In Los Angeles wird die Leiche eines vor Jahrzehnten ermordeten Kindes entdeckt. Ein engagierter Polizist weigert sich den Fall zu den Akten zu legen und gerät darüber mit seinen Vorgesetzten und den Medien in Konflikt … – Der achte Harry-Bosch-Roman besticht weniger durch einen verzwickten Plot als durch die quasi dokumentarische Darstellung des modernen Polizeialltags. Im Vordergrund steht die Aufklärung eines Verbrechens, dessen Tragik die genretypischen Verfolgungsjagden und Schießereien weitgehend überflüssig macht.
Das geschieht:
An seinen neuen Fall gerät Hieronymus „Harry“ Bosch, Veteran des Morddezernats der Polizei von Los Angeles, ausgerechnet am Neujahrstag. An einem Steilhang des Laurel Canyons apportierte ein durch das Gebüsch strolchender Hund seinem erstaunten Herrchen einen menschlichen Armknochen. Bosch findet ein Grab, welches das Skelett eines Kindes birgt. Die Untersuchung legt offen, dass es hier schon mindestens ein Vierteljahrhundert gelegen haben muss.
Kindermorde bringen sogar die abgebrühten und ausgebrannten Beamten des LAPD aus dem Gleichgewicht. Dieser Fall ist besonders tragisch, da die Überreste des Opfers – eines Jungen – die Spuren systematischer, sich über Jahre hinziehender schwerer Misshandlungen zeigen. Harry Bosch, der selbst eine schwierige Kindheit als wenig geliebte Waise nie überwunden hat, schwört sich, den Täter zu finden.
Angesichts der verstrichenen Zeit ist dies eine echte Herausforderung. Bosch‘ Vorgesetzte reagieren politisch, d. h. ablehnend: Es gibt genug aktuelle Morde, das Geld ist knapp. Man würde den Fall allzu gern zu den Akten legen. Doch da sei Harry Bosch vor. Er ist ein Mann, der erst richtig aufblüht, wenn ihm der Wind steif ins Gesicht bläst.
Weitere Schwierigkeiten erschweren ihm seine Aufgabe. Da ist Teresa Corazon, die Leiterin des gerichtsmedizinischen Instituts, die um ihrer Karriere willen einen Teufelspakt mit den Medien geschlossen hat. Diese wittern eine lukrative Sensation und weichen Bosch ungern von der Seite. Im Dezernat sitzt ein ‚Maulwurf‘, der die Presse über Polizeiinterna informiert und dadurch die Ermittlungen behindert. Wider Erwarten wird die Spur doch heiß, das Opfer identifiziert. Die Ermittlungen legen eine alte Familientragödie offen, die nun zu neuem Leben erwacht und Leid und Tod über die Angehörigen, aber auch über Harry Bosch und seine neue Lebensgefährtin bringt …
Bosch ermittelt ungewöhnlich friedlich
Der achte Roman der Harry-Bosch-Reihe sorgt zumindest beim erfahrenen Connelly-Leser für Verblüffung. Die bekannten Ingredienzien sind zwar da, aber sie fallen deutlich milder – oder matter – aus als sonst. Im Vordergrund steht der Fall, während die typischen Rangeleien mit alten und neuen Feinden innerhalb des Police Departments fast wie eine Pflichtübung anmuten, nie wirklich bedrohlich erscheinen und meist von Bosch binnen kurzer Zeit abgewehrt werden. Die Verstrickung der Polizei in politische Machtspielchen und Medien-Mauscheleien wird nichtsdestotrotz mit der für Connelly typischen Mischung aus Schärfe und Witz bloßgestellt.
Auch die (obligatorische) Liebesgeschichte fällt recht irritierend aus. Bosch findet endlich wieder eine Freundin, die sich jedoch recht unvermittelt als ziemlich wirr im Kopf entpuppt und einen raschen, fast lächerlichen, ganz sicher aber nicht tragischen Tod stirbt. Was soll das?, fragt der Leser sich; da hat sich Connelly früher wesentlich überzeugendere Privatkatastrophen einfallen lassen!
Harry unter Druck – diese Konstellation trug stets entscheidend zur Intensität der Bosch-Romane bei. Steckt der alte Haudegen bzw. sein Schöpfer in der Krise? Gewisse Ermüdungserscheinungen sind in einer lang laufenden Serie nicht ungewöhnlich. Wollen wir milde urteilen, so gönnt Connelly seinem Harry eine kleine Atempause, bevor er ihn wieder ins Ungewisse stürzt.
