Edgar Pangborn – Gute Nachbarn und andere Unbekannte. Neun utopische Kabinettstücke

Schräge Vögel in der Provinz und anderswo

„Edgar Pangborn stellt das Seltsame dem Alltäglichen gegenüber und reißt den leser hinein in eine neue, kaum veränderte Wirklichkeit. In allen [neun] Erzählungen bleibt er mit beiden Füßen auf der Erde, und doch enthält jede ein gerüttelt‘ Maß an gespenstischer, ironischer und mitunter mystischer Magie.“ (erweiterte Verlagsinfo)

Der Autor

Edgar Pangborn wurde am 25.2.1909 in New York geboren, studierte in Harvard Musik, wurde Schriftsteller und starb in New York City am 1.2. 1976.

Er war ein US-amerikanischer Autor, der Mystery, Science-Fiction und historische Romane schrieb. Pangborn stammte aus einer literarisch vorbelasteten Familie: Seine Mutter, Georgia Wood Pangborn, war Autorin von Gespenstergeschichten, die in Zeitschriften wie Scribner’s, Harper’s Magazine und The Woman’s Home Companion erschienen. Sein Vater, Harry Levi Pangborn, war Mitarbeiter beim Wörterbuch Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary.

Zusammen mit seiner älteren Schwester Mary wurde Edgar bis 1919 zu Hause unterrichtet und besuchte anschließend die Brooklyn Friends School der Quäker. Im Jahre 1924 begann er ein Studium der Musik an der Harvard University, schied aber 1926 ohne Abschluss aus. Anschließend studierte er am New England Conservatory of Music, gleichfalls ohne Abschluss. Beim Ausscheiden bekundete er öffentlich seinen Abschied von der Musik und verlegte sich aufs Schreiben.

Für seinen Roman „Der Beobachter“, der sowohl sowohl poetische Prosa als auch leidenschaftliches Plädoyer für die menschliche Rasse darstellt, erhielt er 1955 den „International Fantasy Award“. Seine frühe Novelle „Angel’s Egg“ aus dem Jahr 1951 wird bis heute nachgedruckt, und mit „Davy“ schuf er einen Klassiker des Post-Holocaust-Untergenres.

Der DAVY-Zyklus:

1) Ein glorreicher Haufen (The Company of Glory, 1975, dt. 1985 bei Heyne)
2) Davy (Davy, 1964, dt. Bei Heyne)
3) Die Prüfung (The Judgment of Eve, 1966, dt. 1979 bei Heyne)

Tales of a Darkening World / Davy

• The Golden Horn (1962, Kurzgeschichte)
• A War of No Consequence (1962, Kurzgeschichte)
• Davy (1964, Roman)
o Deutsch: Davy. Heyne SF&F #3593, 1978, ISBN 3-453-30499-3.
• The Judgment of Eve (1966, Roman)
o Deutsch: Die Prüfung : Ein klassischer Science-fiction-Roman um eine menschliche Frage. Übersetzt von René Mahlow. Heyne SF&F #3637, 1979, ISBN 3-453-30549-3.
• Tiger Boy (1972, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Tiger Boy. In: Tiger Boy. 1986.
• The World Is a Sphere (1973, Kurzgeschichte)
• My Brother Leopold (1973, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Mein Bruder Leopold. In: Tiger Boy. 1986.
• The Freshman Angle (1973, Kurzgeschichte)
• The Company of Glory (1974, Roman)
o Deutsch: Ein glorreicher Haufen. Übersetzt von René Mahlow. Heyne SF&F #4166, 1985, ISBN 3-453-31124-8.
• The Children’s Crusade (1974, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Der Kinderkreuzzug. In: Tiger Boy. 1986.
• The Legend of Hombas (1974, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Die Legende von Hombas. In: Tiger Boy. 1986.
• The Night Wind (1974, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Der Nachtwind. In: Tiger Boy. 1986.
• The Witches of Nupal (1974, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Der Hexer von Nupal. In: Tiger Boy. 1986.
• Harper Conan and Singer David (1975, Kurzgeschichte)
o Deutsch: Harfner Conan und Sänger David. In: Tiger Boy. 1986.
• Mam Sola’s House (1975, Kurzgeschichte)
• Still I Persist in Wondering (1978, Sammlung)
o Deutsch: Tiger Boy. Heyne SF&F #4283, 1986, ISBN 3-453-31293-7.

