellen Aufklärung, wenn du zusiehst, was die Eltern im Bett treiben. Würdest du nicht dem Erfinder dieses tollen Gerätes danken wollen, das es dir erlaubt, alles zu sehen und zu hören, was du dir nur vorstellen kannst?

Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem du gewahr wirst, dass du selbst auch beobachtest wirst. Und du merkst, dass auch dein Beobachter beobachtet wird. Und so weiter. Bis in alle Ewigkeit …

|Mein Eindruck|

Damon Knight, ein renommierter SF-Autor und -Herausgeber, hat hier die Idee von Clarke & Baxters Romans [„Das Licht ferner Tage“ 1503 vorweggenommen. Er spielt durch, wie es wohl wäre, wenn es wirklich so einen Apparat gäbe, der nicht nur märchenhaftes Wissen über die Mitmenschen liefern, sondern auch alle Rätsel der Welt lösen würde, beispielsweise den Mord an John F. Kennedy (1963) oder das Rätsel des verlassenen Segelschiffes „Mary Celeste“ (1892). Man bräuchte sich auch nicht mehr auf den Mars zu bemühen oder auf andere fremde Welten. Denn man hat ja den Gucker. So wie heute das TV-Gerät.

Es wäre der absolute Horror und das Ende des Menschseins, wie wir es heute kennen. Nicht nur gäbe es keine Privatsphäre und keine Verbrechen mehr, sondern auch jeden Antrieb, irgendwohin zu gehen, irgendetwas zu verschicken oder in den Fernseher bzw. auf eine Kinoleinwand zu starren. Die Menschen würde paranoid werden, daheim bleiben, dick und fett und krank werden. Gott wäre sowieso als Erstes abgeschafft worden, und Menschen würden nicht mehr heiraten, weil sie ja bereits alle Schwächen des anderen kennen gelernt hätten. Mithin würde nnur noch uneheliche Kinder gezeugt werden – wenn überhaupt.

Stell dir vor, du hättest einen Gucker – und ich würde dich sehen.

4) John Varley: Im Audienzsaal der Marskönige

Die Marsoberfläche. Nach einer Explosion des Kuppelzeltes, die durch Dekrompression drei Viertel des Expeditionskorps tötet, sehen sich die fünf Überlebenden harten Entscheidungen gegenüber. Sie können nicht mehr zum Mutterschiff „Edgar Rice Burroughs“ hinauffliegen, denn Pilot und Kopilotin ihrer Landefähre „Podkayne“ sind tot. Aber sie haben Vorräte für mindestens ein Jahr, bei Rationierung sogar für eineinhalb Jahre, mit Abwürfen der „Burroughs“ sogar noch länger. Sie sind jetzt eine autarke Kolonie.

Die kritischen Faktoren sind jedoch Wasser und Atemluft. Wasser lässt sich aus der Atemluft zwischen Plastikbahnen kondensieren und sammeln. Doch um Atemluft zu produzieren, benötigen sie Pflanzen, welche sie nicht haben. Matthew Crawford, der Historiker, sieht schwarz. Doch seine Gefährten, allen voran die Kommandantin Mary Lang, eine Afroamerikanerin, werfen die Flinte nicht ins Korn, sondern werden von der einheimischen Fauna überrascht. Aus den nährstoffreichen Gräbern der Getöteten erheben sich interessante Gebilde, die wie Windmühlen aussehen: Kreisler. Sie scheinen Wasser zu pumpen. Später gibt es ein Gewächs, das weiße Trauben bildet. Die „Beeren“ enthalten Sauerstoff. Nun haben sie wieder Atemluft, und das Überleben ist gesichert.

Aber für eine Kolonie braucht man auch Paare und Kinder. Diese stellen sich sofort ein, sobald die „Burroughs“, die nichts mehr zu tun hat, wieder zur Erde gestartet ist. Alle ziehen sich nackt aus und treiben es miteinander, bis sich ein Gefühl des Kennens und Vertrauens einstellt. Nach dem Abflauen der Rivalitätskämpfe zwischen den drei Frauen und den zwei Männern stellt sich ein Gleichgewicht her, und es dauert nur acht Monate, bis Lucy McKillian feststellt, dass sie schwanger ist. Aber in welcher Welt wird ihr Baby aufwachsen?

Der Forschungsexpedition, die fast neun Jahre später eintrifft und eigentlich erwartet, nur noch Leichen vorzufinden, steht eine faustdicke Überraschung bevor …

|Mein Eindruck|

Es sind solche Erzählungen in der alten, zuversichtlichen Heinlein-Manier, welche die amerikanische Science-Fiction wieder so attraktiv machten, nachdem sie durch das tiefe Tal der sechziger und frühen siebziger Jahre ging. Dass John Varley ein Heinlein-Jünger ist wie Niven, Pournelle und Spider Robinson, belegt schon der Umstand, dass die Landefähre „Podkayne“ nach der Heldin von Heinleins Jugendroman „Podkayne of Mars“ benannt ist. Und die „Edgar Rice Burroughs“ beschwört die uralte Marsromantik, die der Schöpfer von „Tarzan“ in den Jahren 1912 bis 1943 durch seine vielen Marsromane auslöste.