Ein Fall voller Tragik
Dieses Mal wird primär ein Fall gelöst. Das geschieht mit beinahe dokumentarischer Sachlichkeit, die dennoch nie distanziert wirkt. Man darf sich nicht täuschen bzw. in den Sumpf des politisch Korrekten ziehen lassen: Dass Kindesmisshandlung ein abscheuliches Verbrechen ist, entschuldigt keinesfalls die allzu verbreitete Dreistigkeit fauler Kriminalschriftsteller, es in Sachen Handlungsführung damit bewenden zu lassen. Connelly schwelgt nicht in abscheulichen Details oder tränenreichen Dramen. Er richtet sein Augenmerk auf die Lawine des Leids, die diese Form des Missbrauchs auslöst, um ihre Opfer darunter zu begraben. Die Täter schwarz & ihre Opfer weiß zu färben, funktioniert aber auch nicht. Connelly macht deutlich, wie perfide sich die Grenzen verwischen können. Die unheilvolle Kraft scheinbar begrabenen Unrechts wird umso deutlicher.
„Kein Engel so rein“ (wie üblich wesentlich besser und vom Verfasser begründet ist übrigens der Originaltitel „Stadt der Knochen“) kann nicht jedes Betroffenheits-Fettnäpfchen vermeiden und gewinnt seinem Thema auch keine neuen Seiten ab. Was bleibt, ist keineswegs der beste Bosch-Roman, aber ein sauber konstruierter Thriller, der über die gesamte Distanz unterhält.
Harry Bosch ist offensichtlich ruhiger geworden. Weiterhin legt er sich mit denen an, die ihm quer kommen bei der einen Sache, die sein Leben bedeutet: die Polizeiarbeit. Er hat sie immer noch nicht über, obwohl ihn die scheinbare Nutzlosigkeit seiner Tätigkeit belastet. Doch dann reißt ihn erneut ein besonderer Fall wie dieser aus der Routine, und erneut beginnt sein Kampf gegen Windmühlenflügel.
Seine Vorgesetzten ärgern sich dieses Mal zwar über ihn, aber sie hassen ihn nicht offen oder wollen ihn gar mit miesen Mobbing-Tricks loswerden. Er wirkt engagiert, aber ansonsten fast abgeklärt, was wir gar nicht von ihm kennen. Sogar privat gibt es einen Lichtblick: Nachdem er mit Frauen mehr als die übliche Ration Pech hatte, findet Bosch eine neue Gefährtin. Selbstverständlich ist es so einfach nicht, denn Julia Brasher ist eine Untergebene und ein Liebesverhältnis per Polizeivorschrift verboten.
Gute Tat mit bösen Folgen
Doch damit wird Bosch noch fertig. Schwer machen ihm dagegen einmal mehr seine Erinnerungen zu schaffen. Dieses Mal lasten nicht die Vietnam-Jahre auf ihm. Der Fall Arthur Delacroix führt ihn zurück in die eigene Kindheit als Waisenjunge. Schon in „The Last Coyote“ (1995; dt. „Der letzte Coyote“) griff Connelly auf diese freudlose Zeit zurück. Offenbar identifiziert sich Bosch mit dem unglücklichen Arthur und lässt deshalb nicht nach in seinem Bemühen, ihn wenigstens vor einem anonymen Armengrab für Treibgut der Wohlstandsgesellschaft zu bewahren.
Aus dem routiniert geschilderten Ensemble ragt sonst vor allem der Pechvogel Trent heraus, der vor vielen Jahrzehnten die Finger nicht von einem kleinen Jungen lassen konnte, seine Strafe vor dem Gesetz abgebüßt hat, nie wieder rückfällig wurde und nun ein zweites Mal verurteilt wird – nicht von seinem ursprünglichen Opfer, nicht von der Justiz, sondern von den Medien, seinen Nachbarn, seinem Arbeitgeber, die ihn in den Tod treiben. Muss man dies bedauern oder begrüßen? Connelly stellt uns vor eine Wahl, die wahrlich nicht leicht fällt.
Die Delacroix’ sind dagegen eine dieser hochgradig kaputten Familien, die besonders der ‚psychologische‘ US-Thriller liebt. Wir haben inzwischen so viele Päderasten-Väter, geprügelte Mütter, saufende Schwestern und geisteskranke Söhne erlebt, dass uns Connellys Neuauflage einer solchen Sippe nicht mehr wirklich nahe gehen kann. Das ist nicht seine Schuld, sondern das Problem eines überstrapazierten Themas.
Das Finale deutet einen Neuanfang an: Bosch wird versetzt, gibt dann sogar seine Polizeimarke ab. Harry Bosch als Privatmann? Kann das angehen? Keine Sorge, das Ende seiner Abenteuer (und Leiden) ist definitiv nicht gekommen – Harry Bosch ermittelt auch im 21. Jahrhundert weiter.
Autor
Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Den Büchern von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf. Nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eine der größten Blätter des Landes, Connelly an.
Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.
Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000) sowie der ungleich erfolgreicheren Serie „Bosch“ (ab 2014). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida.
Taschenbuch: 416 Seiten
Originaltitel: City of Bones (Boston : Little, Brown and Company 2002)
Übersetzt von Sepp Leeb
https://www.michaelconnelly.com
http://www.randomhouse.de/heyne
eBook: 512 KB
ISBN-13: 978-3-426-42585-5
https://www.droemer-knaur.de
Der Autor vergibt: