Meisterliche SF-Classics, aber auch frühe Gehversuche
Drei Bände von Martins Erzählungen bringt der Heyne-Verlag häppchenweise auf den Markt. Der erste Band umfasst die ersten vorzeigbaren literarischen Gehversuche von 1971 bis hin zu den ersten preisgekrönten Novellen aus den Jahren 1977 und 1978.
Das Beste sind allerdings die autobiographischen Skizzen des Autors selbst. Wer Martin kennt, ahnt schon, dass darin eine Menge Selbstironie stecken muss.
Der Autor
George R. R. Martin, 1948 in Bayonne/New Jersey geboren, veröffentlichte seine ersten Kurzgeschichten im Jahr 1971 und gelangte damit in der Fantasy-Szene zu frühem Ruhm. Gleich mehrfach wurde ihm der renommierte Hugo Award verliehen. Sein mehrteiliges Epos „Das Lied von Eis und Feuer“ wird einhellig als Meisterwerk gelobt, dessen neunter Band im Mai 2012 auf Deutsch erschienen ist. George R. R. Martin lebt in Santa Fe, New Mexico. (erweiterte Verlagsinfo)
Die Erzählungen
A) EIN VIERFARB-FANBOY (autobiographisch)
In dieser autobiografischer Einführung beschreibt der Autor seinen eigenen Werdegang, vom Fandom-Autor über den Herausgeber eines Fanzines bis hin zum Autor von Comic-Serien. Dr. Weird ist nur eine dieser selbsterfundenen Figuren. Und er erlebte die ersten Misserfolge, weil die amerikanischen Top-Magazine des Phantastik-Genres seine Stories ablehnten, so etwa „Der Held“ und „Die Festung“.
1) Nur Kinder fürchten sich im Dunkeln
Im fernen Reiche Corlos herrscht der Herr der Dämonen höchstselbst: Saagael. Doch in letzter Zeit steht sein Tempel der Finsternis verlassen und ungeschützt im Dschungel. Das nutzen zwei Räuber aus und plündern die heiligen Rubine. Auf der Flucht vor der Wachen stolpern sie in den Tempel. Doch aus der Nachtruhe wird etwas Dauerhafteres: Als Jasper den schlafenden Willie um der Rubine willen erdolcht, läuft dessen Blut auf den Opferstein – und weckt Saagael…
Dr. Weird, der gestaltwandelnde, grüngoldene Astrale Rächer, vernimmt den Todesschrei Jaspers und eilt nach Corlos, um nach der Ursache zu sehen. Dort empfängt ihn höhnisch der Herr der Dunkelheit und hetzt ihm einen Dämon auf den Hals. Nur mit Mühe scheint es dem Goldenen Geist zu gelingen, den Dämon niederzuringen. Der Seelenzerstörer frohlockt: Niemals werde es ihm gelingen, ihn aufzuhalten!
Tatsächlich errichten die Anhänger Saagaels schon bald nicht nur Tempel, sondern eine blutige Schreckensherrschaft. Als ihm ein Mädchen geopfert werden soll, geht der Goldene Geist dazwischen. Er kann den menschlichen Priester töten, doch was kann er gegen den Herrn der Dämonen schon ausrichten?
Mein Eindruck
Man merkt schon, wie schablonenhaft die Figuren entworfen sind und wie stark noch der Einfluss des Lovecraft-Zirkels die gesamte Stimmung und Interaktion bestimmt. Dennoch gelingt es dem Autor, der Handlung eine pfiffige Wendung zu verleihen. Dass das unschuldige Opfer gerettet werden kann, versteht sich von selbst.
2) Die Festung
Die Festung Sveaborg beschützt als „Gibraltar des Nordens“ die finnisch-schwedische Stadt Helsinki (Finnland gehört zu Schweden) und die ihr vorgelagerten Inseln. Im März 1808 gehört Europa Napoleon, und die Russen sind mit ihm verbündet. Als die Russen unter General Suchelen über Eis der gefrorenen Ostsee vorrücken, sieht Vizeadmiral Carlstedt, der Kommandant der Festung, die Chance auf einen Waffenstillstand. Der adlige Offizier Jägerhorn unterstützt ihn – und mit falschen Informationen.
