Cory Doctorow – Wie man einen Toaster überlistet. Novelle

Salima – Hackerin mit Gewissen

Nach vielen Jahren in Flüchtlingsheimen und Notunterkünften kann Salima endlich in ein Hochhausapartment umziehen. Das Gebäude ist zwar neu, aber damit fangen die Probleme erst an: Der intelligente Toaster gibt auf einmal den Geist auf und nimmt nur noch das Brot der Toastermarke an. Dann fällt der Kühlschrank aus. Als Salima feststellt, dass selbst der Fahrstuhl die ärmeren Mieter benachteiligt, fasst sie einen Entschluss. Es muss doch einen Weg geben, sich in die Haushaltsgeräte zu hacken und sie wieder frei verfügbar zu machen! Gesagt, getan … (Verlagsinfo)


Der Autor

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Aktivist. Er wurde 1971 in Toronto geboren und lebt heute in London und im weltweiten Netz. Man finde ihn unter der Adresse www.craphound.com. Aber ich habe die Listen von literarischen Auszeichnungen im weiten Feld der Phantastik durchgeackert und bin mehrfach auf Doctorows Namen gestoßen. So wurde sein Roman „Down and out in the Magic Kingdom“ (dt. “Backup”) anno 2004 von den Lesern des einflussreichen LOCUS (SF-) Magazins zum besten Debütroman gewählt.

Doctorow ist Mitherausgeber des Blogs „Boing Boing“, ehemaliger Europadirektor der Electronic Frontier Foundation und Mitgründer der UK Open Rights Group. Sein Roman „Little Brother stieg direkt in die New York Times Bestsellerliste ein.

Handlung

Salima stammt ursprünglich aus dem Bürgerkriegsland Libyen, schaffte es aber als Flüchtling übers gefährliche Mittelmeer. Als sie endlich in einem Lager in Arizona, USA, angelangt ist, muss sie warten, bis sie eine richtige Wohnung zugeteilt bekommt. Heute ist der große Tag! Sie darf nach Boston, Massachusetts, ziehen und bekommt dafür ein Überlandbus-Ticket geschenkt. Die Fahrt dauert indes an die drei Tage, und das neue Domizil liegt in einem ausgeräumten Einkaufszentrum, in dem es stinkt. Sicherheit sieht anders aus.

Nur weil eine andere Flüchtlingsfrau, die Somalierin Nadifa, ihr hilft, bekommt Salima eine Wohnung für sich allein. Der Zugang gestaltet sich etwas schwierig: Es gibt zwar Aufzüge in diesem Haus mit 34. Stockwerken, aber nur die hinteren sind für „asoziale“ Migranten vorgesehen, und die funktionieren entweder fast nie oder nur in großen Abständen. Die vorderen, von der Security wohlbewachten Aufzüge sind für die betuchten Vollzahler reserviert und fahren mit Vorrang. Die Wohnungen von Nadifa mit ihren drei Kindern und von Salima sind natürlich subventioniert. So sieht also eine zwei-Klassen-Gesellschaft aus.

Befreiungsaktion

Salima betätigt sich als Buchhalterin, um ein Zubrot zu verdienen. Ihre Freundin Nadifa übt weiter ihr Schneiderhandwerk aus. Doch nacheinander stellen die Haushaltsgeräte den Dienst ein. Es sind smarte Geräte, die mit der IT ihres Herstellers verbunden sind. Als die Hersteller Boulangism und Disher in die Insolvenz gehen, um sich vor Gläubigern zu schützen, stehen auch ihre Geräte auf der ganzen Welt still. In Salimas XXL-Schuhschachtel kehrt eine ungewohnte Stille ein.

Salima steht vor der Aufgabe, den Toaster zu überlisten, der nur Brot von Boulangism akzeptiert, sowie die Geschirrspülmaschine von Disher, die ebenfalls recht anspruchsvoll ist. Auch der Kühlschrank schweigt wie Dornröschen. Aber sie findet heraus, dass es im Darknet Entsperrcodes gibt. Diese auf einen USB-Stick zu kopieren und damit das Gerät zu rebooten, ist ein Sache von Minuten. Jetzt kann sie beliebige Brotteige und Spülmittel verwenden. Allerdings steht im Kleingedruckten des Mietvertrags, dass es untersagt sei, die Geräte irgendwie zu verändern. Im Handumdrehen ist Salima eine Kriminelle geworden. Bei Entdeckung droht ihr die Ausweisung.

Freiheit für alle

Allerdings haben Nadifa und all die anderen Familien auf der Gebäudeseite der „Asozialen“ das gleiche Problem. Wie kann sie ihnen die Hilfe verweigern, die sie für sich selbst in Anspruch genommen hat? Sollen Nadifas drei Kindern vielleicht verhungern? Deren ältester Sohn Abdirahim ist ein schlauer, aufgeweckter Bursche, der sofort kapiert, welcher Segen die Entsperrcodes für die vielen smarten Geräte wären. Zunächst entsperrt er mit Salima nur die Geräte auf ihren beiden Stockwerken (30. und 34.), dann aber geht die Befreiung weiter.

Unversehens fallen die Einnahmen der Gebäudeverwaltung, die den Teig, das Spülmittel usw. zu überhöhten Preisen verkauft hat, ins Bodenlose. Das muss irgendwann auffallen, beginnt sich Salima Sorgen zu machen. Und als Abdirahim auch die allgegenwärtigen Kameras mit Gesichtserkennung hackt und die Priorität der Aufzüge umprogrammiert, beginnen die Änderungen auch in der realen Welt aufzufallen.

Alarmstufe Rot

Schreckliche Neuigkeiten: Boulangism kehrt bald zurück ins Geschäft! Den Nutzern der befreiten Smart-Geräte bleibt nur noch eine Galgenfrist, bis ihre Missetaten von den Überwachungsprogrammen des Herstellers aufgedeckt werden. Das Leben beginnt für Salima in Stress auszuarten. Sie muss Hunderte von befreiten Geräten in den Urzustand zurückversetzen, gleichzeitig ihren Job machen und obendrein Kontakt mit Boulangism aufnehmen, um herauszufinden, wie hoch die Gefahr ist.

In der jungen Softwaretesterin Wyoming King findet Salima per „Zufall“ eine Boulangism-Mitarbeiterin, die ein Herz hat und ihr schließlich den Schlüssel zur Lösung ihres Problems rüberschmuggelt. Das Zauberwort lautet „Virtuelle Maschine“…

Mein Eindruck

Dies ist kein Geek & Hacker-Roman. Wie schon in seinem Bestseller „Little Brother“ geht es nicht um Bits & Bytes, sondern um Freiheit, die man sich nehmen muss, will man ein menschenwürdiges Dasein führen. Das artet aufgrund der technologischen und juristischen Möglichkeiten der Hersteller häufig in sogenannte „Verbrechen“ aus. Wie man an Konzernen wie Google (auch ein Smart-Gerätehersteller), Facebook, Amazon und anderen ablesen kann, nehmen sie sich Fragwürdige Freiheiten heraus und machen Menschen unzulässige Vorschriften, einfach WEIL SIE ES KÖNNEN.

Selbstversuch

Ein Beispiel: Ich habe aus der Not heraus auf die Schnelle einen Inkjet-Drucker von HP gekauft. Seitdem zahle ich monatlich zehn Euro für die überwachte Nutzung und dafür, dass ich ausschließlich HP-Druckertinte verwenden kann, welche mir HP aufgrund der überwachten Bedarfsermittlung zuschickt. Genauso ergeht es Salima und ihren „Komplizen“. Habe ich inzwischen die nötigen Entsperrcodes für den Jailbreak besorgt? Unautorisiertes Drucken – geht doch gar nicht!

Salima ist unsere Kämpferin für die Freiheit, deren Kampf aus der Not geboren wird: Wie soll sie Brot backen, wenn der Toaster streikt? Gleiches gilt für die Mikrowelle, den Geschirrspüler, die Waschmaschine und den Fernseher – alle sind smart, alle sind Instrumente der Ausbeutung und Überwachung. Das Empörende: Als wären die Migranten aufgrund des Erlittenen nicht eh schon zu bedauern, werden sie nun auch noch von der Wirtschaft ihres Gastgeberlandes gnadenlos ausgebeutet. Das gilt auch für Kinder.

Ein nahezu unwiderstehliches Angebot

Salima muss fortwährend moralische Entscheidungen treffen, und nimmt diese nicht auf die leichte Schulter. Als also Die Firma Boulangism mit Wyomings Hilfe entdeckt, dass Salima mit ihrem Jailbreak eine Pionierin der „Befreiung“ von Smart-Geräten ist, bietet die Marketingabteilung ihr an, sie nicht nur als – gut bezahlte – PR-Galionsfigur vorzustellen, sondern ihr und ihren Freunden einen Rabatt für die Gerätenutzung zu gewähren – sie werden „Affiliates“. Ist doch ein faires Angebot, oder etwa nicht?

Salima stellt (ab S. 144) nur eine Gegenfrage: Warum sollte sie trotzdem weiterhin für Ausbeutergeräte zahlen, wenn sie diese doch eh schon kostenlos benutzen kann? Sie würde ja einen Schritt zurück machen und sich dann auch noch gegenüber der Öffentlichkeit als Verbrecherin offenbaren. Die beiden Herren, denen Wyoming anfangs begeistert sekundiert, haben darauf eine Antwort: Stillschweigend senden sie ihre Schergen vom Sicherheitsdienst der Gebäudeverwaltung aus. Endlich zeigt der Wolf seine Zähne…

Die Übersetzung

Die Übersetzung war sicher nicht leicht, denn vielfach geht es doch moderne IT-Phänomene, vom USB-Stick über das Darknet bis zur Virtuellen Maschine (VM). Die Jugend kennt sich damit indes bestens aus, so dass an keiner Stelle Fußnoten geliefert werden.

S. 15: „Apfelschlitz“. Gemeint ist nicht etwa ein Schlitz in einem Apfel, sondern eine Schnitte von einem Apfel, andernorts als „Apfelschnitz“ bekannt. Mit Pfannkuchenteig überbacken, ergibt das superleckere Apfelküchle.

Unterm Strich

Ich habe für diese Novelle nur wenige Stunden gebraucht. Selbst mit rund 170 Seiten eignet sich das Buch für die Mittagspause, denn es liest sich fast von alleine. Dabei lässt es die Geschichte über „unautorisiertes Brot“ keineswegs an Tiefgang vermissen: Sie besteht nicht nur aus Dialogen oder Produktbeschreibungen, sondern aus unzähligen Überlegungen, die das ethische Dilemma, in das Salima gerät, ausloten.

Sie ist indes keine allein kämpfende Heldin à la Marianne, der Heroine der Französischen Revolution, sondern eine Zweiflerin, die aus Not entschlossen vorgeht und dabei ein „Verbrechen“ nach dem anderen begeht. Darf sie die anderen Bewohner des Hochhauses mit hineinziehen oder ist es ihre moralische Pflicht, ihnen zu helfen? Wie der O-Titel schon sagt: Es geht um ein Grundnahrungsmittel: Brot. Der Toaster ist der Zugang dazu: Darf man ihn wirklich knacken, fragt der Autor.

Zielgruppen

An keiner Stelle wird übrigens erwähnt, dass Salima und Nadifa eine andere Hautfarbe haben könnten als etwa Wyoming. Der Leser muss also mitdenken und sich seinen Teil vorstellen. Alle Bücher dieses Autors sind für intelligente junge Leute gedacht. Jason-Bourne-Fans werden woanders besser versorgt. Was dieses und alle anderen Bücher des Autors auszeichnet, hat der Whistleblower Edward „Citizenfour“ Snowden zusammengefasst: „Cory Doctorow erinnert uns daran, dass die Zukunft, für die wir uns entscheiden, auch die ist, in der wir leben werden.“

Der Preis

Natürlich könnte man sich als Smartphone-Jockey fragen, warum man 12 Euronen für ein Buch hinblättern sollte, das noch nicht mal den Umfang eines Romans hat. Deshalb gibt es das Buch als E-Book im Heyne-Webshop www.diezukunft.de: 9,99 EU. Der Kindle-Preis liegt ebenfalls bei 9,99 EU.

Hardcover: 175 Seiten
Originaltitel: Unauthorized Bread, 2018
Aus dem Englischen von Jürgen Langowski
ISBN-13: 9783453320154

www.diezukunft.de

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