Beckett, Simon – Leichenblässe (Hörbuch)

_Im Visier: der Augen-Blick des Todes_

Ein Toter in einer Jagdhütte in den Smoky Mountains, USA. Die Leiche ist bis zur Unkenntlichkeit zersetzt. Sein alter Mentor Tom Lieberman bittet den forensischen Anthropologen David Hunter um Unterstützung. Die Hinweise, welche die beiden Experten finden, sind widersprüchlich. Jemand will David Hunter in die Irre führen, jemand, der viel näher ist, als er glaubt … (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Simon Beckett studierte Anglistik und arbeitet seit 1992 als freier Journalist. Seine Reportagen dienten ihm zum Teil als Grundlage für den Thriller „Die Chemie des Todes“. Insbesondere seine Recherchen auf der sogenannten Body Farm, dem forensischen Trainingslager des FBI, flossen in den Roman mit ein.

Weitere Beckett-Romane:

– [Kalte Asche 4205
– [Die Chemie des Todes 2355
– Obsession (4/09)
– Feuerbrut (10/09)

_Sprecher & Produktion_

Johannes Steck, geboren 1966 in Würzburg, ist Absolvent der Schauspielschule Wien. Von 1990 bis 1996 hatte er Engagements an verschiedenen Theatern. Dem breiten Publikum ist er vor allem aus dem TV bekannt. Er spielte in zahlreichen TV-Serien. Steck arbeitet zudem als Radio-, Fernseh- und Synchronsprecher. Er hat schon zahlreiche Hörbücher gelesen.

Regie führte Lutz Magnus Schäfer, der auch den Text bearbeitete. Die Musik trugen Chris Anderson und Thomas Hien bei. Den Ton steuerte Tobias Pfister.

_Handlung_

David Hunter, der forensische Anthropologe aus London, tritt aus dem Maschendrahtkäfig, in dem die Leiche von Earl Bateman aus Memphis, Tennessee, liegt und friedlich vermodert. Obwohl es noch kühl ist in Knoxvolle am Rande der Smoky Mountains von Tennessee, schwitzt David bereits. Rings um ihn herum liegen Leichen im Unterholz, manche sogar vergraben oder in Autowracks abgelegt. Dies ist die weltweit bekannte Body Farm, die erste von dreien in den USA: Hier studiert das Center für forensische Anthropologie den Verwesungsprozess, um Verbrechen besser aufklären zu können, ganz besonders anhand der Bestimmung des Todeszeitpunkts. Geleitet wird das Institut von Davids Mentor Tom Lieberman. Tom will einen Sensor für den Geruch von Leichen entwickeln, aber von der Theorie bis zur Praxis ist es noch ein weiter Weg.

Tom kriegt einen Anruf vom Tennessee Bureau of Investigations, dem LKA des Bundesstaates: Eine Leiche wurde bei Gatlinburg in den Bergen gefunden. Er nimmt David mit, um ihm ein wenig zur Hand zu gehen. Obwohl David keinerlei offizielle Funktion bei einer Ermittlung hat, darf er als inoffizieller Mitarbeiter von Liebermann die Absperrung am Tatort passieren. Der lokale TBI-Sonderermittler Dan Gardner nimmt die beiden in Empfang, Agentin Diane Jacobson vom TBI assistiert ihm. Der Pathologe Hicks hat vorerst nichts gegen Davids Präsenz einzuwenden, aber das wird sich schon bald ändern.

Die Spurensucher sind in einer der Jagdhütten zu finden, die abgesperrt ist. Von dort dringt bereits infernalischer Leichengeruch nach draußen. Die Leiche selbst ist nackt, aber an Händen und Füßen gefesselt und stark verwest. Und das schon nach fünf Tagen? Das können sich Tom und David nicht erklären. Der grauenerregende Zustand würde eine Verwesung von mindestens doppelt so langer Zeit erwarten lassen. Es könnte sich um den Mieter Terry Loomis handeln.