Der finnische Offizier Oberst Bengt Anttonen weiß die Wahrheit: Die Festung ist nicht geschwächt, sondern stark, die Soldaten kampfeswillig. Doch Carlstedt lehnt alle seine Argumente ab, und Jägerhorn grinst Anttonen höhnisch an. Werden die Schweden rechtzeitig kommen, um die Festung zu retten? Natürlich nicht. Am 6. April beginnen die Verhandlungen über die Kapitulation, ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre. Da meutert Anttonen und mit einer Handvoll Männer überfällt er die Pulver- und Waffenkammer…
Mein Eindruck
Dies ist keine phantastische, sondern eine historische Erzählung, Wahrscheinlich hat sie es diesem Umstand zu verdanken, dass sie von allen SF-Magazinen abgelehnt wurde, wie uns der Autor berichtet. Das sollte den leser aber nicht davon abhalten, den spannenden Text zu lesen – eine Reihe von Auseinandersetzungen, wie man sie später in dem Zyklus „Ein Lied von Eis und Feuer“ als Standard bewundert.
3) Tod war sein Vermächtnis
Zweiter Weltkrieg, USA. Ein Mann, der sich Beauregard nennt, wird im Mittleren Westen, dem „Bibelgürtel“, zum Propheten, der gegen Anarchisten, „Kommis“ und langhaarige Demonstranten wettert, die die Kriegsanstrengungen des Vaterlandes sabotieren. Die Menschen jubeln ihm zu – obwohl oder weil er die Macht in die Hände von Soldaten und Polizisten legen will.
Sein Weg führt ihn ins Herz der Finsternis, wie er meint, nach New York City. Die Reporter dort reden nur von „Charisma“ und „Ironie“, nehmen ihn also nicht ernst. Deshalb kehrt er zurück in den Mittelwesten, wo die Dinge gut laufen, on Ohio sogar sehr gut…
Maximilian de Laurier hat nur noch ein Jahr zu Leben. Er hat Krebs im Endstadium. Was hat er aus seinem leben gemacht, fragt er sich, und war das schon alles – die paar Vermögen, die er gemacht hat? Nein, bestimmt nicht, er hat noch die Kraft, der Welt seinen Stempel aufdrücken. Er liquidiert sein jüngstes Vermögen, transferiert alles in die Schweiz und taucht unter. In New York City taucht er als Mr. Lawrence wieder auf – in einer Bank, in der er einen dicken Scheck einlöst. Alles kein Problem, solange er sich ausweisen kann.
Dann kauft er sich ein Scharfschützengewehr und reist nach Ohio, um einem Mann zu begegnen, der sterben soll. Denn Mr. Lawwrence nur zu gut, wovon Beauregard predigt, und alles führt nur zu einem Ziel: zu den Gaskammern. Er drückt den Abzug…
Mein Eindruck
Die auf einer bitteren, ironischen Note endende Erzählung hat nichts mit Science Fiction zu tun, wohl aber mit der Zukunft. Wenn es in den USA einen Adolf Hitler gegeben hätte, wäre es dann die Pflicht von Rechtschaffenen (im jüdischen Sinne) gewesen, ihn zu ermorden, bevor er an die Macht gekommen wäre?
Auch Maxim de Laurier stellt sich die Frage, ob sein Tun das Richtige ist, um Beauregard aufzuhalten. Nun, wie immer beantwortet erst der weitere Verlauf der Historie diese Frage: Der Vizepräsidentschaftskandidat tritt in die Fußstapfen seines Vorbilds. Also war nichts gewonnen. Wirklich? Für de Laurier hat sich sein Leben erfüllt, wenn auch nicht sein Traum. Millionen Amerikanern zeigte seine Tat: Auch Propheten sind sterblich.
B) DER SCHMUTZIGE PROFI (autobiographisch)
Nach all den Ablehnungen beschließt Martin, ein herausragender Reporter in Washington, D.C., zu werden. Er erwirbt ein Diplom von der besten Journalistenschule, verdient sich seine Sporen in der Hauptstadt – und wird bei jeder Bewerbung abgelehnt. Ob wohl sein senffarbener Anzug etwas damit zu tun haben könnte? Wenigstens gelingt es ihm, der Einberufung nach Vietnam zu entgehen. Er legt seinem Einspruch die Story „Dier Held“ bei. Das dürfte geholfen haben.
Er steigt ab in die Unterliga des Journalismus, um wenigstens Brötchen zu verdienen. Der Halbtagsjob bietet ihm aber die Gelegenheit, morgens in die Tasten zu hauen: Er schreibt sieben Stories, die er im Laufe von vier, fünf Jahren alle verkaufen kann. Besonders “ Am Morgen fällt der Nebel“ und „Die zweite Stufe der Einsamkeit“ werden auf Anhieb gekauft und zwar vom bis dato unwahrscheinlichsten aller Magazine: von ANALOG, dem Inbegriff der technizistischen Harscore-SF. Der Grund: Herausgeber John W. Campbell, der Übervater aller SF-Autoren, ist gestorben und durch Ben Bova, einen Neuling, ersetzt worden. Dieser will nun ANALOG ein neues Image verschaffen.
