Michael Connelly – Two Kinds of Truth (Harry Bosch 20)

Undercover-Ermittler Harry Bosch: Absturz ohne Fallschirm

Harry Bosch ist nach seiner Pensionierung teils Reservepolizist, teils Privatdetektiv. Da wird er ins alte Präsidium zitiert. Gemäß einer neuen DNS-Analyse ist Borders, ein mehrfacher, zum Tode verurteilter Mörder, den er hinter Gitter gebracht hat, an einem Mord unschuldig, denn die DNS stammt von einem anderen Serienmörder. Will Bosch nicht alles, was er erworben hat, in einem Prozess verlieren, muss er seine damaligen Ermittlungsergebnisse binnen neun Tagen bestätigen.

Unterdessen ereignet sich in San Fernando, wo er als Reservepolizist arbeitet, ein Doppelmord. Zwei Apotheker mexikanischer Herkunft wurden erschossen. Die Schüsse auf den jüngeren Apotheker lassen Bosch darauf schließen, dass der Schütze, ein bezahlter Killer, eine offene Rechnung beglich. Doch aus welchem Grund?

Der Autor

Michael Connelly, geboren 1956 in Philadelphia, studierte zunächst Journalismus und Kreatives Schreiben in Florida. Anschließend (ab 1980) arbeitete er für verschiedene Zeitungen in Fort Lauderdale und Daytona Beach, wo er sich auf Polizeireportagen spezialisierte. Nachdem 1986 eine seiner Reportagen für den Pulitzer Preis nominiert worden war, wechselte er als Polizeireporter zur „Los Angeles Times“.

Für sein Thrillerdebüt, „Schwarzes Echo“, den ersten Band der Harry-Bosch-Serie, erhielt er 1992 auf Anhieb den Edgar Award, den renommiertesten amerikanischen Krimipreis. Zahlreiche Bestseller folgten, die ihn zu einem der erfolgreichsten Thrillerautoren der USA machten. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Florida. (Verlagsinfo)

Bücher mit Harry Bosch

• 1992 The Black Echo
• Schwarzes Echo, dt. von Jörn Ingwersen; Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1994, ISBN 3-550-06713-5.
• 1993 The Black Ice
• Schwarzes Eis, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1996, ISBN 3-453-10819-1.
• 1994 The Concrete Blonde
• Die Frau im Beton, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1997, ISBN 3-453-12511-8.
• 1995 The Last Coyote
• Der letzte Coyote, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1998, ISBN 3-453-13094-4.
• 1997 Trunk Music
• Das Comeback, dt. von Norbert Puszkar; München: Heyne 1999, ISBN 3-453-14737-5.
• 1999 Angels Flight
• Schwarze Engel, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2000, ISBN 3-453-17858-0.
• 2001 A Darkness More Than Night
• Dunkler als die Nacht, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2002, ISBN 3-453-19611-2.
• 2002 City Of Bones
• Kein Engel so rein, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2003, ISBN 3-453-87417-X.
• 2003 Lost Light
• Letzte Warnung, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2005, ISBN 3-453-43153-7.
• 2004 The Narrows
• Die Rückkehr des Poeten, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2005, ISBN 3-453-01311-5.
• 2005 The Closers
• Vergessene Stimmen, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2006, ISBN 3-453-01431-6.
• 2006 Echo Park
• Echo Park, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2008, ISBN 978-3-453-26560-8.
• 2007 The Overlook
• Kalter Tod, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2008, ISBN 978-3-453-43342-7.
• 2008 The Brass Verdict
• So wahr uns Gott helfe, dt. von Sepp Leeb; München: Heyne 2010, ISBN 978-3-453-26636-0.
• 2009 Nine Dragons
• Neun Drachen, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer Knaur 2011, ISBN 978-3-426-50789-6.
• 2010 The Reversal
• Spur der toten Mädchen, dt. von Sepp Leeb; München: Knaur 2011, ISBN 978-3-426-50790-2.
• 2011 The Drop
• Der Widersacher, dt. von Sepp Leeb; München: Knaur 2014, ISBN 978-3-426-51135-0.
• 2012 The Black Box
• Black Box, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer HC 2014, ISBN 978-3-426-19990-9.
• 2014 The Burning Room
• Scharfschuss, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer HC Dezember 2016, ISBN 978-3-426-28143-7.
• 2015 The Crossing
• Ehrensache, dt. von Sepp Leeb; München: Droemer HC Januar 2018, ISBN 978-3-426-28159-8.
• 2016 The Wrong Side of Goodbye
Noch keine deutsche Übersetzung vorhanden
• 2017: Two Kinds of Truth.
Noch keine deutsche Übersetzung vorhanden

