_Vielfalt der Phantastik: Der Weltraum hat abgedankt_
Dies ist einer der letzten Auswählbände mit Erzählungen aus dem traditionsreichsten und mehrfach mit mit Preisen ausgezeichneten „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Die Auswahlbände erschienen rund vier Jahrzente in der Reihe „Heyne Science Fiction & Fantasy“.
Mit Mike Resnick ist ein echter Veteran unter den ausgewählten Autoren, und Kristine Kathryn Rusch, selbst Herausgeberin, ist inzwischen einer der erfolgreichsten SF- und Fantasy-Autorinnen der USA.
|Die Erzählungen|
_1) Dale Bailey: Moment der Stille_
Ein Vertreter für Teppichböden entdeckt in einer Kleinstadt einen unscheinbaren Laden, der aber ein interessantes Ladenschild hat: „Erasmus Brand, Kaufmann – Händler des Unheimlichen, Exotischen und Wunderbaren – Was ist Ihr Herzenswunsch?“ Bei diesem letzten Wort fühlt sich Upton Spencer sofort angesprochen und tritt ein.
Als er wieder herauskommt, hat er für seine Zufriedenheit eine rubinrote Phiole eingetauscht. In dieser befindet sich, wie er Stunden später im Motelzimmer feststellt, eine bezaubernd duftende Flüssigkeit. Er wagt nur einen einzigen Tropfen davon zu kosten, doch schon wünscht er seinen keifenden Boss Frank Enderby zum Teufel. Denn Upton hat irgendwo seinen Musterkoffer verloren. Aber wo? Als ihm Erasmus Brand wieder einfällt, kehrt er dorthin zurück, wo die Phiole hergekommen ist …
|Mein Eindruck|
Es geht um Zufriedenheit in der giftigen Alltagswelt, mit dem frustrierenden Alltagsjob und mit der ganzen banalen Realität eines Handelsvertreters. Den Kontrast dazu, ja sogar die Erlösung bildet die Phiole und ihr Zauber – der Zauber von einer anderen, poetischeren Welt, einer Welt der Magie: der Herzenswunsch. Und dafür hat Upton seinen Chef zum Teufel gewünscht? Upton überlegt es sich anders, denn er will seine Zufriedenheit zurückhaben. Wie viele von uns haben nicht schon diesen unheiligen Deal gemacht? Die Ziele der Kindheit und Jugend für einen Apfel und das Butterbrot der Zufriedenheit verraten?
Die Ironie bei dieser Geschichte: Der Händler der Herzenswünsche riecht nach Schwefel …
_2) Mike Resnick: Die Roosevelt-Depeschen_
13. Juli 1898: Oberst Theodore Roosevelt, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, ist mit seinem Freiwilligenregiment der „Rough Riders“ noch auf Kuba stationiert, als er auf die Jagd in den nahen Dschungel geht. (Im Spanisch-Amerikanischen Krieg wurde Kuba erobert.) Dort stößt er statt auf harmlose Brachvögel auf ein aggressives Untier, das sich nicht durch einen Schuss aus Roosevelts Gewehr in die Knie zwingen lässt. Nicht einmal Schüsse ins Auge oder in den Mund können es töten, vielmehr muss der kecke Schütze selbst in Deckung gehen, als das Untier eine WAFFE zückt. Wer hätte je von einem Tier mit einer Waffe gehört, wundert sich der Oberst. Ein Feuerstrahl verfehlt ihn nur um Haaresbreite, und er ergreift bei so viel Feuerkraft die Flucht.
Doch im nahen Fluss gelingt ihm die Überlistung des tentakelbewehrten Monsters. Als er es im Lager seziert, stößt er auf eine vollkommen fremdartige Anatomie, die ihn in Alarmzustand versetzt. Er warnt den US-Präsidenten McKinley, erntet aber nun Spott. Unterdessen treffen aus England Meldungen über weitere solche Geschöpfe ein …
|Mein Eindruck|
Die Invasion vom Mars hat stattgefunden, der „Krieg der Welten“ hat begonnen! Und ausgerechnet im tiefsten kubanischen Dschungel muss Roosevelt auf einen der Invasoren stoßen. Es ist wirklich ein Heidenspaß, wenn der SF-Freund eins und eins zusammenzählt und nicht zwei, sondern H. G. Wells erhält! Dessen Roman [„Krieg der Welten“ 1475 erschien bekanntlich im Jahr 1898 und erzählte von Monstern vom Mars, die einen Hitzestrahl einsetzen, der alle Waffen außer Gefecht setzt.
Die Erzählung bildet somit eine Fußnote zum Wells’schen Roman, doch ist sie derart authentisch mit Briefen, tagebucheinträgen und einem Redemanuskript erzählt, dass man sie glatt für echt halten könnte. Ein feiner Spaß, der leider abrupt und viel zu früh endet.
_3) Robin Aurelian: Gummiknochen_
Eine Story mit einem sehr ungewöhnlichen Ich-Erzähler. Er oder sie – das ist nicht sicher – wurde im Kofferraum eines Cadillac de Ville gefunden, und zwar ausgerechnet vom Gangsterboss Shilling. Der nahm ihn auf, um ihn als Leibwächter einzusetzen, doch nachdem sein Findling einmal Mist gebaut hatte, ließ er ihn in ein Säurebottich werfen.
Der Findling hat überlebt. Seine Knochen, ja, eigentlich alles hat sich verflüssigt, und so konnte er aus dem Bottich entkommen. Als er wieder bei Shillings Schergen auftaucht, haben sie Mitleid mit ihm und lassen ihn laufen, nachdem er versprochen hat, nie zurückzukehren. Doch die Spur zurück zu seiner Herkunft führt über Shilling. Als der merkt, dass sein Mann nicht tot ist, rastet er aus. Der Findling muss fliehen, nimmt einen der Schergen mit. Zusammen mit Peterson sucht er seine Herkunft in Las Vegas …
|Mein Eindruck|
Eigentlich könnte dies eine richtige Superheldenstory sein, aber dafür ist sie viel zu feinfühling und stilsicher erzählt. Es scheint sich eher um eine Alien-Story zu handeln, wobei sich der Alien bemüht, so menschlich wie möglich aufzutreten, doch immer wieder macht er in seiner Naivität einen Fehler. Er – oder sie – endet mit Peterson in einem Kaff im Norden der USA. Dort erschafft das Alien aus seinem Leib einen Jungen, um jemanden zum Reden zu haben – genau wie eine Mutter. Eine ungewöhnliche Alien-Story also, aus einem neuen Blickwinkel: dem des „Monsters“.
_4) Ian R. MacLeod: Tirkiluk_
Am 18. Juli 1942 löst der Wissenschaftsoffizier Seymour seinen Kollegen auf der arktischen Wetterstation in der Tuiak-Bucht ab. Seymour, dessen Tagebuch wir lesen, gibt dem Hauptquartier in Godalming bei London seine Meldungen per Morsezeichen durch, damit die Zentrale sicher die Geleitzüge nach Murmansk lotsen kann. Der arktische Hochsommer ist wunderschön, und Seymour bewundert die Nordlichter.
Es gibt auch einen Eskimostamm in der Nähe, und Seymour rümpft bei seinem Besuch die Nase. Die Inuit benutzen Urin nicht nur zum Gerben der Felle, sondern auch zum Waschen ihrer Haare. Eine gefesselte Gestalt fällt ihm auf, und der Stammesälteste nennt sie „Inua“, nach einer alten Legendengestalt. Nach dem Abzug des Stammes bleibt „Inua“ zurück und schleicht um Seymours Hütte, ernährt sich mehr schlecht als recht.
Als Seymour diesen ausgehungerten Eskimo bei sich aufnimmt und aufpäppelt, stellt er zu seiner Überraschung fest, des sich um eine Frau handelt und sie hochschwanger ist. Tirkiluk erzählt ihm die Legende von Inua. Diese wurde für ein Verbrechen von ihrer Familie ins Meer geworfen, worin sie bis auf den Boden sank. Dort lebe sie nun als alte Frau ohne Finger, nur mit einer Lampe, mit der sie Unglückliche anlocke. Sie, Tirkiluk, habe mit ihrem Halbbruder geschlafen, und für diesen Inzest wurde sie verstoßen.
Seymour hat kein Problem mit Eskimomoral, sondern kümmert sich um Tirkiluk und das kommende Baby. Er fängt und sie tötet eine Robbe nach der anderen, und das Baby kommt auf die Welt, ein Junge, den Tirkiluk Naigo nennt. Dann beginnt alles schiefzulaufen. Seymours Hütte gerät in Brand, nachdem er im Suff eine Laterne umgeworfen hat. Die beiden können kaum eine Zeltbahn, ihre Kleider und etwas Proviant retten, und die Heizvorräte sind in die Luft geflogen. Seymours Sinne beginnen sich zu verwirren …
|Mein Eindruck|
Eine wunderbar anschauliche und poetische Erzählung, wie sie nur von einem britischen Erzähler stammen kann. Sie erinnert an Franklins Expedition zur Entdeckung der Nordwestpassage und an den Untergang Robert Falcon Scotts am Südpol, an Ernest Shackleton und viele andere Tragödien, die im Eis ihr Ende fanden. Doch die Geschichte hat zwei positive Schlüsse, sowohl für Seymour als auch für Tirkiluk. Und das macht sie fast zu so etwas wie einer arktischen Weihnachtsgeschichte.
_5) Ron Goulart: Warum ich nie fest mit Heather Moon ging_
Im Leben des Studenten Will Harkins herrscht das Chaos. Drei Dämonen hat ihm der eifersüchtige Englischprofessor Matt Krouch auf den Hals gehetzt. Will ist ein Loser: Er gibt klein bei und tritt seine Freundin Sue Smith an Krouch ab. Kein Wunder, wenn so unfaire Mittel wie schwarze Magie eingesetzt werden.
Doch Wills Freund Nat will vom Trübsalblasen nichts hören. Er richtet Will wieder auf und empfiehlt ihm, als neue Verabredung eine Kommilitonin namens Heather Moon kennenzulernen. Leider eilt Heather der Ruf voraus, verschroben zu sein. Als Will sie in ihrem Elternhaus zur Party abholt – dies sind die anständigen fünfziger Jahre – , erlebt er ein paar überraschende Begegnungen mit Mitgliedern von Heathers Familie. Ihr Bruder ist unsichtbar, ihr Onkel schwebt in der Luft, und aus ihm spricht die Stimme eines Geistes, der sich als Orakel betätigt: Es liege noch weiteres Ungemach vonseiten Krouchs in der Luft.
Auch Heather hat ein paar „zauberhafte“ Eigenschaften von ihrer Sippe geerbt: Sie beherrscht Telekinese und Teleportation aus dem Effeff. Das erweist sich als sehr hilfreich, als Professor Krouch ein weiteres Mal zuschlägt und Will per Magie entführt. Sue Smith liebt Will immer noch, und um dieses Hindernis zu beseitigen, muss Will sterben. Das Pentagramm für den Abholer aus der Hölle ist bereits gezeichnet …
|Mein Eindruck|
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, dies sei eines von Thorne Smiths zauberhaften Geschichten, die er weiland von 1928 bis 1941 schrieb, z. B. „Meine Frau, die Hexe“ (deutsch bei S. Fischer). Alles ist wunderschön altmodisch – und Magie so selbstverständlich wie das Kuchenbacken. Leider ist das alles aber auch schrecklich klischeehaft und da es sich keineswegs um eine Parodie handelt, ist die Aussage auch etwas belanglos. Es ist lediglich gute Unterhaltung, und obendrein nicht einmal besonders einfallsreich – ganz im Gegensatz zu dem fabelhabten Mr. Thorne Smith.