Martin ist happy: Sein Zeug ist also doch kein Schrott. Nur bei den SF-Auszeichnungen belegen seine Storys regelmäßig nur den zweiten Platz. Der später extrem fleißige Herausgeber Gardner Dozois nimmt ihn in den Klub der Hugo Award Loser auf: weitere gescheiterte Existenzen…
4) Der Held (The hero, 1971)
Kagen ist schon seit 20 Jahren bei den Terranischen Expeditions-Streitkräften. Mit dieser Elitetruppe hat er eine Welt nach der anderen erobert, um den krieg gegen die Hranganer zu gewinnen. Doch heute reicht er seinen Antrag auf Pensionierung und Prämienzahlung ein. Und er will nicht auf eine der Kriegswelten, sondern auf die Erde.
Major Grady soll dem Antrag stattgeben. Gradys Argumente verfangen bei Kagen nicht: Der krieg gegen die Hranganer trete in seine entscheidende Endphase ein. Die Kämpfe würden anspruchsvoller. Man brauche harte Trainer wie Kagen. Und schließlich: Die Erde sei nichts für harte Krieger wie Kagen. Aber dort ist er doch ein Held, und er will sehen, wofür er 20 Jahre lang gekämpft hat. Grady gibt schließlich nach.
Die Verabschiedung ist prächtig, eine Kabine an Bord exklusiv für Kagen geräumt worden. Dann beginnen ihn die Druckstrahlen zu zerquetschen, bis der Tod eintritt.
Mein Eindruck
Major Grady hat wohl recht, wenn er bemerkt: „Einen Kerl wie Kagen können wir keinesfalls auf die Erde loslassen.“ Merke: Helden sind nur ein Werkzeug für die Propaganda, doch sollten sie wirklich einmal mit der Wirklichkeit in Berührung, verfliegen alle heldenhafte Züge. So geschehen am Ende des Vietnamkriegs und zu besichtigen in Filmen wie „Rambo“ und „Geboren am 4. Juli“. Die Story markiert George R.R. Martins starkes erzählerisches Debüt.
5) Die Ausfahrt nach San Breta (ca. 1975)
Seitdem die Menschen alle mit individuellen Anti-Schwerkraft-Vorrichtungen oder in Helikoptern reisen und Fracht nur noch in Schwebelastern über Autobahnen donnert, sind selbige Autobahnen wie ausgestorben. Sie bekommen im Laufe der Jahre Schlaglöcher, verlieren ihre Beschilderung, ihre weißen Streifen, ihre Laternen, verschwinden unter Unkraut.
Deshalb ist unser Freund am Steuer seines Jaguar XKE völlig von den Socken, als er auf einen Autobahnabschnitt bei San Breta gelangt, der vollständig intakt ist, gerade so, als wäre er gestern erst fertiggestellt worden. Und dann taucht da dieses Auto auf, ach was: eine Antiquität: ein Ford Edsel aus den frühen siebziger Jahren oder noch früher. Unser Freund ist selbst Oldtimerfahrer und kennt sämtliche Legenden und Witze über den Edsel, das hässlichste Auto aller Zeiten.
Fünf Personen sitzen darin, offenbar eine Familie, ein junger Mann sitzt am Steuer. Die Tatsache, dass das Quintett unseren Freund völlig ignoriert, macht ihn wütend, und er beschließt, den Edsel zu beschatten. Auf einmal wirft der Junge am Steuer einen wilden Blick zur Seite, als hätte er die richtige Ausfahrt nach San Breta verpasst, reißt den Wagen für eine Kehrtwende herum – und wird prompt vom überraschten Jaguar-Fahrer gerammt. Der Edsel überschlägt sich, der Jaguar knallt in die Leitplanke. Noch während sich unser Freund aufrappelt, explodiert das andere Auto und alle verbrennen vor seinen Augen.
Als er den ungläubig dreinschauenden Cop im nächsten Café dazu überreden kann, zur Unfallstelle mitzukommen, ist vom Edsel nichts zu sehen, und sein eigener Jaguar weist nicht mal einen Kratzer auf. Der Cop hält ihn für bescheuert. Erst am nächsten Tag erzählt ihm ein Automechaniker für Oldtimer die Geschichte vom Geister-Edsel auf dem Abschnitt einer Geister-Autobahn, der dort seit 40 Jahren Unfälle verursacht…
Mein Eindruck
Zuerst dachte ich, dies wäre eine Art Zeitreisegeschichte, tatsächlich aber ist es eine Gespensterstory. Im netten Plauderton, der sein enzyklopädisches Wissen verdeckt, erzählt uns ein Oldtimerfahrer, der offenbar selbst nicht mehr der Jüngste ist, was seinerzeit, in den versunkenen siebziger Jahre, die Autobahnen doch für eine tolle Sache waren. Nur dass es manchmal zu fatalen Unfällen kam, das war weniger schön.
