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Tokarczuk, Olga – Unrast

Olga Tokarczuk ist eine der bekanntesten und auch erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen Polens. Mehrmals hat sie den |NIKE|, den wohl wichtigsten polnischen Literaturpreis, gewonnen, unter anderem für das jetzt auch auf Deutsch erschienene Buch „Unrast“ – es wurde 2008 sowohl mit dem Preis der Jury als auch mit dem Leserpreis ausgezeichnet.

Die Bezeichnung „Buch“ ist durchaus mit Bedacht gewählt, denn schon bei der Einordnung in ein literarisches Genre sträubt sich Tokarczuks „Unrast“ unwillig. Es ist weder ein Roman noch ein Band mit Erzählungen. Man kann es weder als Kurzgeschichtensammlung noch als Essayband bezeichnen. Stattdessen borgt es von allen diesen Gattungen und bildet somit einen Hybriden, ein fragmentarisches Gedankenspiel der Autorin zum Thema Reisen, Globetrotten und Unterwegssein. Die Übersetzerin Esther Kinsky hat mit „Unrast“ einen treffenden deutschen Titel für Tokarczuks Sammelsurium von Gedankenspielen, Aphorismen, Notizen und Geschichten gefunden. Er bezeichnet sehr genau die stete Bewegung, die Unfähigkeit zum Verweilen, die Tokarczuk im modernen Menschen ausgemacht hat – die dieser aber gleichzeitig von seinen urzeitlichen Vorfahren, den Nomaden, geerbt hat.

Es ist schwer, einen kurzen Überblick dessen zu vermitteln, was der Leser in „Unrast“ vorfinden wird. Es gibt keine übergeordnete Handlung; nichts, das sich im klassischen Sinne nacherzählen ließe. Manchmal ist Tokarczuk knapp, bietet dem Leser kaum mehr als eine Momentaufnahme auf einem Flughafen, einen vermeintlich spontan heruntergeschriebenen Geistesblitz oder eine Beobachtung. Manchmal beschäftigt sie sich indes eingehender mit Figuren, Orten oder Ideen. In „Unrast“ finden sich neben ganz kurzen Formen auch Kurzgeschichten oder Erzählungen, die sich über mehrere Kapitel erstrecken, jedoch nicht zwingend aufeinanderfolgen. Da geht es um einen Mann, der auf einer Urlaubsinsel seine Frau und seinen Sohn quasi verliert. Da geht es auch um eine Frau, die eines Abends beschließt, nicht zu ihrem Mann und behinderten Kind zurückzukehren, und stattdessen ihre Tage in der U-Bahn verbringt, ständig von einer Endhaltestelle zur nächsten fahrend. Da geht es auch um das Leben Philip Verheyens, eines Chirurgen und Anatomen aus dem 17. Jahrhundert, der nach einer Beinamputation sein Bein konserviert aufbewahrt und immer wieder untersucht.

Überhaupt die Medizin. Tokarczuk ist studierte Psychologin und hat in ihrer Jugend einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Das kommt auch „Unrast“ zugute, am auffälligsten in ihren Essays zur „Reisepsychologie“, die durchaus auch ironisch zu lesen sind. Doch hat Tokarczuk für „Unrast“ offensichtlich ein neues Steckenpferd ausgemacht: nämlich die Haltbarmachung des menschlichen Körpers in Lösungen oder mit Hilfe der Plastination. Oft und ausgiebig beschäftigt sie sich mit der Zusammensetzung der Alkohollösung für Präparate von menschlichen Embryonen. Sie beschreibt Sektionen und einen Rundgang durch von Hagens Panoptikum plastinierter Leiber. Sie erfindet einen Mann, dessen Interesse für die Anatomie bei der Betrachtung der Gläsernen Frau im Dresdner Hygiene-Museum geweckt wurde. Sie begeistert sich für die Schönheit von Innereien oder die Fantasie der Natur, wenn sie von missgebildeten Embryos spricht. Doch warum diese Faszination für den in seine Einzelteile zerlegten Körper? Dieses schonungslose Sezieren? Vielleicht ist es die Tatsache, dass für den modernen Nomaden der Körper der einzige stete Begleiter ist. Vielleicht ist es die Frage, wo oder wie eine Seele diesem in Alkohol eingelegten Körper einst Leben einhauchte. Vielleicht ist es eine Illustration der Tatsache, dass Verheyens Bein, das in einem Glas vor ihm auf dem Tisch steht, trotzdem immer noch Teil eines Ganzen ist: „(…) dass das, was einmal ein Ganzes darstellte, dann aber in einzelne Teile zerschlagen wird, immer noch auf unsichtbare, schwer zu ergründende Weise innig miteinander verbunden bleibt. Die Natur dieser Verbindung ist nie eindeutig und wird unter keinem Mikroskop zu erkennen sein.“