Anders als bei skeptischen Europäern vom Schlage eines Stanislaw Lem [(„Der Unbesiegbare“) 2795 zeigen sich die Amis auf dem Mars als Pioniere mit Tatkraft und Zuversicht. Als die einheimischen Lebensformen aus dem Boden (und dem 20 Meter darunter liegenden Wassereis) sprießen, erweisen diese sich als an die Menschen angepasst. Gerade so, als wären die Menschen erwartet worden. Wer weiß: Vielleicht haben die Wesen, die diese Sporen zurückließen, einst die Erde während der Steinzeit besucht und wollten die Besucher belohnen.

Hier zeigt sich eine amerikanische Denkweise: Gott (oder Schicksal, Natur usw.) hat vorherbestimmt, dass der Mensch, der sich bemüht, auch belohnt wird, aber nach Gottes eigenem verborgenen Plan. Und der kann ja nun auch Marsbewohner vorsehen. Der grandiose Titel „In the hall of the Martian kings“ wandelt einen Titel aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Sinfonie ab, nämlich „In the hall of the mountain king“. Aber wo sind sie, die Marskönige? Kommen sie noch – oder sind sie mit den Pionieren bereits gekommen?

Die Übersetzung

An diesem schmalen Band von nur 140 Seiten waren gleich zwei Übersetzerinnen beteiligt: Birgit Reß-Bohusch und Keto von Waberer. Während Reß-Bohuschs Stil keinerlei Auffälligkeiten zeigt, ist bei Keto von Waberer genau das Gegenteil der Fall. Ich weiß ja nicht, in welcher Gegend man den Ausdruck „wie Schusser in den Höhlen“ (S. 42) gebraucht, aber in Deutschland dürfte er ziemlich wenig bekannt sein. Schusser sind laut DUDEN „Spielkügelchen“, d. h. der Ausdruck bedeutet so viel wie „herumkullern“.

Auf Seite 100 und 101 schreibt Waberer „Rationalisierung“ statt „Rationierung“ bzw. „Rationieren“. Das eine bedeutet „durch Maßnahmen Kosten/Aufwand/Personal etc. einsparen“, das andere „Nahrungsmittel begrenzen und einteilen“ – ein Riesenunterschied, den von Waberer offenbar nicht kannte.

Auf Seite 50 gibt es noch einen blöden Schreibfehler, der die Flüchtigkeit der Übersetzung belegt. Hier heißt es: „ich entdecke, die Spur des Detweiler-Buben …“ statt „ich entdeckte die Spur des D …“. Glücklicherweise war’s das aber auch schon.

Unterm Strich

Drei der vier hier gesammelten Erzählungen sind herausragende Beispiele für die hohe Qualität der Erzählungen während der siebziger Jahre – im Gegensatz zu einigen der Romane wie etwa Nivens „Luzifers Hammer“ oder Heinleins späte Machwerke. Es war eine Zeit des Umbruchs, die Zeit, als Konventionen abgestreift wurden und man nach neuen und aktuellen Ideen suchte; man denke an die Stories von Le Guin, Tiptree/Sheldon und Joanna Russ.

Dem widersprechen jedoch drei der vier Erzählungen in diesem Band. Varley knüpft an die Heinlein-Tradition der Weltraumeroberung an, und Reamy bedient sich der Folie des klassischen Detektivromans, um seine Aussage zu erzählen. Der gute alte Damon Knight erzählt noch in der Form der vierziger und fünfziger Jahre. Seine Story ist die einzige, die über keine Handlung im üblichen Sinne verfügt.

Nur bei Michael Coney kann ich keine alten Vorbilder erkennen, und deshalb ist mir diese Geschichte am sympathischsten. Coney hatte Anfang der siebziger Jahre begonnen, seine Storys zu veröffentlichen – sie sind in „Monitor im Orbit“ gesammelt – und entwickelte seine Kunstfertigkeit und seine Aussagekraft immer weiter, bis solche Werke wie „Die Cinderella-Maschine“ entstanden, die in hochverdichteter Form eine ganze Gesellschaft beschreiben und kritisieren.

Lesetipp

Wem diese Sammlung gefallen hat, der sollte auch zu den Nebula-Preisträger-Auswahlbänden greifen, die ab 1981 bei |Moewig| erschienen, so etwa „Der Plan ist Liebe und Tod“ (Nr. 6730, 1982).

Taschenbuch: 144 Seiten
Originaltitel: The magazine of fantasy and science fiction, 1976/77
Aus dem US-Englischen von Birgit Reß-Bohusch und Keto von Waberer

www.heyne.de

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