Und dann die traurige Sache mit dem explodierten Edsel, der einfach nicht sterben kann, sondern vom Schicksal gezwungen ist, für immer und ewig die Ausfahrt nach San Breta zu suchen. Denn in den Autobahnkreuzen konnte man sich leicht verirren und bekam erst Meilen später die Chance umzukehren.
Diese Einsamkeit des Verdammten in seinem Automobil erinnert mich an J. G. Ballards Roman „Die Betoninsel“ (1974 – ein Jahr vor Martins Story!), in dem ein Mann, der auf der Brachfläche in einem Autobahnkleeblatt strandet, dort wie ein moderner Robinson zu überleben versucht. Es ist die gleiche Einsamkeit, ein ähnliches Schicksal, doch längst nicht gewaltsam wie das Ende des Gespenster-Edsel. Auch Steven Spielbergs famoser Debütfilm „Duell“ (siehe meinen Bericht) nimmt vorweg, welche verhängnisvolle Rolle das Automobil spielen kann und wird.
6) Die zweite Stufe der Einsamkeit (ca. 1975)
Unser Tagebuchschreiber arbeitet seit vier Jahren auf einer kleinen Raumstation 6 Mio. Kilometer jenseits der Pluto-Bahn: Seine Station heißt Cerberus, nach dem Torwächter der antiken Sage. Er wartet dringend auf seine Ablösung, die aber erst in drei Monaten eintreffen dürfte. Bis dahin geht er seinem Dienst nach. Es ist ein ziemlich ungewöhnlicher Service: Mit Hilfe einer energiereichen Vorrichtung öffnet er ein Wurmloch, durch das große Raumschiffe in sehr große Distanzen reisen können.
Der dabei entstehende Farbenzauber – und mögliche unsichtbare Begleiterscheinungen – hat es ihm so angetan, dass er zunehmend froh ist, dass er diesen Vorgang immer wieder auslösen darf, denn so gelingt es ihm, die Alpträume, die er von seinem Erdenleben und vor allem von seiner gescheiterten Liebe hat, zu vertreiben. Er lebt in der 2. Stufe der Einsamkeit: jener, in der das eigene geheime Ich in steter Angst lebt, entdeckt und erneut enttäuscht zu werden.
Merkwürdig – am vorbestimmten Ankunftstag seiner Ablösung trifft kein Raumschiff ein. Etwas muss schiefgelaufen sein. Dann entdeckt unser Mann auf Cerberus, dass sein Kalender spinnt. Irgendetwas scheint auch bei ihm selbst überhaupt nicht zu stimmen. Könnte es sein, dass er oder vielmehr sein Unterbewusstsein dafür gesorgt hat, dass er seine Ablösung durch ein Wurmloch zerstört hat?
Mein Eindruck
Obwohl das Szenario vordergründig aus der technisch-naturwissenschaftlichen Science Fiction kommt (und folglich den Chefredakteur von ANALOG in Ekstase versetzte), so nimmt das zunehmend sichtbarer werdende psychologische Problem unseres Cerberus-Wächters immer mehr Raum ein und an Bedeutung zu. Auf perfide Weise verhindert der Autor, dass der Leser das verblüffende Ende kommen sieht. Das hat schon Qualitäten von Philip K. Dick. Außerdem ist die Story spannend und flott erzählt.
7) Am Morgen fällt der Nebel (With morning comes mistfall, 1975)
Ein Journalist besucht Wraithworld, um anlässlich einer Expedition eine Reihe von Reportagen für die Erde zu schreiben. Die Expedition von Dr. Dubowski soll ein für alle Mal die Frage klären, ob es auf dieser bei Touristen beliebten Welt wirklich Geister gibt. Die sollen bereits 22 Menschen auf dem Gewissen haben.
Mr. Sanders lebt von den Touristen, denn er hat hier ein ein schönes Hotel gebaut, auf einer Bergspitze, und ihm den Namen „Wolkenburg“ gegeben. Denn das auffälligste und geheimnisvollste Merkmal des Planeten sind seine undurchdringlichen Nebel, die morgens in die Täler sinken und abends wieder zu den zahlreichen Berggipfeln zurückkehren, über die besonders der Red Ghost emporragt – „wildromantisch“, finden die Touristen.