Andere Werke:

1) Der Beobachter (A Mirror for Observers, 1955, dt. bei Heyne)
2) Westlich der Sonne (West of the Sun, 1953, dt. 1989 bei Heyne)
3) Gute Nachbarn und andere Unbekannte (Good Neighbors and Other Strangers, Stories, 1972, dt. 1973 bei Goldmann )
4) Tiger Boy (Still I Persist in Wondering, Stories, 1978, dt. 1986 bei Heyne)

Die Erzählungen

1) Gute Nachbarn (Good Neighbors)

Das Schiff der Aliens ist riesig, und obwohl es 3400 Meilen hoch fliegt, fällt sein Schatten doch unzweifelhaft auf Seattle. Die Luftwaffe wird alarmiert und verfolgt jede Bewegung des UFOs, doch sie kommt zu spät , um zu bemerken, dass sich aus dem Raumschiff entfernt hat. Es wird erst bemerkt, als schon über St. Louis auftaucht und mit dem Wind ostwärts getrieben wird: Es ist mit aufblasbaren Luftsäcken und zwei großen Flügelohren versehen, quasi ein Dumbo von den Sternen.

Da es nirgendwo landen will, ergeht die Order, es nicht zu behelligen, bevor es die Ostküste überquert habe, dann könne man es gefahrlos abschießen. Doch just als es sich über New York City befindet, überkommt einen der Jetpiloten ein unbezwingbarer Drang, das fremde Vieh abzuknallen und eröffnet das Feuer. Das meilengroße Wesen knallt mitten in Manhattan zu Boden und richtet erheblichen Schaden an.

Er wird zwar vor Gericht gestellt, aber das bringt auch nichts. Später trifft im Weißen Haus ein gefälschte 5-Dollar-Banknote ein, die von einer schriftlichen Entschuldigung begleitet wird: Offenbar handelt es sich bei dem überdimensionalen Dumbo um ein entschlüpftes Spieltier eines der Kinder an Bord des UFOs…

Mein Eindruck

Mit Kanonen auf Spatzen schießen, das scheint hier die anzuprangernde Fehlreaktion der Menschen zu sein. Aus lauter Angst vor größeren Lebewesen wird selbst ein Spielzeug bzw. Haustier der Aliens für eine tödliche Bedrohung gehalten. Und die Aliens? Sie bezahlen mit einer gefälschten Fünfdollarnote, denn offensichtlich ist ihnen so ein Spieltier nicht mehr wert.

Das alles hilft den Bewohnern von Manhattan in keinster Weise, als das meilengroße Spieltier auf sie herabstürzt und ganze Wohnblocks unter sich begräbt. Sie sind Kollateralschaden in einem dummen Spiel, das über ihren Köpfen stattgefunden hat.

2) Ein besseres Mauseloch (A Better Mousehole)

Al, der Barkeeper, erzählt, wie ihm der proletarische Schnabel gewachsen ist. In seiner Kneipe sitzen heute Abend Richter Van Anda, zudem Dr. West, der Bücherwurm und Hobbyforscher, und schließlich ein Handelsvertreter und, wie immer, Lulu, die etwas mit einem dieser drei Herren hat, für die aber auch Al einiges übrighat. Leider ist er seit 20 Jahren mit Irma verheiratet, die ständig an ihm rumnörgelt.

Jedenfalls erzählt heute Dr. West – er muss schon einiges intus haben – endlich davon, wie er diese blaue Kugel irgendwo in der nördlichen „trostlosen“ Tundra gefunden und nach Hause gebracht habe. Dort habe sich die „Sphäre“, jawoll, in zwei Hälften gespalten, doch die Hälften hätten sich dann auf rätselhafte Weise verdünnisiert. Wie auch immer: Inzwischen sind alle von den blauen Käfern gebissen worden. Die Käfer saugen zwar das Blut, bringen aber auch schöne Träume, die friedfertig stimmen. Was die zwei jüngst verübten Verbrechen umso mysteriöser macht.

Al, der Barkeeper, weiß genau, wovon die Rede ist. Schließlich kommen die Käfer allnächtlich direkt aus dem Mauseloch hinter der Bar. Nach der Polizeistunde hat er zusammen mit Dr. West eine nahezu geniale Idee: Wie wär’s, wenn sie zusammen endlich auch die nörgelnde Kratzbürste Irma den Käfern aussetzen würden, hä? Gesagt, getan. Doch das Ergebnis fällt leider anders aus als erhofft…

Mein Eindruck

Zuerst könnte man meinen, dass die blauen Alien-Käfer, die Dr. West eingeschleppt hat, ein Symbol für Drogen seien, die schöne Träume bringen. Aber ganz so einfach ist es nicht, so fehlt beispielsweise die komplette Logistik, um Drogen unter den Menschen zu verteilen. Nein, die blauen Käfer haben sich in den Häusern der Menschen eingenistet – daher das titelgebende Mauseloch – und sind bislang noch nicht vertrieben worden.

Das stellt die Frage nach dem Grund. Warum sind angenehme Träume den Käferfreunden so wichtig, obwohl sie, die Menschen, dafür ihr Blutgeben müssen? Es kann nur daran liegen, dass die Träume so wichtig geworden sind, dass sie die widerwärtige, Unlust erzeugende Realität verdrängen helfen. Auch Dr. West ist wie Al ein solcher Träumer. Doch manche Menschen wie Irma reagieren allergisch auf Träume – und bezahlen einen hohen Preis, wenn sie von den Traumkäfern gebissen werden.

3) Langzahn (Longtooth, 1970)

Ben Dane, der Sohn eines Richters in Darkfield, Maine, USA, berichtet von den unheimlichen Begebenheiten, die sich während eines üblen Schneesturms ereigneten. Er hatte den Wunsch seines früheren Schulkameraden Harper Ryder erfüllt, ihm ein Buch aus der Stadtbibliothek zu besorgen, denn Harp hat als knausriger Farmer selbst keinen fahrbaren Untersatz, Ben aber schon. Weil ihm der Schneesturm aber die Sicht nimmt, fährt er den Wagen eine meile vor Harps Bauernhof in den Graben und muss den Rest laufen. Dort stößt er auf eine merkwürdig angespannte Stimmung.

An der Tatsache, dass Harp mit et Leda verheiratet ist, die 30 Jahre jünger ist als er, kann es wohl nicht liegen. Aber Leda hat Angst um ihren Mann, der nun erst ein wenig auftauen muss, bevor er Ben berichten kann, was passiert ist. In letzter Zeit werde sein Hof von einem Raubtier belagert, das auf zwei Beinen gehe. „Kein Bär“, versichert Harp, aber so etwas ähnliches. „Und es hat lange Zähne, die es mir auf der Jagd zeigte“, sagt Harp. Schon eine gute Kuh und acht fette Brathühner habe ihm dieses Vieh geraubt. Das ist ein herber Verlust für einen armen Farmer.

Sie hören einen unheimlichen Schrei. „Es ist Langzahn“, flüstert Harp und eilt zu seiner Flinte. Als im Obergeschoss ein krach ertönt, eilen sie beide die Treppe hinauf. Das Fenster ist zerbrochen und der Hund getötet worden – und von Leda keine Spur. Offenbar hat das Wesen die schöne Frau geholt; zu welchem Zweck, mögen sich Ben und Harp lieber nicht ausmalen. Zusammen wollen sie bewaffnet der Spur von Langzahn in die dunklen, weiten Wälder Maines folgen. Doch im ersten Anlauf kommen sie nicht weit: Der alte, herzkranke Ben bricht flieht schon nach drei Schritten vor dem Schneesturm nach drinnen, und Harp kehrt nach einer Stunde ergebnislos zurück.

Sheriff Robart verdächtigt Harp, seine Frau um die Ecke gebracht zu haben und sucht nach deren Leiche statt nach dem Wesen. Ben bittet um Rat bei einem Biologen und Psychologen, aber keiner kommt mit dem Unbekannten zurecht, sondern wiederholt nur, was sich Ben eh schon gedacht hat. nach einer Woche ist die Straße frei, und nach einer Stärkung daheim wagt es Ben, erneut zu Harps Hof hinauszufahren. Es ist ein Wunder, dass Harp nicht schon längst eingebuchtet worden ist: Nur weil Ledas Leiche fehlt.

Zusammen brechen sie erneut auf, und nach zehn Meilen entdecken sie nicht nur eine Spur, sondern riechen einen ekligen Gestank, der aus einer Schlucht emporsteigt. Harp berichtet, dass in der Wand der Schlucht Höhlen zu finden wären, in der so ein Wesen leben könne. Vorsichtig pirschen sie sich an. Es ist ein Schock, Leda wieder lebendig vor sich zu sehen: Sie ist in ein Rehfell gehüllt. Von ihrem Entführer ist nichts zu sehen. Ben steht der Verstand still, als Harp auf Leda anlegt, um sie zu erschießen…

Mein Eindruck

Ben ist ein unzuverlässiger Chronist. Er beteuert zwar immer wieder, dass man seinem Wort vertrauen könne, doch was er am Schluss von seinem geistigen und körperlichen Zustand berichtet, ist nicht dazu angetan, ihm Vertrauen zu schenken: Er hat eine Hirnblutung und einen Herzinfarkt hinter sich. Als er seinen Bericht niederschreibt, glaubt ihm keiner der Ärzte und Gesetzesvertreter.

Harp und Ben leben quasi noch im 19. Jahrhundert, der Rest von Darkfield behauptet, im 20. Jahrhundert zu leben. Doch der Glaube an Magie, den der junge Taxifahrer an den Tag legt, verweist ihn ins 17. Jahrhundert, als man in Salem, Massachusetts, noch Hexen fand, verurteilte und tötete. Was ist also wahr? Das ist je nach Standpunkt völlig unterschiedlich. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, würde der Sheriff lieber Harp Ryder als Gattinnenmörder einbuchten als vernünftig nach einem unbekannten Entführer mit rotem Fell und langen Zähnen suchen.

4) Maxwells Affe (Maxwell’s Monkey)

Maxwell, seines Zeichens Juniorpartner in einer New Yorker Anwaltskanzlei, hat einen Affen. Der sieht aus wie sein Schatten und lässt sich wie ein Schatten auf keine noch so listige Weise loswerden. Allerdings lohnt es sich, den Affen zu loben, denn dann schrumpft er auf Kindesgröße herab. Und dabei hat Maxwell nicht mal einen Kater nach einer durchzechten Nacht.

In der Kanzlei sitzt Sheila Walker an der Schreibmaschine, die in Maxwells Herz einen besonderen Platz einnimmt. Allerdings hat auch sie einen Affen, und die beiden Affen zusammen spielen den beiden ein paar hübsche Streiche. Ganz besonders dann, als er Sheila zum Fluss führt und ihr einen Antrag macht – den sie zurückweist.

Der Erzähler ist nicht etwa Maxwells Psychotherapeut, sondern ein hundsgewöhnlicher Science-Fiction-Autor, eine Spezies Mensch, auf die Maxwell heute nicht gut zu sprechen ist, denn schließlich hat Sheila ihm einen Korb gegeben. Unser wackerer SF-Autor macht Maxwell klar, dass eine Frau ihn und vor allem seine Treue auf die Probe stelle und es für diesen Fall nur ein probates Mittel gebe: Den Affen loswerden und am Ball bleiben!

Mein Eindruck

Die wichtigste Frage, die sich der Leser stellt, lautet natürlich: Wofür steht der Affe? Er ist das Symbol für einen inneren Zustand, etwa für schlechte Gefühle aufgrund Repression oder Schuldgefühlen. Weil sie „qualifiziert“ nicht korrekt schreiben kann, hat auch Sheila Minderwertigkeitsgefühle, personifiziert in ihrem privaten Affen. Diese Gefühle sind wohl auch der Grund, warum sie Maxwell zwingt, über seinen Schatten, pardon: Affen zu springen und um sie zu werben. Auf diese probate Weise verlieren sie beide ihre Affen.

Hinweis:

Die Phrase „a monkey on my shoulder/ my back“ ist ein im angelsächsischen Sprachraum gängiges Bild, um solche hemmenden Gefühle sichtbar zu machen. „Monkey on my back“ heißt der fünfte Track auf dem PUMP-Album von Aerosmith, das 1989 veröffentlicht wurde.

5) Der Fall Ponsonby (The Ponsonby Case)

Henry Ponsonby, ein Vertreter für, ähem, Unterwäsche, wird einem Streifenpolizisten gemeldet: Er sei praktisch nackt im Elefantengehege des Zoos im Central Park aufgefunden worden, wie er sich im Heu versteckte. Polizist Irvin J. Nussbaum fertigt ein Fallprotokoll an und dies ist sein Bericht. Nachdem er den Elefanten freigelassen hat, widmet er sich dem elegant mit Hornbrille und Hausschuhen (Farbe: babyblau) bekleideten Textilvertreter aus Worcester, Connecticut. Der amerikanische Staatsbürger beteuert seine Unschuld. Woran, fragt Nussbaum. Na, an dem ganzen Aufruhr, den er, Ponsonby, verursacht habe und der möglicherweise & eventuell begangenen unsittlichen Entblößung.

Nachdem Nussbaum den Zoowärter Elihu Jackson dazu überredet hat, dem spärlich bekleideten Connecticaner eine Parkwärteruniform zu leihen, macht er sich Notizen. Was kann denn Ponsonby zu seiner Entschuldigung vorbringen und weshalb fühlt er sich immer noch verfolgt? Alles begann ganz harmlos mit einer Verwechslung im nahen Watkins Hotel…

Mein Eindruck

Man schreibt das Jahr 1959 und das ist bekanntlich eine extrem prüde Ära. Schlüpfrigkeiten. Unsittliche Zurschaustellung und Entblößung werden strengstens verfolgt. Diese Verhältnisse nimmt der Autor gekonnt auf die Schippe. So landet Ponsonby beispielsweise im Kohlenkeller des Watkins Hotels, wird aber sofort zur Rede gestellt, was er dort in unbekleidetem Zustand zu suchen habe. Dabei hat ihm doch lediglich ein britischer Oberst den Morgenmantel vom Leib gerissen. Es ist eine lange, gewundene Geschichte, die nicht bloß einmal demonstriert, wie sich prüde Bürger zum Narren machen können, indem sie einen nackten Mann verfolgen.

Die Faktentreue des Polizeireports steht in krassem, ironischem Gegensatz zu den grotesken bis bizarren Vorgängen, die darin geschildert werden. Nussbaum ist gebildet genug, die ganze Geschichte nicht mit einer Anklage enden zu lassen, denn er schreibt in gediegenem Latein: „De minimis non curat lex“. Um Lappalien kümmert sich das Gesetz nicht. Nussbaum for President!

6) Lieferwagen zum Olymp (Pickup for Olympus)

Der gute Ab ist Tankstellenbesitzer und liebt Oldtimer. So versetzt es ihn gerade in Entzücken, als ein solches Schmuckstück aus dem Jahr 1937 direkt an seiner Tankstelle hält. Allerdings sollte mal jemand nach dem Motor sehen, der etwas unrund läuft, findet der Fahrer. Al tut nichts lieber, und ein Blick unter die Motorhaube versetzt ihn in den siebten Himmel. Die Ventile und die Nockenwelle zu justieren ist wie ein Liebesdienst.

In seiner Ekstase fällt ihm nicht auf, dass der Fahrer Hörner auf dem Kopf aufweist und Bocksbeine sein Eigen nennt. Seine Mitfahrerin trägt ein luftiges weißen Gewand, während sie einen Leoparden ausführt, um sich die Beine zu vertreten. Der Fahrer fragt ihn nach dem richtigen Weg zum Berg Olymp, aber den kennt Ab nicht, denn er kennt nur New York City. Aber die Steigung sollte „das alte Mädchen“ jetzt wieder locker schaffen…

Mein Eindruck

Wer bislang der Ansicht war, die alten Götter seien tot, wird von dieser Geschichte eines Besseren belehrt: Die Götter und all anderen Kreaturen der Natur, wie etwa Satyrn, fahren jetzt Auto. Genau dieses Auto versetzt die Menschen der Moderne derart in Entzücken, dass sie die Abnormität von Satyrn am Steuer gar nicht registrieren. Seine Götter heißen General Motors, Oldsmobile, Cadillac, Ford und dergleichen. Oder der gute Ab ist einfach unterbelichtet.

Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was die Beifahrerin mit dem Leoparden will. Dass die Ziege auf der Ladefläche für das Raubtier bestimmt ist, versteht sich von selbst. Nur die Beziehung zwischen der jungen Griechin – sie trägt nur eine luftige Tunika, einen Chlamys – zu Satyr und Leopard wird in der Geschichte nicht weiter erklärt.

Doch die englische Wikipedia bietet eine einleuchtende Erklärung an: Leoparden sind die Begleiter des griechischen Fruchtbarkeitsgottes Dionysos ((https://en.wikipedia.org/wiki/Leopard#Cultural_significance )) alias Bacchus. In einer Legende befreien sie ihn aus der Gefangenschaft von Piraten. Der Gott des Weines und der Ernte ((https://en.wikipedia.org/wiki/Dionysus )) wurde mit einem Leopardenfell bekleidet abgebildet und nutzte Leoparden als Fortbewegungsmittel. Im Königreich Benin und beim Stamm der Ashanti war ein Leopardenfell das Zeichen der Königswürde.

Es ist also davon auszugehen, das im Pickup der besagte Gott sitzt. Da er keinen Sitz unter den ersten Götter des Olymp hat, erscheint es plausibel, wenn er dort seinen Antrittsbesuch machen will. Die Leopardenlady an seiner Seite dürfte eine Mänade ((https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4nade )) oder Bacchantin sein.

7) Darius (Darius)

Miss Cassandra Higginson, das Hausmädchen der Follansbees, schwört Stein und Bein, dass Darius, der Kater, neulich singend und betrunken aus der Garage ins Haus gekommen sei. Niemand glaubt ihr (klar, bei diesem Vornamen). Mrs. Follansbee ist mit ihrem Mann Llewellyn nicht besonders zufrieden. Er kümmert sich kaum noch um sie.

Nachdem er am 31. Oktober 1976 zum nächstgelegenen Hügel spaziert war, als dort um 23:59 Uhr der Blitz einschlug, und am 1. November 1976 nur der Kater Darius zurückgekehrt war, fragen Reporter Mrs. Follansbee, ob sie ihren Mann für tot erklären lasse wolle. Sie verneint dies erstaunlicherweise. Aber am 31. Oktober 1979 entlässt sie Miss Cassandra Higginson aus ihren Diensten. Und Darius wird im Frühjahr 1980 zum letzten Mal gesehen.

Am 26. Juni 1978 tragen Bauarbeiter den besagten Hügel auf Drängen ansässiger Bürger ab, und tags darauf wird Simeon Stagg, seines Zeichens Eisenwarenhändler am Ort, zu misstrauisch. Er späht nachts heimlich durchs Fenster des Wohnzimmers und erblickt die sich räkelnde Mrs. Follansbee beim Häkeln, doch im Lehnsessel neben ihr sitzt keineswegs der entschwundene Mr. Follansbee, sondern der Zeitung lesende Kater Darius. „Sie räkelte sich also beim Häkeln?“, hakt der Reporter verblüfft nach. „genau das hab ich doch gesagt“, erwidert Stagg, obwohl er in besagter Nacht mindestens zwei Gläser Alkohol intus hatte.

Mein Eindruck

Auch hier spielt eine Verschiebung und Ersetzung im Hintergrund eine Rolle, doch dieses Thema wird dem Leser keineswegs auf die Nase gebunden. Die Pointe wird erst im letzten Satz geliefert, so wie sich das gehört.

Im typischen Ton eines Zeitungsreports wird genau auf die Abfolge der Ereignisse anhand der recherchierten Tagesdaten und Uhrzeiten geachtet, so als ob diese das Rätsel des Verschwindens von Mr. Follansbee erklären könnten. Dass dieser Nebendarsteller sich ausgerechnet an Halloween um Mitternacht in einem Blitz verdünnisiert, sollte den kundigen Leser alarmieren. Und dass tags darauf anstelle des Göttergatten ein zwielichtiger Kater namens Darius wiederkehrt, dürfte zumindest für hochgezogene Augenbrauen sorgen.

An Halloween ist dem alten irisch-keltischen Volksglauben zufolge die Trennlinie zwischen unseren Gefilden und dem Elfenreich durchlässig. Allerlei Übergänge können stattfinden. Und das scheint auch bei Darius der Fall zu sein. Bemerkenswert ist indes, dass Mrs. Follansbee ebensowenig Anstoß daran nimmt wie Miss Higginson.

8) Wackeltier (Wogglebeast)

Mrs. Molly MacManus, eine waschechte Iroamerikanerin, ist bereits 41 Jahre alt, aber zu ihrem Kummer immer noch nicht Mutter. Sie hofft auf ein Wunder. Ihr Mann Danny McManus arbeitet in einer Firma, wo er mit gefährlichem Sprengstoff hantieren muss. Sollte ihm etwas zustoßen, könnte sie die Mutterschaft abschreiben. Aber ihr Unterbewusstsein kommt ihr zu Hilfe.

Molly ist eine fleißige und begeisterte Hausfrau, die das traute Heim tipptopp in Schuss hält. Dass sie arbeiten geht, kommt überhaupt nicht in Frage. Eines Tages findet sie auf ihrem Küchentisch eine Kombination aus zerbrochenen Hühnerknochen und Klumpen der zugehörigen Suppe. Aus diesem Rest scheint sich ein kleines Wesen zu formen, das ihr seine Ärmchen entgegenstreckt. Es bewegt sich wie eine Art Wackeltier. Molly bringt es in einer Kommodenschublade in Sicherheit. Sie weiß, dass sie Danny davon erzählen sollte, aber irgendwie scheint sich nie eine Gelegenheit dazu zu ergeben.

So fügt es sich, dass es von Februar bis Ostern dauert, bis Danny die Wahrheit herausfindet. Er sucht eifrig eine Socke, stößt auf das Wackeltier und hält es hoch. Dann legt er es ungerührt zurück, wer weiß warum. Aber gleich darauf fühlt sich Molly übel. Dabei ist sie doch gesund. Das kann nur eines bedeuten: Ein Wunder ist geschehen – sie ist schwanger. Danny wird nach der ärztlichen Bestätigung klar, dass er nun für einen Stammhalter sorgen muss und verlangt eine Beförderung auf eine Stelle, die weniger gefährlich ist. Zu seiner Freude bekommt er sie.

Inzwischen ist das Wackeltier ein Teil von Mollys Leben geworden. Sie denkt daran, wie ihre Großmutter im Alter von elf Jahren von den Zwergen in die Anderswelt mitgenommen worden war. Die Zwerge können aus Zweigen und Blättern Wesen erschaffen. Auf eine solch alberne Geschichte antwortet Danny wohlweislich nicht. Als bei Molly die Wehen einsetzen, fährt er sie ins Krankenhaus. Doch was sie zur Welt bringt, haben die Ärzte und Schwestern ihren Lebtag noch nicht gesehen…

Mein Eindruck

Ein klassischer Fall von Scheinschwangerschaft, würde der Leser meinen, wenn da nicht doch noch ein dickes Ende käme. Vor dem psychologischen Hintergrund eines innigen Kinderwunsches, der zu Halluzinationen führt, spinnt der Erzähler ein Garn, das möglicherweise von der Legende der Wechselbälger inspiriert wurde. Warum sonst der Hinweis auf die irischen Zwerge und Feen? Dass diese Wesen in Irland Feen waren und nur in Island Zwerge (von denen sich ein gewisser Prof. Tolkien inspirieren ließ), ist unerheblich. Wichtig ist nur der Wechselbalg.

Der Legende nach – von der es viele Varianten gibt – entführen die Elfen einen Säugling und ersetzen ihn durch einen Wechselbalg. Dieser kann aus verschiedenen Materialien bestehen, sei es Reisig, Lumpen und gar Knochen. Wichtig ist der Zauber, der darauf liegt. Dieser lässt die junge Mutter glauben, dass sie es mit ihrem eigenen Kind zu tun hat – und nicht etwa mit einem Kuckuckskind. Klingen „Zauber“ und „Halluzination“ nicht irgendwie verwandt?

Was nun Danny als „objektiven“ Beobachter angeht, so ist er leider als sehr parteiisch anzusehen. Er wünscht sich für seine Molly – die umgangssprachliche Form von „Margaret“ – nur ihr Glück, denn darin besteht auch seines, und was würde ein Ehepaar zu einer glücklichen Familie: „Finally complete – three is family“, wie es im Lied heißt.

9) Das Engelei (Angel’s Egg, 1951)

Der Farmer und pensionierte Biologielehrer David Bannerman findet unter seiner besten Legehenne Camilla ein seltsam bläuliches Ei, das so gar nicht nach Hühnerart gefärbt ist. Schon einen Tag später schlüpft daraus ein winziges Wesen, das David für einen Engel hält. Dieses Wesen kann tatsächlich Gefühle und Gedanken lesen – und senden. Mehr oder weniger unwillkürlich sorgt sich David um sein Wohlergehen und platziert es in seinem eigenen Wohnzimmer, in einer Kiste, in der es Camilla und ihr kleiner Schützling gemütlich haben – und sie vor Ratten und Wieseln sicher sind.

Bis der kleine Engel flügge ist – sie bekommt Membranen, die schneller flattern als die Flügel eines Kolibris –, transportiert David die Kleine auf seiner Hand. In seinem Tagebuch, das er zwischen dem 1. Juni und dem 29. Juli 1951 führt, hält er alles für seinen besten Freund, den Dorfarzt von Augusta, Maine, fest. Weil nach Davids Tod Dr. Morse das Tagebuch der Staatspolizei und diese es dem FBI übergibt, weiß das Nationalarchiv der USA schließlich über die Herkunft der Engel Bescheid. Aber wie und wozu sind Davids Engel und ihre Geschwister überhaupt auf die Erde gekommen?

Die Welt der Engel ist 20 Lichtjahre entfernt und dort existieren Engel seit 50 Mio. Jahren. Sie sind intelligent, versteht sich, und leben mit anderen Spezies, denen sie zu Intelligenz verholfen haben, friedlich zusammen. David bekommt von seinem kleinen Engel – sie ist nur etwa 20 cm groß – Visionen von ihrer Heimatwelt vermittelt. Vor zwölf Mio. Jahren haben sich die Engel entschlossen, ihre Existenz der Güte zu verschreiben. Leichter gesagt als getan. Denn Intelligenz ohne Güte ist tödlich. Eine Evolution wurde in Gang gesetzt, die Raumfahrt begonnen und vor kurzem erste Expeditionen zu fremden Galaxien gestartet, um anderen Spezies Intelligenz mit Güte zu vermitteln.

David sieht sich vor eine Wahl gestellt. Der 53-Jährige könnte durch die Kunst der Engel noch lange leben und von seiner Kriegsverletzung kuriert werden. Oder er könnte seine Erinnerungen den Engeln vermachen, damit diese die Menschheit besser verstehen lernen. Will er für sich weiterleben und mehr erleben oder riskiert er, dass der Atomkrieg ausbricht, weil er die Engel nicht früh genug unterstützt hat? David trifft die einzig richtige Wahl…

Mein Eindruck

In mehreren Begleitschreiben und Briefen erfahren wir, dass der FBI-Chef, dem dieses Tagebuch geliefert wurde, zum ersten Präsidenten der Weltföderation gewählt und ein Jahr später ermordet wurde. Er ist mittlerweile ein Märtyrer, seine Witwe vermachte Bannermans Tagebuch dem Nationalarchiv. Da es im Jahr 1951 keinerlei Weltregierung gab, ein Jahr später aber schon, dürfen wir folgern, dass der Autor in dieser einigenden Regierung die Rettung für den von Atombomben bedrohten Planeten sah – und zwar aufgrund des gütigen Einflusses der zwölf Engel, die auf der Erde gelandet waren (und von denen einer starb).

Es fällt nicht schwer, die zwölf Engel als zwölf Apostel anzusehen und ihre Botschaft der Güte als eine Art Evangelium. Doch der Autor bzw. Bannermann betrachtet Jesus kritisch, der einmal sagte: „Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Man kann also nicht einfach sagen, dass der Autor neutestamentarische Botschaften wiederkäut. Aber er macht es sich vielleicht ein wenig einfach, indem er nicht der Vernunft das Wort redet, sondern den gütigen Emotionen, also Verständnis, Nächstenliebe usw. Dass sich David Bannerman (heißt so nicht ein Sheriff bei Stephen King?) und der Weltpräsident opfern, weist darauf hin, dass es keinen Fortschritt ohne Beiträge und Opfer geben kann. Der eine Leser mag dies naiv finden, andere sind vielleicht gerührt.

Die Übersetzung

Die Texte sind durchweg korrekt und gut lesbar übersetzt worden, vor allem nicht von Tony Westermayr, der seine ganz eigene Auffassung vom „Übersetzen“ hatte. Ich fand nur einen Druckfehler.

S. 92: „fünzig“ statt „fünfzig“.

Unterm Strich

Die Story-Sammlung besteht aus sieben kürzeren und zwei längeren Geschichten. Diese beiden längeren sind „Langzahn“ und Engelsei“. In allen Erzählungen geht es um beinahe unmerkliche, aber stets unerklärbare Veränderungen in der engeren Nachbarschaft – was ja genau die Ausrichtung ist, die der Titel andeutet. Diese Veränderungen sind nicht weltbewegend, sondern passieren draußen auf dem Land oder in den Vorstädten. Deshalb bekommt sie kaum jemand mit. Selbst Profireporter haben, wie in „Darius“, Mühe, alles zeitlich und kausal auf die Reihe zu kriegen, weil die Zeugen so unzuverlässig sind. Mal sind sie parteiisch, mal sturzbetrunken, mal sehr jung, mal von schlechtem Leumund. In dieser Hinsicht ist der Autor eng verwandt mit den Figuren, die der SF-Fan bei Clifford Simak entdecken kann, etwa in „The Big Frontyard“.

Humor

Der Humor, den ich in diesen Erzählungen gefunden habe, ist keineswegs bissig, sondern, befördert durch leichte Ironie, eher verschmitzt und augenzwinkernd. Wenn der Kater Darius beispielsweise tatsächlich ein Gestaltwechsler sein sollte, so ist das nicht Anlass für Zeter und Mordio, sondern für eine allenfalls schräge Anpassung im Hause Follansbee.

Der Autor legt dem Leser nahe, diese „Anpassung“ zu akzeptieren, weil die meisten Menschen eh nicht dem Otto-Normal-Standard entsprechen. Es wäre ja schlimm und langweilig, wenn es wirklich dazukommen würde. Manchmal kommt es, wie bei Thorne Smith, zu grotesken Missverständnissen, in deren Gefolge sich eine Komödie entspinnt, so etwa im „Ponsonby-Fall“. Eine Selbsttäuschung kann ebenfalls zu unangemessenem Verhalten führen, so in „Lieferwagen zum Olymp“ und in „Wackelbiest“. Die Olymp-Story offenbart, wie gut der Autor sich in antiken Mythologien auskannte. Sonst hätte Dionysos nicht korrekt beschreiben können (s.o.).

Hinweis

Was etwas auf der Strecke bleibt, sind die Unterhaltungswerte der Romantik und der Action. Diese habe ich vor allem in der Story „Langzahn“ gefunden, in der auch der einzige wirkliche Bösewicht auftritt. Wer wirklich schwarze Romantik mag, der schaue sich mal beim späten Roger Zelazny um, etwa im Roman “ A Night in the Lonesome October“ aus dem Jahr 1993, der hierzulande 2001 unter dem Titel „Clan der Magier“ bei Heyne erschien.

Taschenbuch: 151 Seiten
O-Titel: Good Neighbors and Other Strangers, 1972
Aus dem Englischen von Jürgen Saupe
ISBN-13: 9783442231614

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