Handlung

Harry Bosch sollte eigentlich im verdienten Ruhestand sein, doch er hat zwei Jobs. Obwohl er nicht bezahlt wird, arbeitet er für das Police Department in San Fernando, eine kleine Nachbargemeinde östlich von L.A., denn nach der Finanzkrise von 2008 wurden zahlreiche Stellen gestrichen. Aber irgendwie muss auch er seine Brötchen verdienen, also arbeitet er noch als Privatdetektiv.

Als in San Fernando ein Doppelmord in einer Apotheke begangen wird, sitzt Bosch gerade in einer lästigen Sitzung mit Polizeibeamten, darunter Lucia de Soto, seiner Kollegin aus „The Burning Room“. Die beamten legen ihm dar, dass er in der Mordsache Danielle Skyler anno 1987, also vor 30 Jahren, einen Irrtum begangen und den falschen Mann verhaftet habe.

Die DNS-Analyse habe einen winzigen Blutstropfen auf Danielles Höschen gefunden, der von einem anderen Serientäter stammte. Dieser Lucas Olmer ist aber schon längst verstorben. Der verhaftete Preston Borders will nun eine Revision des damaligen Schöffenurteils erlangen und im Falle eines Freispruchs Bosch auf Wiedergutmachung verklagen. Die enormen Zahlungen würde Boschs Leben ruinieren – und das seiner Tochter, die mittlerweile aufs College geht.

Bosch seilt sich aus der Sitzung ab. Er hat nur neun Tage Zeit, um seinen angeblichen Irrtum zu erkennen und zu korrigieren oder seine Verhaftung von Borders erneut zu begründen. Da Lucia de Soto ihm verpflichtet ist, lässt sie ihm unter der Hand und ganz anonym die Ermittlungsakte von anno 1987 zukommen. Aber leben die damaligen Zeugen nach so vielen Jahren überhaupt noch?

San Fernando

Die Überwachungsvideos vom Überfall auf die Farmacia Familia in San Fernando sind nicht sonderlich ergiebig. Die beiden Esquivels, Vater und Sohn, werden kaltblütig erschossen. Nur auf einem Bild sieht man, dass einer der maskierten Mörder ein Mann weißer Hautfarbe ist. Und aufgrund des Schusses ins Rektum des jüngeren Apothekers nimmt Bosch an, dass der Schütze den Jungen kannte – und eine Rechnung begleichen wollte. War also der Raub der vielen Medikamente, die die beiden Apotheker selbst zubereiteten, nur ein Vorwand, um eine Racheaktion zu vertuschen? War das ein Hit, ein Auftragsmord?

Der Hinweis des Verbraucherschutz-Ermittlers Jerry, den Boschs SFPD-Kollegin Bella Lourdes („The Wrong Side of Goodbye“) erhalten hat, führt die beiden Ermittler in das benachbarte Pacoima, einen Stadtteil von L.A. Denn Esquivel jr. hatte sich schriftlich bei Jerrys Verbraucherschutzbehörde über einen Klinik in Pacoima beschwert, die offenbar ohne Grund falsche Rezepte ausstellte, um an die Opiate heranzukommen, die sich damit ergattern ließen.

Sie legen sich auf die Lauer und beobachten, wie ein Lieferwagen ein Dutzend ältere Leute vor einem einstöckigen Gebäude ohne Beschriftung auslädt. Zwanzig Minuten später kehren sie zurück, steigen wieder in den Lieferwagen und werden zum nahen Pacoima-Flughafen Whiteman Airport gefahren. Dort steigen sie in eine Cessna, die früher Fallschirmspringer transportierte, und fliegen irgendwohin. Der Fluglotse Ted O’Connor, ein Veteran, erklärt den Ermittlern, dass er offiziell keine Liste der Flüge führen müsste, die hier abgehen und hereinkommen, aber er notiert sich die Nummern der Flugzeuge. Der Pilot sprach mit russischem Akzent. Und die Rechnung fürs Benzin, das er liefert, gehe an eine Adresse in Calexico, nahe der mexikanischen Grenze. Ein guter Anfang.

