Cory Doctorow – Pirate Cinema. Jugendroman

Cinema-Hacker in London

Trent McCauley ist sechzehn und ein Genie: Aus dem Internet lädt er sich Blockbuster herunter und bastelt aus dem Material neue Filme. Dass das illegal ist, kümmert ihn wenig. Bis er erwischt wird. In seiner Verzweiflung flüchtet er nach London, in der Hoffnung, dass ihn in der Großstadt erst mal niemand entdeckt. In der Künstler- und Aktivistenszene findet er Unterschlupf – und erfährt, dass die Regierung ein neues Gesetz plant: Selbst kleinste Urheberrechtsverletzungen im Internet sollen mit drakonischen Strafen geahndet werden.

Trent und seine neuen Freunde ahnen, dass dahinter einige mächtige Medienkonzerne stecken, die das Internet zu ihrem Herrschaftsgebiet erklären wollen. Doch da haben sie nicht mit Trent gerechnet, der genau das tut, was er am besten kann: einen Film produzieren, diesmal zum Zwecke der Aufklärung… (Verlagsinfo)

Der Autor

Cory Doctorow ist nach Rowohlt-Verlagsangaben Schriftsteller, Journalist und Internet-Aktivist. Er arbeitete vier Jahre lang für die Electronic Frontier Foundation (EFF). Er wurde 1971 in Toronto geboren und lebt heute in Großbritannien. Aber ich habe die Listen von literarischen Auszeichnungen im weiten Feld der Phantastik durchgeackert und bin mehrfach auf Doctorows Namen gestoßen. So wurde der Roman „Down and out in the Magic Kingdom“, der bei uns als „Backup“ erschien, anno 2004 von den Lesern des einflussreichen LOCUS (SF-) Magazins zum besten Debütroman gewählt. Am besten ist der Autor wohl für seine Little-Brother-trilogie.

Romane

Backup
Upload
Little Brother – Aufstand
Little Brother – Sabotage
Little Brother – Revolution
Wie man einen Toaster überlistet
Makers
Eastern Standard Tribe
Walkaway
Pirate Cinema
For the Win
Und andere.

Handlung

Trent McCauley lebt in der tristen nordenglischen Industriestadt Bradford. Er teilt sich die Wohnung mit seinem Vater Anthony, Mum und seiner jüngeren Schwester Cora, einer richtigen Streberin. Alle sind auf die Nutzung des Internets angewiesen. Cora macht dort ihre Hausaufgaben und liefert bei Mum stets Bestnoten ab. Die kranke Mum erledigt ihren Job im Netz, und Dad versucht alle mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten – die er nur übers Internet findet. Aber was macht Trent da? Er macht ein Mash-up-Video: Sein Held ist Scot Colford. Der Filmstar, der zu Großmutters Zeiten populär war, soll endlich entjungfert werden und zwar von keiner anderen als der lieblichen Monalisa Fiore-Oglethorpe.

Trent hat seinen Clip, den er ins Netz hochstellen wollte, gerade fertig, als es an der Tür klopft. Das kann nichts Gutes verheißen, denkt er. Der Hilfspolizist liest Mum die Leviten und stellt das Internet ab: eine Katastrophe von biblischen Ausmaßen. Für ein ganzes Jahr! Der Horror. Trent nimmt die ganze Schuld auf sich: Er hat illegal Videos heruntergeladen und die Schnipsel zu seinem Mashup zusammengefügt. Diese kreative Leistung wird leider nicht im geringsten gewürdigt. Coras Blicke durchbohren ihn, und Mum und Dad sind verärgert. Trent zieht die Konsequenzen und reißt nachts aus. Nicht ohne seinen Laptop mit dem inkriminierten Video.

London

Sein Weg führt ihn nach London, denn im Norden winkt schon lange keine rosige Zukunft mehr. Nach einer in Glitzer- und Party-City – inklusive seiner Kultstätte Leicester Square, wo alle großen Filmpremieren stattfinden – endet in einem idyllischen Park im Stadtteil Shoreditch, wo ihm der Laptop geklaut wird, als er ein Nickerchen macht. Sein Weg führt ihn zum U-Bahn-Eingang, wo er Jem kennenlernt. Jem ist ein professioneller Obdachloser, der in Trent eine einmalige Chance erblickt. Zuerst bringt er ihm die Grundlagen und das Containern bei. Sie schlagen sich den Bauch voll, und abends fährt Jem mit dem Bus nach Bow, was ganz weit draußen in einem Slum liegt. Jem hat Trents Bedenken und Befürchtungen beiseitegefegt: wenn er ein Kindermörder wäre, würde er ihn mit einem schweren Stein in der Themse versenken.