Der Profiler Prof. Alex Irving hat seinen großen Auftritt und erklärt die Leiche selbstsicher und theatralisch zum Werk eines homosexuellen Serienmörders. Der Tatort wurde offenbar inszeniert. Einwände der Psychologin Jacobson schmettert Irving lächelnd ab. Dann sind seine fünf Minuten Ruhm vorüber und er geht zum nächsten TV-Interview für seinen gerade erschienenen Bestseller über Serienmörder: „Broken Egos“. David kann Irving nicht leiden. Auf einer Filmdose findet sich ein Fingerabdruck, der als der von Willis Dexter identifiziert wird. Aber der ist schon längst tot, oder?

Tom fährt am nächsten Tag mit David zum Bestattungsinstitut Steeple Hill mit angeschlossenem Friedhof. Hier findet die Exhumierung von Willis Dexter statt, der vor sechs Monaten bei einem Autounfall gestorben sein soll. Doch die Leiche im Sarg ist nicht die eines Weißen, sondern die eines Schwarzen, wie David als Erster erkennt. Hat der Bestattungsunternehmer York eine Erklärung für die falsche Leiche? Nein, hat er nicht, und er protestiert heftig gegen jedwede Verdächtigungen. Nun, meint Tom Lieberman, Willis Dexter hat ein todsicheres Alibi, dass er nicht der Mörder von Loomis ist. Aber wo ist dann eigentlich Dexters Leiche?

David hat das bestimmte Gefühl, dass er und Tom an der Nase herumgeführt werden. Alle diese Leichen wurden inszeniert und für sie, die Anthropologen, hergerichtet: präpariert. Und zwar von jemandem mit einer gehörigen Portion Sachverstand. Die Leiche des Schwarzen sticht den forensischen Mitarbeiter Kyle Webster in die Hand, als er sie bewegen will. Sofort besteht die Gefahr einer Infektion, und Tom schickt Kyle zur Behandlung. Beim Röntgen findet er nicht weniger als 13 Nadeln an strategisch fies platzierten Stellen. Sie alle sollten die Leute stechen, die die Leiche handhaben würden. Und dieser Schwarze starb lange vor Loomis: Er war das erste Opfer. Immer weitere Rätsel.

David arbeitet bis spätabends, um Tom Lieberman, der fast 70 ist und an einer Herzkrankheit leidet, zu entlasten. Als er auf den Parkplatz vor der Leichenschauhalle tritt, blendet ihn ein Lichtstrahl aus einer Taschenlampe. Es scheint ein Wachmann zu sein, der ihn da anstrahlt, dessen Gesicht er aber nicht sehen kann. David muss sich ausweisen und darf dann gehen. Komischer Typ, dieser Wachmann. Verstellt auch noch seine Stimme.

Am nächsten Morgen wird Alex Irving, der telegene Professor, von seiner Haushälterin vermisst. Irving führt jeden Morgen seinen Hund, einen Labrador, im Park Gassi, doch die blutige Eisenstange neben der Leiche des Hundes lässt das Schlimmste erwarten. Die Fingerabdrücke auf der Stange gehören jedoch zu einem Berufsverbrecher namens Noah Harper, der seit Monaten vermisst wird. David zählt zwei und zwei zusammen: Noah Harper ist die exhumierte Leiche aus dem Friedhof. Tatsächlich bleibt die Haut an der Hand eines Toten, richtig behandelt, selbst noch Monate nach dem Ableben ihres Besitzers individuell verschieden, so dass sie Fingerabdrücke liefern kann. Als David eine solche Handhaut an seiner Windschutzscheibe findet, fasst er dies als Herausforderung seines Gegners auf.

Dann beginnen weitere Menschen zu verschwinden, ganz in Davids Nähe …

_Mein Eindruck_

Schade, dass ich „Kalte Asche“ noch nicht kenne, denn die Art und Weise, wie David Hunter in „Leichenblässe“ seine Verletzungen, die er in diesem Abenteuer erlitt, beschreibt, lässt darauf schließen, dass die Ereignisse in „Kalte Asche“ sehr traumatisch für ihn gewesen sein müssen. Kein Wunder, dass sein Selbstbewusstsein schwer angeknackst ist. Dass er nur ein Gast an Tom Liebermans Institut ist, lässt man ihn mehrfach spüren. Daher bleibt es nicht aus, dass er Tom vorschlägt, umgehend abzureisen. Zum Glück gelingt es Tom, den Abreisetermin eine Woche hinauszuzögern. Sonst wäre nämlich alles noch schlimmer gekommen (und wir hätten die ganze Action verpasst, menno!).