_6) Pat MacEwen: Die Gabe der Macklins_
Die Gabe der männlichen Mitglieder der Sippe der Macklins besteht in „mind-control“, das heißt in der Überwindung des Willens einer Frau und des Weckens ihres Begehrens. John Macklin, der Chef der Familie, hat mit seiner Frau drei Kinder gezeugt, aber auch mit ihrer Mutter. Williams Großmutter ist im achten Monat von ihm schwanger. Die Dinge stehen nicht zum besten bei den Macklins: John unterdrückt alle mit seiner herrschsüchtigen, gewalttätigen Art. Nicht nur sein Sohn William, der Ich-Erzähler, hat Angst vor ihm. Alle Frauen in der Stadt haben Angst vor ihm.
Als Wills Vater wieder einmal eine Nachbarin „betört“, wird es Will zu viel: Soll es dem Fünfzehnjährigen bald ebenso ergehen und er eine Frau nach der anderen in eine willenlose Puppe verwandeln? Das erscheint ihm ungerecht – sowohl gegen die Frauen wie auch gegen sich selbst, der das nicht will. Als er vor den düster-stolzen Vorhersagen von Wills Schicksal davonläuft, passiert genau dies: die Betörung zweier junger Mädchen. Wann wird das nur aufhören?
Doch die Großmutter warnt Will eindringlich vor der nächsten Nacht, wenn John, der Alteisenhändler, zum Schwarzbrenner Joe Sullivan fahren will. Sullivan wohnt auf einer Insel im Black Lake. Will sträubt sich vergeblich gegen seinen Vater und muss mit, so dass er im Mondschein durch dichten Nebel über den See rudert. Da hört er ein Geräusch … Sie finden eine nackte Frau, die sich in einem alten Fischernetz verfangen hat. Sie hat sehr weiße Haut und silbernes Haar, das im Mondlicht schimmert. Um den Hals trägt sie ein weißes Amulett, und als sich Johns begieriges Messer ihrer Haut nähert, zuckt sie vor dem kalten Eisen zurück.
Will ahnt, womit er es zu tun: mit einer der Wassernixen, die in magischen Nächten wie dieser zu sehen sind. Und vielleicht ist ihnen die Gabe der Macklins zu verdanken. Daher empfindet Will die „Betörung“, die John unwillkürlich ausübt, als Unrecht gegen die Vorfahren. Und so kommt es, dass John Macklin nicht nur in der weißen Lady aus dem See seinen Meister findet, sondern auch in seinem Sohn …
|Mein Eindruck|
Es gibt ein berühmtes Gedicht des irischen Poeten William Butler Yeats, das Donovan vertont hat: „The Song of Wandering Aengus“. Aengus ging in den Haselbuschwald, um Forellen zu angeln. Er fing in der Tat eine Forelle, doch sie verwandelte sich in ein „Glimmering-Girl“, das ihn bei seinem Namen rief und davonlief. Er lief ihm nach und wenn er nicht gestorben ist, so läuft er noch heute seinem Zaubermädchen hinterher, auf der Jagd nach den „silbernen Äpfeln des Mondes und den goldenen Äpfeln der Sonne“.
Irische Sagen und Legenden sind voll von solchen magischen Begegnungen mit dem kleinen Volk, das in allen Dingen wohnt. Und als die Iren Mitte des 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, nahmen sie ihre Legenden mit. Die vorliegende Geschichte spielte zur Zeit der Großen Depression, also zwischen 1929 und 1939, entsprechend rückständig ist das arme Landvolk. Doch John Macklin ist ein besonders konservativer Typ, mehr tyrannischer Unhold als sorgender Vater. Die Macht, die ihm von den Genen verliehen wurde, findet zurück zu ihren Wurzeln – und eine ebenso starke Macht, die der weißen Frau aus dem See innewohnt.
Die psycholgischen Querelen, in denen sich Will verstrickt, sind überzeugend dargestellt. Doch dass sein Vater bezwungen ist, verhindert nicht das Wirken der „Betörung“ in Will selbst. Nach einem schrecklichen Zwischenfall mit seiner neunjährigen Schwester setzt sich Will mit einem Messer ans Ufer des Sees und erfleht Erlösung von der Nixe. Und wenn er sich nicht getötet hat, so sitzt er dort noch heute und pflückt die „silbernen Äpfel des Mondes“.