Besetzt

Endlich geht Jems geheimer Plan auf: Er besetzt einen alten, leerstehenden Pub, der nicht weniger als drei Stockwerke aufweist, plus Keller. Da die Kids des Slums hier ihre Notdurft verrichtet haben, stinkt es drinnen echt übel. Hier ist aufräumen angesagt, aber das Domizil ist besser als die städtische Notunterkunft, wo sich Trent das Zimmer mit acht anderen Männern teilen musste. Doch wozu braucht Jem überhaupt einen Partner, wo er doch das Haus für sich haben könnte? Wegen der Gesetze, die auch für Hausbesetzer gelten, Jungchen. Es müsse immer jemand zu Hause sein. Na, und das wäre dann wohl der Frischling, der hier mal aufräumen und saubermachen könnte.

Und mit Dodger kommt auch ein Elektriker, der den Strom anschaltet, und ein Besuch bei Aiziz, dem Secondhand-Elektrohändler, lohnt sich ebenfalls: Er baut Trent einen überragend schnellen laptop zusammen. Endlich lernt der Junge auch das Innenleben solcher Wunderkisten kennen. Das schöne Leben im Sommer dauert allerdings nur kurz. Weil alle Geräte am Stromnetz hängen, saugen sie – illegal, wie trent erfährt – jede Menge Energiesaft. Das muss ja auffliegen. Eines Tages klopft es an der Tür…

Phase 2: Twenty

Die Flucht gelingt mit knapper Not, doch Jem ist weg. Nach einer Weile zieht es Trent wieder ins Pub zurück: Das neue Vorhängeschloss ist aufgebrochen, wieder stinkt es bestialisch, und der Strom ist weg. Zusammen mit zwei neuen Freunden bringt er das Haus wieder auf Vordermann und geht ins Netz, allerdings nicht im eigenen Haus, sondern über die Anschlüsse des Wohnungen im Wohnghetto nebenan. Wenn man schon den Schaden hat, sollte man auch daraus klug werden.

So kommt es, dass er im Netz eine Community kennenlernt, deren Webseite drei Ebenen aufweist. Auf der innersten Ebene vereinbaren die Mitglieder illegale, ultrageheime Partys, um ihre „Kunstwerke“ zu zeigen. Auf einer dieser Partys, die im Friedhof West Highgate zwischen Gräbern, Eichen und Bombenkratern gefeiert wird, lernt trent die bezaubernde Chefin des Spektakels kennen. Sie nennt sich Twenty-six, für ihre Freunde einfach nur Twenty. Bei ihrem Anblick bekommt Trent seinen ersten Ständer. Höchste Zeit, selbst entjungfert zu werden. Sein neuer Scot-Colford-Clip erntet brausenden Applaus – es sind die besten zehn Minuten seines Lebens, das steht fest.

Anarchisten!

Twenty, sein neuer Schwarm, arbeitet als Buchhändlerin in einer abgelegenen Buchhandlung südlich der Themse. Sie freut sich, ihn wiederzusehen, muss jetzt aber gleich zu einem Meeting der Anarchisten, OK? Er will mitkommen, der er bringt sowieso keine zwei Wörter heraus, ohne sich die Zunge zu brechen. Das Meeting ist ungewöhnlich: Das sind Alt-Punks von anno dunnemals, Grunge-Grufties, Anarchisten und sogar ein oder zwei Parlamentsabgeordnete – von den Grünen.

Annika, eine Ur-Punkerin, führt das Wort. Es geht um ein geplantes neues Gesetz, das die Urheberrechte neu regeln soll: Es läuft auf Raubrittertum durch die Medienmoguln hinaus. Schlimmer noch, die Moguln haben die Abgeordneten in der Tasche und verlangen harte Strafen für illegale Nutzer jeglichen Medienmaterials. Also für Leute wie Trent. Trents eigener Vorschlag, die Abgeordneten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, ruft nur anerkennendes Nicken hervor, aber sonst nichts. Annika setzt auf die Vergrößerung der Aktivistengruppen, aber sonst auf die bisherigen, völlig nutzlosen Instrumente wie Petitionen usw.