Der Zusammenhang des Zersplitterten, Fragmentarischen mit dem Ganzen, dem kompletten Bild ist es, was Tokarczuk interessiert. Darum attestiert sie sich selbst wohl auch ein „episodisches Bewusstsein“. Sie ist der Meinung, dass menschliche Wahrnehmung wie ein Bienenauge funktioniert, das tausende Einzelbilder aufnimmt und diese dann zu einer Ganzheit zusammenfügt. Insofern sind auch die Puzzleteile aus „Unrast“ als ein großes Bild zu betrachten. Wer Tokarczuk hier unzusammenhängend und ziellos findet, der hat sich nicht auf den Text eingelassen, der hat einzelne Geschichten nur insulär betrachtet, jedoch nicht im Zusammenhang mit ihren Nachbarn.

Das jedoch fordert Tokarczuk immer wieder subtil ein. Sie arbeitet sich nicht nur an Themen ab, die sie schon immer interessiert haben (z. B. Zeit, Tod oder Gender) und stellt „Unrast“ damit in Beziehung zu ihren früheren Büchern. Gleichzeitig verknüpft sie ihre Texte auch untereinander durch Motive oder fast unauffällige Wiederholungen. Wie ein Spinnennetz durchziehen diese das Buch und beweisen, dass tatsächlich alles miteinander in Verbindung steht.

Im Original heißt Tokarczuks Buch „Bieguni“, nach einer orthodoxen Sekte, die annahm, dass nomadisches Leben und der totale Rückzug aus der realen Welt der einzige Weg seien, dem Teufel zu entkommen. Tokarczuk beschreibt Reisende, Nomaden, Suchende – kurz, die Bewegung. Ganz zu Anfang postuliert einer ihrer Charaktere den folgenden Gedanken: „(… mir wurde klar), dass aller Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen wird.“

Insofern bleibt nur zu hoffen, dass Olga Tokarczuk nie zum Stillstand kommt und dass sie weiterhin durch die stete Bewegung ihres Federhalters auf dem Papier dem Teufel entwischt. Die Alternative wäre ein allzu herber Verlust für die polnische Literatur.

|Originaltitel: Biegun
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
456 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-89561-465-1|

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Tokarczuk, Olga – Letzte Geschichten

Drei Geschichten erzählt Olga Tokarzuk in ihrem neuen Roman. Drei letzte Geschichten – Geschichten vom Tod, vom Sterben, vom davor, danach und währenddessen. Mit ihrer einfühlsamen Sprache lässt sie den Tod zurück in unser Leben; einen Exilanten, der so gern tabuisiert oder schlicht verdrängt wird.

Im ersten Teil des Romans, „Das reine Land“, kommt die Reiseführerin Ida vom rechten Weg ab. Sie ist auf dem Weg zum Haus ihrer Kindheit. Jahre zuvor hatte sie es nach dem Tod ihrer Eltern verkauft, doch nun ist sie in der Nähe und verspürt plötzlich so etwas wie Neugier, Nostalgie, Heimweh gar. Der geliehene Wagen kommt jedoch im Schneegestöber von der Straße ab und verwandelt sich in einen Haufen teuren Schrott. Ida bleibt unverletzt und sucht bei einem Rentnerehepaar Unterschlupf, bis sie die Polizei und die Besitzerin des Wagens informieren kann.

Doch etwas hält sie bei dem gastfreundlichen Ehepaar. Die Tage verstreichen, ohne dass sie die nötigen Telefonanrufe getätigt hätte. Wie in einer Luftblase lebt sie plötzlich dahin, neben der Zeit schwebend, während ihr Leben innehält und abwartet. Statt sich fortzubewegen, weiterzumachen, verfällt Ida in Stillstand. Oder ist das vielleicht nur ein Irrglaube?

Denn auch wenn das alte Ehepaar scheinbar von den Wirren der äußeren Realität unberührt bleibt, so helfen sie doch bedüftigen Kreaturen auf den Weg. Sie sind Reiseführer anderer Art, nehmen todkranke Haustiere bei sich auf und lassen sie sterben: in ihrem eigenen Tempo. Die beiden Alten stehen an der Tür zwischen Leben und Tod, sie bereiten dem Sterben einen Ort und eine Zeit. Und Ida, die Großstädterin, nimmt für ein paar Tage teil an diesem Prozess.