_7) Jerry Oltion & Kristine Kathryn Rusch: Deus X_
Marcus Chambers ist der erfolgreiche Bürgermeister einer Großstadt und befindet sich in den neunziger Jahren im Wahlkampf, als er mehrere Peinlichkeiten zu überstehen hat. Seine Schwester Lita, die seit längerem mit Unsichtbaren spricht, lässt er in eine psychiatrische Anstalt einweisen, damit sie ihn nicht mehr kompromittieren kann.
Doch kaum glaubt er, das Blatt zu seinen Gunsten gewendet zu haben, ereignet sich auf einer Pressekonferenz ein Zwischenfall: Ein seltsam gekleideter Mann spricht ihn auf Litas Einweisung an, und Marcus antwortet ihm mit diplomatischem Geschick. Doch Marcus‘ Wahlkampfleiter Phil, ein treuer Wegbegleiter, fragt Marcus nach der Konferenz, was das sollte? Wieso hat Marcus mit der Luft gesprochen? Phil hat den Mann nicht gesehen, und für ihn sieht es so aus, als habe Marcus die „Geisteskrankheit“ seiner Schwester geerbt.
Der seltsam gekleidete Mann taucht in Marcus‘ eigenem Heim auf. Nachdem er sich weigert wegzugehen, muss ihm Marcus zuhören. Kaldakeddy, wie er sich nennt, ist ein Wanderer zwischen den Welten, und seine Welt ist von den kriegerischen Zetain erobert worden. Lita habe den Unterworfenen zwar Tipps in zivilem Widerstand gegeben und eine Rebellengruppe gegründet, doch nur eines könne dem Widerstand Dauerhaftigkeit verleihen: die Geburt eines Heilands. Marcus ist die Parallele zu den von den Römern unterdrückten Juden nicht entgangen. Solch ein Heiland würde in der Tat aus einer unbefleckten Empfängnis stammen, denn der Vater befände sich ja nicht in der anderen Welt, sondern in der von Marcus.
Lita erklärt es ihm klipp und klar: Marcus braucht nicht in die Anderwelt zu wechseln, er braucht bloß eine der Frauen der Widerstandsbewegung zu schwängern. Dann endlich würde er seinem Ehrennamen „Geheiligter Geist“ alias „Sidanta“ gerecht werden. Marcus hegt einige Zweifel trotz der angenehmen Aussicht auf eine erotische Nacht. Doch als Naralena von Kaldakeddy herbeigeführt wird und sie Marcus einen Kuss gibt, merkt er, dass alles halb so schlimm ist. Der Sex ist mit einer Unsichtbaren ist wahrlich nicht schlimm, ganz im Gegenteil.
Natürlich fangen Marcus‘ Schwierigkeiten damit erst so richtig an …
|Mein Eindruck|
Auf 78 Seiten breiten die beiden Autoren zunächst eine realistische politische Landschaft aus, nur um sie dann systematisch zu unterminieren, als die Andersweltler eindringen. Dann wird aus der Erzählung ein Szenario, das sehr stark an Philip K. Dick erinnert, etwa in der VALIS-Trilogie. Nach einem erotischen Intermezzo und einer Expedition, in der er „das Hochheilige Paar“ – Kaldakeddy und die schwangere Naralena – in Sicherheit fährt, begibt sich die Story noch weiter ins vertraute Dick’sche Fahrwasser, als Marcus schließlich in der Klapse landet.
Eigentlich hätte ich erwartet, dass sich die Zetain, die Eroberer der Anderwelt, in unserer Realität zu erkennen geben, doch ihr einziger Agent scheint Phil zu sein. Das wird aber nie zugegeben. Und so bleibt dieser letzte tragisch-ironische Schlenker zu unserer Frustration aus.
Na ja, die Stoßrichtung der Aussage der Story ist eine andere: Sie erklärt die Erscheinung und den Tod Jesu als Intervention aus einer anderen Welt. Nur dass diesmal die andere Welt in unserer besteht. Der „Wanderer zwischen den Welten“ ist offenkundig ein Engel. Naralena, die Mutter des Heilands, entspricht Maria (ist aber wesentlich älter als die historische Maria, nämlich etwa 25). Der Clou ist allerdings, dass ein amerikanischer Bürgermeister Gott sein kann. Und der biblische Gott hat bekanntlich mehrmals korrigierend und hilfreich in die Jesus-Geschichte eingegriffen – Stichwort „Wunder“.
Die Botschaft ist klar, aber nur wenig ironisch gebrochen: Die amerikanischen Ideale, denen Marcus gehorcht, stünden einem Gott gut zu Gesicht, wenn er sie denn zur Befreiung von Unterdrückten einsetzen könnte. Doch leider gibt es eine Menge Kräfte wie Phil, die aus kleingeistigem politischem Kalkül solch idealistisches Verhalten verhindern. Diese Aussage könnte man als auf die amerikanische Außenpolitik angewandt interpretieren, wie sie sich im Jahr 1997 präsentierte, also unter Bill Clinton.
_Die Übersetzung_
… durch Horst Pukallus verdient eine Erwähnung. Der Übersetzer von John Brunner und Stephen Donaldson ist ein stilsicherer Meister deutscher Grammatik (Konjunktiv!) und der Umgangssprache. Vielfach klingen die Figuren durch ihre Zusammenziehung von Wörtern („wär’s möglich“ und dergleichen) natürlicher als sonst.
Michael K. Iwoleit übertrug die ersten beiden Erzählungen sowie „Tirkiluk“. Ich fand seine Arbeit sehr gelungen, denn sein genauer Stil trägt stark zum richtigen Ausdruck bei. Manfred Weinland übersetzte die restlichen Storys, und das sind die So-lala-Storys. Ihm unterläuft auf Seite 125 unten ein übler Stilfehler. Statt „bezweckte“ müsste es „bewirkte“ heißen, was doch etwas anderes ist.
_Unterm Strich_
Die Auswahl von Herausgeber Ronald M. Hahn ist breit gestreut und vielfältig in Thematik, Stil und Tempo. In der Ausführung und der Aussage haben mir am weitaus besten die Erzählungen von Mike Resnick und Ian McLeod gefallen. „Die Roosevelt-Depeschen“ bildet eine witzige Fußnote zu H. G. Wells‘ klassischem Invasionsroman „Krieg der Welten“.
„Tirkiluk“ hingegen ist eine zunächst sehr realistische Schilderung des Lebens in der (schwindenden) Arktis, die parallel zur geistigen Verwirrung des Chronisten geradezu traumhafte oder psychedelische Zuge annimmt. Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass die Geschichte unglücklich ausginge. Ich war an den armen Robert F. Scott erinnert, der sich 1912 aufmachte, den Südpol zu erobern. In England ist er immer noch ein Held, denn er erfüllt das Ideal des „ehrenvollen Todes“.
Die anderen Erzählungen sind so lala, vielleicht mit Ausnahme von „Die Gabe der Macklins“, eine poetische Verarbeitung des Schuldkomplexes eines Super-Mannes. Die Storys sind raffiniert angeordnet: Sie werden zunehmend länger, und die letzte ist quasi ein Kurzroman – dessen Länge von 78 Seiten man erst realisiert, wenn man sich die letzte Seitenzahl ansieht.
Es fällt auf, dass keine einzige Geschichte irgendwo auf anderen Welten spielt, sondern alle auf der Erde. Der Weltraum hat abgedankt. Magie, Anderwelt, Super-Mann – phantastische Elemente qualifizieren die Storys für die Publikation in „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Wer Raumschiffe und Telepathen sucht, wird eher in „Asimov’s SF Magazin“ fündig. Aber dessen Auswahlbände erscheinen hierzulande ja auch schon längst nicht mehr.