Die Abzocke

Bevor sie zu Jerry, dem Detektiv, fahren, erklärt Lourdes, wie das beobachtete Pill-Shill-Modell funktioniert. Es geht um falsche Rezepte, falsche Krankenkassenversicherte – die Alten – natürlich um die Rückerstattung der staatlichen Zuschüsse zu den eingelösten Rezepten. Abgezockt wird nur der Steuerzahler (via „Obamacare“), den Reibach machen die Organisatoren des Betrugsmodells, die Cappers und ihre Drogen-Bosse. Jerry stellt sich als der legendäre Jerry Edgar heraus, der frühere Partner Boschs bei der Mordkommission von L.A. Das Wiedersehen ist eine wahre Freude. Und als Bosch auch noch seinen Halbbruder, den Strafverteidiger Mickey Haller, anruft, sieht er auch in der Borders-Sache wieder Licht am Ende des Tunnels.

Jerry Edgar erläutert die Abzocke genau wie Bella, nur etwas detaillierter. Als er von Calexico hört, horcht er jedoch auf und beginnt, Bosch vor dem Kartell, das dort arbeitet, zu warnen: Es handelt sich um eine russisch-armenische Mafia, die keine Gnade kennt, wenn es um Spitzel geht. Ihr Kopf trägt den Namen Santos. Der verhökert das per Pill-Shills eingesammelte Drogengut an die Verteiler in den großen Metropolen, also Chicago usw.

Der DEA-Plan

Es mit Santos aufzunehmen, ist eigentlich die Aufgabe der DEA, also der Bundespolizei für die Drogenbekämpfung. Doch Hovan, der Agent der DEA, den Jerry Edgar empfiehlt, schlägt einen ganz anderen Plan vor, wie das SFPD vorgehen sollte. In der Sitzung schlägt er den erst verblüfften, dann beunruhigten Cops vor, Harry Bosch als Undercover-Ermittler in die Santos-Organisation einzuschleusen. Dazu müsse sich Harry als Oxycodon-Junkie verkleiden. Zum Erstaunen seiner Kollegen ist Harry dazu bereit. Esquivel junior, der Idealist, soll nicht umsonst für seinen korrupten Vater gestorben sein…

Mein Eindruck

Doch Undercover-Arbeit birgt ihre eigenen Gefahren, wie Harry schon bald herausfindet. Beispielsweise kann er darüber nichts seinem Bruder Mickey Haller erzählen, der ihn als Anwalt gegen das LAPD verteidigt. Und er kann seine Tochter Madeleine nicht davon unterrichten, um sie nicht zu beunruhigen – sie genießt gerade ihre Semesterferien. Harry ist auf sich allein gestellt, als er sich mit der russischen Mafia anlegt.

Wieder einmal kombiniert der Autor zwei Fälle, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Doch anders als im Vorgängerband „The Wrong Side of Goodbye“ gibt es diesmal eine kausale Verbindung zwischen den beiden Fällen. Harry ist wieder mal auf einer seiner Missionen für Gerechtigkeit, die er schon von Anfang verfolgt – das macht ihn als Mensch und Cop aus.

Doch diesmal wird er um ein Haar wegen einer externen Information umgebracht, die um jeden Preis hätte geheimgehalten werden sollen, nämlich die Tatsache, dass er vom LAPD und dem Bezirksstaatsanwalt wegen des Borders-Falles verklagt werden würde. Es ist Harrys naheliegender Wunsch, so schnell wie möglich herauszubringen, wer diese Geheiminformation an die Presse hat durchsickern lassen.

Synchronizität

Es ist eine Ironie der Publikationsgeschichte, dass Michael Connelly einen Drogenthriller zur gleichen Zeit veröffentlicht wie Lee Child einen Drogenthriller, in dem Jack Reacher – wie immer – die Hauptfigur spielt. Tatsächlich entrichtet Child sogar eine Art Tribut an seinen Berufskollegen, indem er den Sheriff „Connelly“ nennt. Fehlt nur noch, dass Jack Reacher die Wege von Harry Bosch und Mickey Haller kreuzt. Oder Child will nur eine eigene TV-Show bei Amazon…

Oxycodon und Fentanyl

Wie auch immer: das Thema ist Oxycodon und die sich ausbreitende Drogenseuche in den USA. US-Präsident hat wegen dieser negativen Tendenz sogar den Notstand ausgerufen, um den Ermittlungsbehörden mehr Finanzmitteln gewähren zu können. Oxycodon und das verwandte Fentanyl sind Heroin-Derivate aus der Opiat-Familie. Wer mehr darüber erfahren möchte, der lese Childs Thriller „The Midnight Line“.

Der Leser mag sich darüber wundern, wie einfache Stadtstreicher mithilfe eines gefälschten Rezepts an Oxycodon gelangen können. In den USA gilt Oxycodon offenbar als starkes Beruhigungsmittel, das jeder verschrieben bekommen kann, solange der verschreibende Arzt nur korrupt genug ist. Harry Bosch findet einen solchen Arzt mitten in einem Problemviertel, versteckt in einer Klinik. Hier stößt er auch auf jene drogensüchtige junge Frau, die während seiner Undercover-Arbeit kennengelernt und die ihm geholfen hat, diese Tour zu überleben. Die Frage, warum sie aus einem bürgerlichen leben auf das Niveau eines Junkies gesunken ist, der Sklavenarbeit verrichtet, lässt Harry nicht mehr los – Stoff genug für den nächsten Fall.

Drama im Gerichtssaal

Doch bevor er mit der Undercover-Geschichte abschließen kann, muss Garry erst noch vor Gericht gegen das LAPD siegen. Wie er mithilfe von Mickeys Ermittler, dem Biker Cisco, erfahren hat, stecken zwei hinterhältige Anwälte dahinter. Einer davon war in der Lage, die neu gefundene DNS mithilfe eines korrupten Beamten in der Asservatenkammer zu fälschen. Das ist quasi die ultimative Fake-News. Vor Gericht kommt es zum juristischen Showdown. Und am Ende muss Harry erkennen, dass sein Halbbruder Mickey ein noch viel größeres Schlitzohr ist, als er es je für möglich gehalten hätte. Mickey blufft nicht nur, er manipuliert auch.

Der Autor hat eine enge Freundschaft mit Matthew McConnaughey geschlossen, dem Schauspieler, der in „Der Mandant“ die Figur des Mickey Haller spielte. McConnaughey ist ein waschechter Texaner, und er hat sich mit Connelly offenbar viele Male unterhalten. Es erscheint daher plausibel, dass im LITERARISCHEN Mickey Haller ziemlich vom REALEN McConnaughey steckt. Die Ausdrucksweise Mickeys ist texanisch-lässig und enthält sogar einige Brocken Deutsch („broheim“ = Bruder; von „Oheim“ = Onkel; „broheim“ meint also den älteren Bruder).

Unterm Strich

Bei einer Serie besteht immer die Gefahr, dass die Handlung zu vorhersehbar ist. Diesem Risiko tritt der Autor entgegen, indem er Bosch in eine Lage bringt, in der sich der Vietnam-Veteran noch nie befunden hat: Er arbeitet als Undercover-Cop gegen die Russen-Mafia an der Salton Sea. Auch dass Bosch für eine Mordverhaftung büßen soll, die er vor 30 Jahren vornahm, verdeutlicht, dass selbst einem Cop, der in vermeintlicher Abgesichertheit als Pensionär lebt, immer noch das Schlimmste passieren kann: der Verlust allen Eigentums – und damit einhergehend, der Verlust der Absicherung von Maddies Uni-Ausbildung. (So etwas wie eine gesetzliche Rentenversicherung durch die Regierung gibt es ja in USA bekanntlich nicht. Deshalb rackern sich als Väter beizeiten ab, um die Uni-Ausbildung ihrer Nachkommen zu sichern, indem sie in Aktien und Pensionsfonds investieren.)

Risiken und Nebenwirkungen

Die Handlung braucht lange, bis sie in Fahrt kommt. Der Bosch-Fan kennt mittlerweile jede Bewegung seines Helden im Schlaf und ahnt sie zehn Seiten voraus. Deshalb ist es ein genialer Schachzug des Autors, Bosch mal undercover in der Höhle des Löwen ermitteln zu lassen, stets in Lebensgefahr und ohne Sicherungsleine. Das im letzten Drittel dominierende Gerichtsdrama wartet mit einigen witzigen Wendungen auf, die zu Knalleffekten führen. Doch auch hier geht alles einigermaßen nach Mickey Hallers Meisterplan. Das Erstaunen hielt sich daher bei mir in Grenzen – bis zur Pointe, die hier natürlich NICHT verraten werden darf.

Taschenbuch: 410 Seiten
Sprache: Englisch

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