Lemieux, Jean – Gesetz der Insel, Das

Im Herbst des Jahres 2001 möchte André Surprenant, Sergent-Détective der Polizei auf Cap-aux-Meules, einer der Madeleine-Inseln vor der Ostküste der kanadischen Provinz Quebec, endlich mit seiner Gattin den längst überfälligen Urlaub antreten. In letzter Sekunde verhindert dies ein Anruf von Roméo Richard, dem reichen Krabbenfischer und Bürgermeister des Nachbarorts Havre-aux-Maisons, der seine Tochter Rosalie vermisst. Die lebenslustige, dem Trunk, dem Hasch und den Männern ein wenig zu sehr zugetane 19-Jährige wurde zuletzt in der Inselkneipe „Caverne“ gesehen. Auf Cap-aux-Meules gibt es keine schweren Verbrechen, so dass Surprenant die Suche ohne Hilfe „vom Festland“ aufnimmt; auf der Insel regelt man die Dinge gern unter sich.

Dann wird Rosalie gefunden – geschändet, erwürgt und mit gebrochenem Genick hat sie ihr Mörder zurückgelassen, den nackten Körper „verziert“ mit Muschelschalen. Das Bundeskriminalamt setzt dem Sergent-Détective einen „Spezialisten“ vor die Nase. Denis Gingras ist ebenso berühmt für seine Erfolge als Ermittler wie berüchtigt für seine Arroganz. Auf Cap-aux-Meules lässt er Surprenant und dessen Beamte spüren, dass er sie für inkompetent hält. Als er den geistig verwirrten Damien Lapierre aufstöbert, der vor Jahren für einen Mädchenmord verurteilt wurde, hält er den Fall für gelöst. Dass Lapierre hartnäckig leugnet und die Indizien getürkt wirken, ignoriert Gingras.

Surprenant kennt „seine“ Insel und ihre Bewohner. Er spürt, dass Lapierre nicht der Mörder ist. Vom argwöhnischen Gingras hart gedeckelt, beginnt Sergent mit eigenen Nachforschungen. Er stößt hinter den Kulissen der scheinbar verschlafenen Gemeinde auf ein kriminelles Wespennest. Das organisierte Verbrechen nistet sich auf den Madeleine-Inseln ein. Schmuggel und Rauschgifthandel werden im großen Stil betrieben. Schon früher sind andere Mitglieder der Familie Richard auf verdächtige Weise gestorben. Rosalie hatte deshalb private Nachforschungen angestellt und ist dabei womöglich zu unvorsichtig gewesen. Die wahre Geschichte überrascht und erschüttert Surprenant dann allerdings doch bis ins Mark, zumal er sich in der Gewalt des Mörders befindet, als er sie endlich erfährt …

Der immer noch anhaltende Erfolg des Kriminalromans führt in Deutschland dazu, dass auch Werke aus bisher kaum oder gar nicht bekannten Regionen den Weg in die hiesigen Buchläden finden. Neben Skandinavien, Afrika oder Asien gehört auch Kanada zu diesen „Entwicklungsländern“. Das riesige Land auf dem nordamerikanischen Kontinent bietet eine fabelhafte Kulisse für Krimis. Es gibt quasi menschenleere, von der Zivilisation unberührte Wälder und Tundren, aber auch moderne Großstädte mit ihren typisch urbanen Verbrechen.

Längst ist Kanada für das organisierte Verbrechen kein weißer Fleck auf der Karte mehr. Das erstaunt nicht, wenn es um Städte wie Vancouver, Montréal oder Toronto geht. Doch auch das scheinbar idyllische Hinterland blieb keinesfalls ausgespart. Auf den Madeleine-Inseln vermutet der ahnungslose Tourist eventuell Wilddiebe, Schwarzbrenner oder Schmuggler. Aber das 21. Jahrhundert bzw. das längst globalisierte Verbrechen hat selbst hier fest Fuß gefasst: Nachdem die Fischer die örtlichen Bestände an Fischen und Krabben vernichtet haben, gehen sie dazu über, ihre Schiffe als Transporter für die Rauschgiftmafia einzusetzen, die auf hoher See ihren „Stoff“ wassert, der dann geborgen und an Land transportiert wird.

Auch sonst wird mit harten Bandagen gekämpft. Von Gemeinschaftsgeist ist wenig zu spüren in Cap-aux-Meules oder Havre-aux-Maisons. Die Einheimischen kapseln sich gegen die „Fremden“ ab, ohne deren Geld sie noch wesentlich schlechter dastünden. Die alte Ordnung ist dahin, „Das Gesetz der Insel“ kein Instrument für die Verbrechen der Gegenwart mehr. Dass eine menschliche Tragödie für Rosalies Verantwortung ist, ändert daran auch nichts. Selbst wenn sich die Insulaner schließlich wieder in Sicherheit wiegen, weiß André Surprenant es besser.