Aber bei Twenty findet sein Vorschlag ein nachhaltigeres Echo. Nach einem Zungenkuss, der ein emotionales Erdbeben auslöst, und einem Besuch bei ihren indischen Eltern machen sie sich daran, Trents Gedanken auszuarbeiten und in einer Aktion umzusetzen. Denn Trent befürchtet, dass er nach Verabschiedung des Urheberrechtsgesetzes TIPA früher oder später ebenfalls ins Gefängnis wandern wird, um dort für seine „Untaten“ zu büßen. Wie wichtig die Freiheit des Internets und des Zugangs dazu ist, sieht er an seiner Schwester Cora: Sie bekommt nur noch schlechte Noten, muss in der Stadtbücherei büffeln – und Mum und Dad müssen sich dafür auch noch von Coras Schulrektor einen Anpfiff abholen.

Es ist demütigend – und bedrohlich. Aber muss das sein, wenn selbst persönliche Besuche bei einer Abgeordneten nichts bewirken – denn die Abgeordnete will nicht aus ihrer Partei ausgeschlossen werden. Also muss man außerparlamentarisch vorgehen, oder? Als der nächste Blockbuster in London Premiere feiern soll, kommt Trent eine Idee: Was könnte mal wohl alles mit alten USB-Sticks anstellen, die keiner mehr haben will, sich aber bei Aziz in Kisten stapeln, weil man darauf bloß 32 GB speichern kann? „Hey, Alter, das sind 50 Videos im Format 640×480“, wendet Kumpel Chester ein. Ganz genau…

Mein Eindruck

Wie schon in „Little Brother 1“ steht ein junger Mann mit gefährlichen Neigungen im Mittelpunkt, und eine bunt gemischte Gruppe hilft oder blockiert ihn. Am besten gefiel mir die außergewöhnliche Twenty-Six – Trent erfährt nie ihren Vornamen. Sie trägt einen Irokesenkamm, jede Menge Tattoos und ist ebenso intelligent wie eigensinnig. Das macht müde Männer munter! Und dass ihre Eltern ebenso innovativ drauf sind, schadet Trent nicht. Ihr Vater ist Rechtsanwalt und braut sein Bier selber, seine Frau Amira hat die – neben der Queen – wohl größte Privatbibliothek der Welt. Das ist ein ganz anderes soziokulturelles Umfeld als in Bradford, wo Mum und Dad sich durchschlagen.

Die größere Welt

London ist praktisch ein anderer Kontinennt. Nicht nur die Obdachlosen wie Jem sind ganz anders drauf, sondern auch das Establishment, sei es nun wirtschaftlich (Hausmakler) oder politisch (Abgeordnete). Trent kleidet sich nun „modisch“ und einfallsreich, aber dass diese Location auch ihre Tücken hat, erfährt Trent, als er seine Aktion mit den USB-Sticks durchzieht: Die Londoner auf dem Leicester Square sind viel zu misstrauisch und durch bittere Erfahrung vorsichtiger als Leute etwa in Bradford. Aber die Mashups finden ihren Weg zu den entscheidenden Internetkanälen…

Schräge Hüte

Dass die Handlung in der nahen Zukunft spielen könnte, ahnt der Leser, als die Sprache auf die Laserhüte kommt. Trent entdeckt an Touristen aus Deutschland, dass diese große Hüte tragen, die mit kleinen grünen Lasern und Spiegeln bedeckt sind. Der Zweck: Sie sollen Moskitos fernhalten, die das tödliche West-Nil-Virus verbreiten. Um sich gegen versehentliche Laserstrahlen zu wappnen, tragen die Touristen Sonnenbrillen mit Spezialbeschichtung.