|Der Moment des Todes|

Diesmal haben es David und Tom mit einem skrupellosen Serienmörder zu tun, der ebenso gut ist wie sie. Er führt sie an der Nase herum und prahlt damit, wie gut er ihr eigenes Handwerk versteht. Er sucht nach Anerkennung von den Besten ihres Fachs. Aber er ist seit seinem 17. Lebensjahr auf einer unheimlichen Mission, die schon zahlreiche Opfer gefordert hat (meist Landstreicher und Prostituierte, die niemand so schnell vermisst): Er will den Augenblick des Todes im Bild festhalten, um herauszufinden, wann die Seele (nach Platon, Aquinus und Kierkegaard, die er alle gelesen hat) den Körper verlässt. Denn der Körper ist nur das Ding und Substrat, in dem sich der Geist bzw. die Seele vorübergehend einnistet, bevor sie wieder in ihr Reich zurückkehren. Seelenwanderung ist ein naheliegender Begriff.

Um den Augenblick festzuhalten, hat er nicht nur eine raffinierte Tötungsvorrichtung gebaut, sondern auch eine Hochleistungskamera aus deutscher Wertarbeit gekauft. Doch trotz all der vielen Opfer ist es ihm offenbar nie richtig gelungen, die Geduld oder die Geistesgegenwart aufzubringen, um exakt jenen wesentlichen Augenblick des Todes festzuhalten. Als David später einem Sterbenden in die Augen blickt, kann er diesen Moment nicht sehen. Ist der Killer also einem Hirngespinst nachgejagt?

Die Idee, dass es diesen Moment gar nicht geben könnte, würde er entrüstet weit von sich weisen, denn er habe ja schließlich diesen Blick erhascht, als eine Frau, die Opfer eines Unfalls wurde, direkt vor seinem Fenster starb. Was könnte sich besser als Studienobjekt eignen als eine Gebärende, die im Augenblick der Geburt stirbt? Bei dieser Vorstellung stellen sich nicht nur Paul Avery und David Hunter die Nackenhaare auf.

|Finale|

Auf die typische Beckett-Weise führt uns der Autor erst in die Irre, um sodann mit voller Wucht zuschlagen zu können. Schauplatz des Showdowns ist ein aufgelassenes Kurbad und Sanatorium am Rande der Smoky Mountains. Es erinnerte mich an Stephen Kings unheimliches Overlook Hotel in „The Shining“. Wie dort verwischen sich im Ex-Sanatorium die Grenzen von Schein und Wirklichkeit, von Leben und Tod. Es ist das ultimative Schlachtfeld, auf dem wirklich alles passieren kann. Hier zeigt sich, wie der Autor uns in die Irre geführt hat, so wie es der Killer auch mit David tut. Das ist ein raffinierter Einsatz der subjektiven Erzählperspektive.

|Stimme im Kopf|

Aber der Autor geht noch weiter. Es ist nicht so, dass wir immer nur so viel wissen wie David, sondern wir erhalten Einblick in die Psyche des Täters. Mit einem Trick wird sie geschildert. Der Autor tut so, als würde das Gewissen des Täters mit seinem Bewusstsein sprechen, sozusagen als besserwisserische und tadelnde zweite Stimme in seinem Kopf. Vielleicht ist der Täter ja wirklich ein wenig schizoid. Es würde uns nicht wundern.

|Der Sprecher|

Wie schon in „Die Chemie des Todes“ legt sich Johannes Steck ins Zeug, um die Figuren zum Leben zu erwecken. Mit den unterschiedlichen Tonhöhen versteht er es, die weiblichen Figuren deutlich von den männlichen zu unterscheiden. Die Assistentin namens Summer spricht höher und wesentlich schneller als jeder Mann in ihrer Nähe. Auch Candy, Sam und Mary reden ganz anders als die „Jungs“. Nur Diane Jacobson, die TBI-Ermittlerin, ist eine Ausnahme von der Regel. Sie ist stets sehr ernsthaft und hat fast die gleiche Stimmlage wie einer ihrer Kollegen.