„Das Gesetz der Insel“ erzählt sowohl von einem Kriminalfall als auch vom grundsätzlichen Konflikt zwischen zwei Polizisten, die unterschiedliche Auffassungen von ihrem Beruf haben. Sergent-Détective Surprenant ist der altmodische Ermittler, der auf seinen Bauch ebenso hört wie auf seinen Kopf. Er kennt die Inseln und ihre Bewohner und ist – obwohl Polizist – in ihre Gemeinschaft integriert. Auf einer Insel müssen die Menschen miteinander auskommen. Da braucht es einen Polizisten mit Fingerspitzengefühl. Ermittler zu sein, ist für Surprenant ebenso Beruf wie Berufung. Er nimmt zu viel Anteil am Geschehen, projiziert unwillkürlich seine Tochter an die Stelle von Rosalie und wird von dem leicht naiven Willen getrieben, das Böse von den Inseln zu vertreiben.

Denis Gingras übernimmt die Rolle des „Auswärtigen“. Er ist ein Polizist der Großstadt, der sich der Möglichkeiten moderner Hightech ebenso selbstverständlich bedient, wie er sich auf seine Erfahrungen mit „richtigen“ Verbrechen verlässt, von deren Verfolgung man auf den nach seiner Ansicht „rückständigen“ Madeleine-Inseln keine Ahnung hat. Gingras hat kein Gespür für die ungeschriebenen Gesetze einer abgeschlossenen Inselgemeinde. Er ignoriert diese oder hält sie für altmodische Relikte einer vergessenen Vergangenheit. Für ihn zählen nur harte Fakten, die er jedoch nicht hinterfragt oder interpretiert. Hingegen weiß Surprenant, dass auf den Madeleines Alt und Neu nebeneinander existieren und die Dinge längst nicht immer so sind, wie es scheinen.

Gingras vermag sich nicht vorzustellen, dass er auf einen Kriminellen treffen könnte, der „klüger“ ist als er. Das macht ihn voreingenommen und blind – aber nicht blöd: Der Polizist des 21. Jahrhunderts ist stets auch auf seinen Ruf bedacht. Deshalb kontrolliert Gingras den auf eigenen Spuren wandelnden Surprenant vorsichtshalber scharf, damit ihn dieser nicht mit Indizien konfrontiert, die seine (vor den Medien vertretenen) Theorien als falsch entlarven.

Genretypisch steht dieser Surprenant natürlich nicht nur dienstlich unter Druck, sondern schlägt sich auch mit privaten Problemen herum. Mit seiner langjährigen Ehe steht es nicht zum Besten; der Sergent flüchtet sich in die Arbeit, um sich den Konsequenzen zu entziehen. Gleichzeitig hat er ein Auge auf eine attraktive Kollegin geworfen. Surprenant steckt in einer Midlife-Crisis, die ihn deprimiert die Gegenwart mit den hochfliegenden Plänen seiner Vergangenheit vergleichen lässt.

Charaktere wie dieser sind zahlreich auf den Madeleines – vom Leben niedergeschlagen, beruflich oder privat gescheitert, erfüllt vom nagenden Gefühl, etwas verpasst zu haben auf ihrer schönen Insel, die Autor Limeaux wie ein Gefängnis darzustellen weiß. Jeder Mann, jede Frau, mit der es Surprenant im Verlauf seiner Ermittlungen zu tun bekommt, hütet hinter einer oft glänzenden Fassade diverse Skelette im Schrank, die freilich nicht immer mit dem eigentlichen Kriminalfall zu tun haben: „Das Geheimnis der Insel“ ist kein auf den „Whodunit“-Plot fixierter Krimi, sondern beschreibt den Einbruch des Bösen in eine Welt, deren Darstellung dem Verfasser genauso wichtig ist wie der „Fall“. Dem Puristen mag das Ergebnis weder Fleisch noch Fisch sein, aber diejenigen, die um das literarische Potenzial des Genres „Kriminalroman“ wissen und seine Grenzen weiter stecken, wird „Das Geheimnis der Insel“ als nie sensationelles aber angenehmes Lektüreerlebnis im Gedächtnis haften.

Jean Lemieux wurde am 21. Januar 1954 in Iberville geboren. Er ist als Schriftsteller mit französisch-kanadischer Stimme bekannt geworden, arbeitet jedoch hauptberuflich als Mediziner. Zwischen 1980 und 1982 führte er eine Praxis auf den Madeleine-Inseln vor den ostkanadischen Küste. Ab 1983 kam er auf mehreren ausgedehnten Reisen nach Kalifornien, Australien, Asien und Europa, bevor er auf die Inseln zurückkehrte und verstärkt als Schriftsteller aktiv wurde. Seit 1994 lebt und arbeitet Lemieux – weiterhin auch als Arzt – in Québec.

http://www.droemer-knaur.de

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