Diese technokulturelle Innovation bringt Trent ganz langsam auf die rettende Idee: Man müsste die Mashup-Film per Laser oder so über Spiegel auf lohnende Ziele umlenken, so dass einem die Bullerei nicht so schnell auf die Spur kommt. Eines der lohnendsten Ziel wäre natürlich das Parlamentsgebäude an jenem Tag, an dem die entscheidende Abstimmung über den Anti-TIPA-Gesetzentwurf stattfinden soll. Doch um dies zu schaffen, müssen sich Trent, Twenty und die nächsten Freunde in höchste Gefahr begeben: Arm und Auge des Gesetzes lauern überall. Dieses gewaltige Finale krönt die Handlung. Ich konnte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen.

APO oder was?

Tun Trent und seine wachsende Anhängerschaft etwas Illegales, lautet die entscheidende Frage. Wenn es nach den fettes Label- und Studiomanagern geht, die hier auftreten, muss die Antwort in einem brüllenden JA bestehen. Dementsprechend wird das TIPA-gesetz durchgepeitscht, von Volksvertretern, die sich von der Industrie großzügig bestechen lassen (so wie Boris Johnson von einem Hersteller von Baumaschinen). Aber wo bleibt dann die künstlerische Freiheit?

Um sich ihr Recht zu erstreiten, gehen Trent und Co. erst zur rechtschaffenen Volksvertreterin in Twentys Wahlbezirk. Sie kann nichts gegen die allmächtige Parteidisziplin ausrichten, also der Zwang, nicht gegen die Beschlüsse der korrupten Parteispitze zu stimmen. Weil Trent einen echten Horror vor dem Knast hat – sein Freund wird dort verprügelt, weil er schwul ist – wendet er sich an die Vertreter der Justiz. Auch in diesem Dickicht Posten und Pöstchen finden sich korrupte Köpfe, etwa auf der Seite der Staatsanwaltschaft. Aber Twentys Vater ist Anwalt und kennt wieder Anwälte, die Verständnis mit Kreativen haben. Wie der Prozess ausgeht, darf hier nicht verraten werden. Aber dass sich Trent überhaupt freiwillig an ein Gericht wendet, teigt wohl, dass er mit Außerparlamentarischer Opposition (APO) nichts am Hut hat.

Die Übersetzung

Die Übersetzung durch Oliver Plaschka, der selbst Schriftsteller ist, liest sich authentisch, denn er verwendet die deutsche Jugendsprache glaubwürdig und passgenau. Jedenfalls die von 2014. Das macht nicht nur viel Spaß beim Lesen, sondern lässt die Figuren plausibel erscheinen.

S. 93: kein Fehler, aber witzig: „Wer hätte gedacht, dass Lehrer so schlau sind?“

S. 166: Der ganze Satz steht im Dativ: „Weder über die hohen Tiere[n] bei den Studios und Labels…“ Das N ist überflüssig.

S. 495: DRM – wird nicht erklärt. DRM ist Digital Rights Management und somit Big Brother.

Unterm Strich

Ich habe den 500-Seiten-Roman wider Erwarten in nur wenigen Tagen bewältigt. Nicht nur macht es gewaltigen Spaß, Trents Entwicklung und Werdegang binnen eines Jahres mitzuverfolgen, sondern auch seiner wilden Romanze mit Twenty beizuwohnen. Er tut beides nicht für sich selbst, sondern um seiner eigenen und Twentys Familie zu helfen – und umgekehrt.

Zunehmend steht mehr für die beiden auf dem Spiel, und eines Tages reicht es nicht mehr, vor Gericht zu ziehen, sich der Polizei zu entziehen oder bei Anwälten gehör zu finden – es muss eine große, aufrüttelnde Aktion her. War schon die Geschichte bislang beklemmend, so überbietet dieses Finale den Rest an Spannung um Längen. Gewisse Erfindungen wie die Laserhüte erscheinen futuristisch, aber wer war denn schon seit 2019 im Brexit-& Corona-London? Sehr viel weniger Touristen als 2014, würde ich annehmen. Solche Einfälle zusammen mit den witzigen Kurzfilmen Trents machen den zusätzlichen Reiz des Buches aus. Der Titel „Pirate Cinema“ ist durchaus gerechtfertigt.

paperback: 510 Seiten
O-Titel: Pirate Cinema, 2012;
Aus dem Englischen von Oliver Plaschka
ISBN-13: 9783453267534
www.heyne.de

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