Zu diesen Kollegen gehört zunächst Dan Gardner, der Leitende Sonderermittler des TBI in Knoxville. Er spricht tief und langsam, wenn er zornig ist, auch etwas grollend. Der Pathologe Hicks klingt wie ein quengelnder kleiner Junge, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Ebenso wenig voll nehmen kann man auch den telegenen Professor Alex Irving. Er liebt es, gelehrt zu dozieren und geschwollen daherzuschwallen, dass man schier den Verstand verliert. Und was er von sich gibt, ist meist hanebüchener Unsinn, und das trägt ihm die Abneigung Davids und Tom Liebermans ein. Der Autor und der Sprecher geben diese Figur ganz klar jeder Kritik preis.

Am sympathischsten sind David Hunter und Tom Lieberman, ganz klar. Doch sie sind nicht unfehlbar, denn wie der Handlungsverlauf zeigt, sind sie doch keine Hellseher. Daher kommt es zur Entführung der hochschwangeren Gattin von Paul Avery, Tom Liebermans designiertem Nachfolger als Institutsleiter der Body Farm. Im Zuge der Suche nach Samantha dreht Paul Avery schier durch. Jetzt läuft der Sprecher zur Höchstform auf. Der Hörer muss sich auf emotionale Ausbrüche gefasst machen. Nicht nur einmal hört man den Sprecher brüllen und rufen, als er Avery darstellt. Mehr darf nicht über das Finale verraten werden. Aber es ist höchst hörenswert.

|Die Musik|

Die Hintergrundmusik, die das Duo Chris und Tom beiträgt, ist stets nur am Anfang einer Szene zu hören und stützt so die Stimmung, die für diese Szene benötigt wird. Daher kann die meist von akustischen Instrumenten produzierte Musik sowohl entspannend wirken, etwa in Davids Hotelzimmer, oder auch dunkel und bedrohlich.

Aber häufiger ist die entspannende, unterhaltsame Stimmung. Akustische Gitarren, eine Country-&-Western-Slide-Gitarre, Mandoline und eine gesummte Melodie sorgen für Auflockerung des mitunter recht grimmigen und grausigen Geschehens. Ob das immer so erwünscht ist, ist natürlich bei jedem Hörer verschieden. Manchmal störte mich die Musik.

Nur am Schluss ist ein Song in voller Länge zu hören. Ich habe die englischen Lyrics kaum verstanden, aber es schien um indianische Motive zu gehen. Etwas merkwürdig in der Landschaft von Tennessee (na ja, da gab’s auch mal Indianer). Geräusche gibt es keine. Das wäre auch zu viel des Guten gewesen.

_Unterm Strich_

Laut Leserstimmen hat es hier der Autor an Originalität fehlen lassen, und bei manchem Leser bzw. Hörer ist deshalb der Wow-Moment ausgeblieben. Das finde ich nicht, aber ich kenne ja auch „Kalte Asche“ nicht. Ich finde den Täter ebenso originell entworfen wie die clever eingesetzten Erzählperspektiven. Auch der Wow-Moment blieb nicht aus: Er stellte sich in der Sanatoriums-Szene ein.

Doch zwei Dinge haben mir gefehlt, um den Thriller zu einem perfekten Buch zu machen. Zum einen fehlt eine Lovestory wie mit Jenny Hammonds (David trauert seiner Ex nach). Auch die Pogrom-Stimmung von „Die Chemie des Todes“ fehlt hier völlig. Na ja, so einen feurigen Pfarrer wie Scarsdale findet man sicherlich selten – obwohl Bischof Williamson, der aktuelle Holocaustleugner, sicherlich gut dafür qualifiziert wäre.

|Das Hörbuch|

Johannes Steck arbeitet so gut wie eh und je, er legt sich wirklich ins Zeug, um die Figuren zum Leben zu erwecken und die unheimliche verdrehte Denkweise des Killers eindringlich darzustellen. Diesmal wird er von Hintergrundmusik begleitet, die ein wenig zu relaxed daherkommt, um ganz mit dem grausigen Geschehen harmonieren zu können. Geräusche gibt es wie stets bei Steck keine.

|Originaltitel: Whispers of the Dead, 2009
Aus dem Englischen übersetzt von Andree Hesse
451 Minuten auf 6 CDs
ISBN-13: 978-3-86610-594-2|
http://www.argon-verlag.de
http://www.rowohlt.de