Im zweiten Teil, „Parka“, ist es Idas Mutter, deren Umgang mit dem Tod wir beobachten. Wir befinden uns in einem einsamen Haus in den Bergen. Im Sommer kommt unter Umständen mal die Post und regelmäßig wird auf Vorrat eingekauft. Doch im Winter ist das alte Ehepaar eingeschneit – selbst der Fernseher zeigt nur Schneeflocken. Petro, über 90, stirbt in diesem Winter, und da seine Frau keine Möglichkeit hat, das Dorf zu verständigen, schiebt sie Petros Bett (mitsamt Petro selbstverständlich) schließlich auf die Veranda. Das Leben geht weiter wie bisher. Sie fragt Petro um Rat, beschwert sich über sein Schweigen, rasiert seine Bartstoppeln und schneidet die Fingernägel. Sie lebt mit der Leiche, und schlussendlich scheint es kaum einen Unterschied zu machen, ob Petro nun tot oder lebendig ist. Der tote Ehemann auf der Veranda ist ein Anlass zur Reflektion und Erinnerung und wir erfahren von dem tiefen Keil, den die Repatriierung zwischen die beiden getrieben hat. Aus der Ukraine sind sie gekommen, damals nach dem Zweiten Weltkrieg. Paraskewia kann in Polen keine Wurzeln schlagen, doch die ehemalige Heimat in der Ukraine bleibt ihr ebenfalls verschlossen. Tokarczuk beschreibt hier ein herausgerissenes Leben, einen abgesägten Baum.

Und dann ist da im letzten Teil „Der Magier“ Maja, Idas Tochter. Mit ihrem Sohn bereist sie eine asiatische Insel. Sie arbeitet, sagt sie. Maja schreibt nämlich Reiseführer. In der tropischen Hitze liegt sie da, während Insekten sie plagen und die Geräusche des Dschungels ihr den Schlaf rauben. Ein Buch aus der Heimat verschafft ihr Linderung, es beschreibt die Stadt im Norden, mit ihrer balsamischen Kühle und all den bekannten kleinen Dingen, die einem sagen, man ist zu Haus.

Und doch ist Maja losgelöst, eine treibende Seele in dieser globalisierten Welt. Sie ist überall, doch nirgends zu Hause. Während Maja in der Schwermut versinkt, die Tokarczuk so liebevoll über ihr Südseeparadies legt, freundet sich ihr Sohn mit einem todkranken Magier an. Der bringt dem Jungen ein paar Taschenspielertricks bei (darunter die klassische zersägte Jungfrau) und vollführt am Ende das größte magische Kunststück überhaupt: Er stirbt.

In einem Interview sagte Tokarczuk einmal, sie schreibe in Bildern. Als Autorin übersetze sie Bilder in Wörter. Diese sensible Herangehensweise an Sprache und die damit verbundene Verknüpfung von innerer mit äußerer Welt machen Tokarzcuks Erzählungen so lesenswert. Ob sie einen schreienden Affen an Majas Fenster beschreibt oder Paraskewias Umsiedlung nach Polen: Als Leser wird man nie das Gefühl los, dass selbst der kleinste Nebensatz, das nebensächlichste Bild noch auf größere Zusammenhänge verweisen kann. Träume sind für Tokarzcuk eine wichtige Inspiration, und wie im Traum kann auch in ihren Geschichten jede Kleinigkeit eine tiefere Bedeutung haben. Vor allem aber wirken diese kraftvollen und doch so leisen Bilder intuitiv auf den Leser. Ihre suggestive Sprache bohrt sich geradezu in die Erinnerung, setzt sich fest und erstrahlt irgendwann zu voller Blüte. Selbst wenn die Handlung stagniert (eigentlich „passiert“ kaum etwas in „Letzte Geschichten“), treibt die Sprache selbst den Leser immer weiter voran, tiefer in das Herz der Finsternis, hinein in die Erinnerungen, Ängste und enttäuschten Hoffnungen seiner Protagonisten.

Wie immer zeichnet Esther Kinsky für die Übersetzung verantwortlich, die seit Jahren Tokarczuk meisterlich ins Deutsche überträgt. Man muss nicht unbedingt ein Fan polnischer Literatur sein, um Tokarczuk zu mögen. Was sie beschreibt, ist universell. Es sind immer Menschen, die zwar lose in der polnischen Geschichte verankert sind. Doch letztendlich ist ihre Welt die unsere. Ihre Probleme sind die unsrigen.

Wer auf sprachliche Meisterschaft Wert legt und statt eines Glases Wein lieber einmal einen sorgfätig komponierten Roman genießen möchte, der ist bei Olga Tokarczuk immer gut aufgehoben. „Letzte Geschichten“ macht da keine Ausnahme.

http://www.dva.de/