Und nun kommt Dubowski, um die Wahrheit herauszufinden, die Romantik zu vertreiben, die tödlichen Geister zu jagen. „Mordende Geister – Unfug!“, ruft Dubowski und schickt seine Robosonden aus. Kein Wunder, dass Mr. Sanders nicht gut auf ihn zu sprechen ist, sieht er doch sein Geschäft in Gefahr. Der Reporter fürchtet, dass er Dubowski und seinen Assistenten etwas antun könnte. Währenddessen verliebt er sich in die Nebelwälder…
Mein Eindruck
Für mich ist dies zweifellos eine der schönsten Geschichten des frühen, noch ziemlich romantisch veranlagten Autors, der bei uns mehr für seine zupackende epische Fantasy als für seine Science Fiction bekannt ist. Dabei war Martins Stärke am Anfang stets das Heraufbeschwören einer romantischen Stimmung, einer ganz speziellen Atmosphäre, die meist elegisch und todgeweiht war: nostalgische Romantik eben.
Das, was da beklagt wurde, war stets der Verlust etwas ganz Besonderen, meist eines Wunders. In „Morgennebel“ sind es die Geister im Nebel, die durch das Licht der wissenschaftlichen Wahrheit ein für alle Mal vertrieben werden. Und so den Planeten seiner Attraktivität berauben. Mit einer kleinen Verbeugung vor Ray Bradbury, ebenfalls einem großen Romantiker.
Letzten Endes stellt Martin die Frage, was wir eigentlich dort draußen zwischen den Sternen wollen: die desillusionierende Wahrheit, die uns (laut Bibel) angeblich frei macht – oder das romantische Wunder, das Geheimnis, die Geschichten, die unsere Phantasie entzünden. Ich weiß, was ich wählen würde.
C) DAS LICHT DER FERNEN STERNE (autobiographisch)
Mit dem Erfolg in der Schriftstellerei geht es bei Martin jetzt steil bergauf. Trotz des Erfolgs mit „Morgen“ und „Einsamkeit“ ist er aber trotzdem gezwungen, im Zivildienst, den er in Chicago absolviert, sehr kleine Brötchen verdienen. Eine erste große, aber unglückliche Liebe verhilft ihm zu „Abschied von Lya“, seiner ersten, aber keineswegs letzten HUGO-Story. Das bringt ihm den Rauswurf aus dem HUGO Losers Club ein *seufz*. Er schreibt als Koautor mit Lisa Tuttle den packenden Science-Fantasy-Roman „Storm over Windhaven“ und bereitet seinen ersten eigenen Roman vor, doch „Die Flamme erlischt“ wird erst 1977 erscheinen. Die Scheidung von seiner ersten Frau schlägt sich in dem melancholischen Prosastück „Turm aus Asche“ nieder.
Weil er nach dem Ersatzdienst nach Dubuque, Iowa, an ein katholisches Nonnenseminar umzieht, um hier Journalismus zu lehren, bekommt er es hautnah mit strengem Katholizismus – und Zensur – zu tun. Daraus entsteht die Story „Der Weg von Kreuz und Drachen“: Wie wird es der Katholischen Kirche zwischen Sternen ergehen? Interessant ist auch sein Konkurrenzkampf mit den „lieben“ Kollegen. „Das bleiche Kind“ ist eine Replik auf Gordon Dicksons DORSAI-Romane um Sternenkrieger, die einer alternativen Doktrin anhängen. Die Novelle „Der Eisdrache“ und das vielfach ausgezeichnete „Sandkönige“ werden erst in einer späteren TRAUMLIEDER-Band gewürdigt.
Interessant sind die Autoren, die Martin hier als seine Favoriten nennt: Ganz oben thront unangefochten Robert A. Heinlein, der „Großmeister“. Dessen Jugend-SF-Bücher sind weiterhin unübertroffen, findet Martin, besonders für einen Jungen aus der Provinz von New Jersey. Zu Recht bezweifelt er die Plausibilität von A.E van Vogts Romanen, etwa „Slan“.
8) Abschied von Lya (Song for Lya, HUGO Award 1975)
Robb und Lyanna sind Talente – er kann Gefühle anderer erspüren, sie deren tiefste Gedanken. Auf Bitten des Planetaren Administrators der erst vor zehn Jahren erschlossenen Welt der Shkeen sollen sie herausfinden, was die menschlichen Siedler in die Arme der Religion der Ureinwohner treibt – und wie man dies verhindern kann. Denn bei dieser Religion geht es darum, sich mit einem Parasiten zu verbinden und nach Ablauf weniger Jahre sich in den Höhlen von Shkeen einem Riesenparasiten, dem Greeshka, hinzugeben – und absorbiert zu werden.
Nicht auszudenken, wenn sich dieser Kult auf andere Welten der Menschheit ausdehnen würde. Immerhin hat sich Gustaffson, einer der Vorgänger des Administrators, diesem Opfer-Kult angeschlossen. Und immer mehr Menschen scheinen ihm folgen zu wollen.
Robb findet einige Dinge an dieser Welt bemerkenswert. Die Zivilisation existiert hier bereits seit 14.000 Jahren, ist also weitaus älter als die menschliche, doch sie befindet sich auf dem Niveau unserer Bronzezeit. Zudem glauben die Shkeen weder an ein Jenseits noch an einen Gott, sondern lediglich an das Glück der Verbundenheit mit dem Greeshka und an die abschließende Vereinigung. Aber was haben sie davon? Und warum sind die „Verbundenen“ so glücklich?
Als sich Robb und Lyanna mit dem Seelenleben der Verbundenen befassen und sogar auf Gustaffson selbst stoßen, müssen sie sich mit einem grundlegenden Problem aller denkenden und fühlenden Lebewesen auseinandersetzen: dass das fortwährende Alleinsein nur durch die Liebe oder den Tod überwunden werden kann. Was aber, wenn Liebe und Tod ein und dasselbe sind?
Mein Eindruck
Dieser detailliert geschilderte Kurzroman ist wunderbar zu lesen, denn der Autor befasst sich sehr eingehend mit dem Gefühlsleben des zentralen Liebespaares und dem Dilemma, in dem es sich plötzlich wiederfindet. Denn Lya hat im Geist der Verbundenen von dem Glück gekostet, das die Vereinigung mit dem Greeshka spendet.
Dieses Glück besteht offenbar nicht nur in der grenzenlosen Liebe der Vereinigung, die über die Liebe zu Robb hinausgeht, sondern auch in der Überwindung des Todes und der irdischen Begrenztheit. Kurzum: Sie ist mit einem Gott vereint, wenn sie den Übergang wagt. Aber dafür muss sie Robb verlassen, falls er ihr nicht folgt. Wie wird er sich entscheiden?
9) Ein Turm aus Asche (This Tower of Ashes, 1976***)
Auf Jamison’s Welt hat sich der Jäger Johnny Bowen eine Heimstatt in einem alten Turm an der Meeresküste eingerichtet. Begleitet nur von seinem treuen achtbeinigen Kater Eichhorn begibt er sich nächstens auf die Jagd nach den Traumspinnen, die im nahen Wald ihre Netze aufspannen, um das Wild zu fangen und mit ihrem Gift zu betäuben. Dieses Gift verkauft Johnny an Krobec, den Händler aus der Hauptstadt Port Jamison, der es wiederum auf dem Drogenmarkt verhökert. So bringen die Spinnen den Menschen ferner Welten Visionen und Träume.
Eines Tages aber kommen Johnnys Exfrau Crystal und ihr neuer Lover Gerry zu Besuch. Sofort fühlt er sich angespannt und eifersüchtig, denn Gerry ist nicht zuletzt skeptisch gegenüber dem, was Johnny hier draußen treibt: Er würde am liebsten den ganzen Wald abfackeln, mit allem, was darin kreucht und fleucht. Nur der Kater, den Crystal sofort liebkost, bewahrt Bowen vor einem Wutausbruch. Beim Wein danach kommt er auf die Schnapsidee, den beiden die Spinnen zu zeigen. Und vielleicht finden sie sogar die Erbauer des Turms, wer weiß?
Doch die Expedition steht unter keinem guten Stern. Über der Schlucht, wo, wie Bowen weiß, ein Spinnenpaar haust (das Weibchen jagt, das Männchen macht das Netz klebrig), liegt quer ein Baumstamm, von dem aus sie das Netz und die Beute beobachten können. Johnny hält seinen Bogen schussbereit, denn wer weiß, wo das Weibchen gerade jagt?
Da rutscht Gerry auf dem Baumstamm aus und fällt ins Netz! Sofort beginnt das Männchen, auf ihn zuzukrabbeln. Bowen legt auf es an. Da schreit Crystal auf, und einen Moment später sieht Bowen, wie das Weibchen auf ihn zugekrochen kommt, um ihn zu beißen. Er zögert: Welches Tier soll er zuerst erschießen, wen zuerst retten, sich oder den verhassten Gerry oder die geliebte Crystal, die er zurückgewinnen will? Die rettende Idee kommt ihm wie ein Blitzschlag. Doch sein Zögern wirkt sich fatal für alle aus…
Mein Eindruck
Wie schon in „Song for Lya“ und „Wenn die Flamme erlischt“ drehen sich viele von Martins Geschichten um Beziehungen, insbesondere Dreiecksgeschichten. Das ist kein Wunder, findet er (laut Herausgeber), denn erstens ist das eine alte erprobte Konstellation, die jede Außenweltgeschichte auf ein menschliches Maß reduziert, und zweitens, wichtiger noch, bestimmt die Position in solch einer Beziehung das Verhältnis des Protagonisten zur Realität. Und um die Bestimmung der Realität bzw. deren Wahrnehmung geht es Martin vor allen Dingen.
Deshalb ist es nebensächlich, ob tatsächlich Aliens als Turmerbauer auftauchen oder ob Bowen eine oder beide Spinnen erschießt. Es kommt drauf an, wie das Ergebnis der Auseinandersetzung aussieht. Hat er es geschafft, Crystal zurückzugewinnen, gegen jedes bessere Wissen? Es darf verraten werden, dass die Geschichte wieder mal so ausgeht wie viele von Martins frühen Erzählungen, nämlich mit einer bitteren Enttäuschung. Der „Turm aus Asche“, in dem Bowen wohnt, ist ein Symbol für den Zustand seines Herzens.
Bemerkenswert ist jedoch, dass er im Augenblick der Entscheidung die Realität ganz anders wahrgenommen hat als seine beiden Begleiter. Und das sagt vielleicht mehr aus über ihn als der Rest der Geschichte. Ansonsten kommt die Story völlig ohne Technik und Wissenschaft aus. Crystal beispielsweise sammelt und beurteilt Kunstgegenstände von Fremdweltlern. Das ist einer der Gründe, der sie zu ihrem Johnny zurückführt. Wirklich nur einer, wer weiß?
10) Das bleiche Kind mit dem Schwert (And seven times never kill man, 1975***)
Der Sternenhändler Arik neKrol mag das friedliche Volk der Jaenshi, das in kleinen Sippen in den Wäldern der Welt Corlos lebt. Doch seit der Ankunft der Sternenkrieger werden die Jaenshi abgeschlachtet und ihre dunkelroten Bet-Pyramiden, die als Kirchen oder Altäre zu fungieren scheinen, regelmäßig mit Lasergewehren zerstört. Seit ein Jaenshi einen dieser „Stahlengel“ getötet hat, werden sie reihenweise massakriert und zur Abschreckung aufgehängt. Diese Spartiaten der Sterne machen keine halben Sachen.
Der Proktor der Sternenkrieger, Wyatt, erklärt seine Weigerung, die Jaenshi zu verschonen, damit, dass sie nach dem Glauben Bakkalons, seines Gottes, seelenlose Tiere sind, und Seelenlose seien nun mal auszumerzen. Bakkalon ist als bleiches Kind mit einem Schwert in der Hand symbolisiert, und dieses Symbol hängt dem Proktor um den Hals. Die Krieger führen also eine Art heiligen Krieg. Als Arik neKrol die Sternenhändlerin Jannis Ryther um Hilfe für die Jaenshi bittet, gibt sie ihm heimlich gerade mal zwei Lasergewehre – längst nicht genug für einen Aufstand.
Der Händler weiß sehr wohl, dass die Jaenshi keine Tiere sind: Sie haben einen Glauben, sind ausgezeichnete Handwerker und Künstler und leben in Frieden miteinander. Der Älteste der Wasserfall-Sippe lehnt es ab, seinen Stamm mit dem Gewehr zu verteidigen, das neKrol ihm anbietet, sehr zu dessen Bestürzung. Wie lange wird er noch via Jannis Ryther Jaenshi-Schnitzereien verkaufen können?
Der lange Winter bringt eine Verschnaufpause, und Arik ergreift die Gelegenheit, sippenlose Jaenshi wie „die Bittere“ in Menschendingen und Waffenkunde zu unterrichten. Schließlich hat er acht Sippenlose beisammen, als der Winter endet und die Stahlengel aus ihrer Festung ausschwärmen, um den Wald zu roden und die letzten Jaenshi auszumerzen.
Die Überlebenden der Sippen sammeln sich beim Wasserfall-Clan. Sie haben jedoch nicht Widerstand im Sinn, sondern Gebet. Alle legen ihre Hände auf die Pyramide ihrer Gottheit – um was zu erreichen, fragt sich Arik. Als die Stahlengel aus dem Wald hervorbrechen und drohen, alle umzubringen, ereignet sich ein Wunder: Bakkalon erscheint in der Pyramide…
Mein Eindruck
Das Thema dieser zunehmend spannenden Erzählung ist ziemlich amerikanisch: Die Eroberer von jenseits der Welt rauben das Land der Eingeborenen, was aber nicht ohne Ausrottung selbiger zu bewerkstelligen ist. Das klingt doch stark nach der Conquista der beiden Amerikas durch Spanier, Portugiesen und Engländer.
Die Eroberer verfügen zudem über die entsprechende Ideologie der rassischen Überlegenheit und göttlichen Sendung, die es ihnen erlaubt, die Eingeborenen einfach als „seelenlose Tiere“ abzustempeln. Diese „Tiere“ üben unbewaffneten Widerstand, wenn überhaupt. Sie könnten die unbewaffneten Massen darstellen, die Mahatma Gandhi auf die Straße brachte, um die Briten aus Indien zu vertreiben. Der Haken dabei: Die Jaenshi beten bloß – und schnitzen Figuren aus einer fernen Vergangenheit, deren Götter nicht einmal sie mehr kennen. Die Betpyramiden werden dezimiert. Worin liegt also eine berechtigte Hoffnung für sie?
Der Clou an diesem tristen Szenario liegt in der Religion der beiden Seiten begründet. Als sich die Figuren der Jaenshi inner- und außerhalb der Betpyramide in Abbilder Bakkalons, des Götzen der Eroberer, verwandeln, zeigt sich, wie verwundbar die Stahlkrieger in Wahrheit sind. Sie nehmen die große Bakkalonstatue wie ein Trojanisches Pferd in ihre Festung auf und verehren es. Auf einmal sind sie ganz friedlich und denken nicht mehr an Ausrottung und Eroberung. Wenn das der tapfere Arik noch hätte erleben dürfen…
Der O-Titel ist ein Zitat aus Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“. Das entsprechende Gedicht ist stets dem Text vorangestellt.
11) Die Steinstadt
Holt ist ein Sternenfahrer, der sich einst als junger Mann auf den Weg machte, den Weg zum Mittelpunkt der Galaxis zu finden – seine Heimatwelt Ymir (benannt nach dem Eisriesen der nordischen Sage) war ihm einfach zu trist, zu kalt, außerdem sehnte er sich nach den echten Sternen, von denen er bis dato nur die Namen gekannt hatte. Nun ist er auf Graurast, der Welt der antiken Steinstadt, gestrandet, und es sieht ganz so aus, als würden die fuchsartigen Verwalter ihn bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vertrösten. „Ja, du wirst eine Koje bekommen, ganz bestimmt, du bist ja ein ausgewiesener Sprungtechniker – sobald ein Schiff ankommt…“
Die mit ihm gestrandete Mannschaft der „Pegasus“ ist mittlerweile nach Jahren des Wartens stark dezimiert worden, durch drakonische Strafen und vieles mehr. Die einst liebliche, mittlerweile zur fetten Schnapsdrossel gewordene Alaina sowie der dürre Takker-Rey leisten ihm noch Gesellschaft auf der Durchgangswelt, auf der es von Fremdweltern nur so wimmelt. Menschen sind hier eindeutig in der Minderzahl. Wer wie Holt als Dieb seinen Lebensunterhalt in der Stadt der Schiffslosen verdient, muss vorsichtig genug sein – Diebe sind nämlich alle anderen, die sich auf der Straße befinden, auch.
Holt hat in den Ruinen der Steinstadt seinen verborgenen Unterschlupf. Hier zeichnet Jeff Sunderland, ein weiterer Gestrandeter der „Pegasus“, Karten von der Steinstadt, die er wie besessen erkundet. Seit einem Jahr sucht er und findet doch keine Spur vom dort verschollenen Kapitän. Als Holt einen Raumhafenbeamten vor Wut erwürgt, sucht er in den Tiefen der Steinstadt Zuflucht – und stößt auf ein Labyrinth, das es mit den Weiten des Universums aufnehmen kann…
Mein Eindruck
Die Novelle zeigt, dass der Autor seine Kunst verfeinert hat. In chronologisch gestaffelten Rückblenden berichtet er von Michael Holts Werdegang und Erlebnissen, bis es zum verhängnisvollen Sprung der „Pegasus“ kommt, der zu der Ankunft auf Graurast, der Welt der Steinstadt, führt. Dieser Überlicht-Dimensionssprung spielt für das Ende der Geschichte eine wesentliche Rolle, weshalb er ziemlich spät geschildert wird.
Der Sprung ist nämlich keine rein physikalische Angelegenheit, sondern vielmehr eine psychische, da die Astronauten dabei unter Drogen stehen. Die Tiefen der Steinstadt entsprechen diesem Dimensionssprung genau, und sie zu erkunden, ist wie ein Drogentrip, der von Welt zu Welt führt. Mit anderen Worten: Das ganze Universum befindet sich in Holts Kopf…
Tja, wer dachte, die bekifften Autoren der Sechziger Jahre seien ausgestorben, wird nun eines Besseren belehrt. Andererseits erinnert die Story an das Jahr 1977, also im Jahr der Veröffentlichung dieser Erzählung, einsetzende STAR-WARS-Universum: voller seltsamer Aliens, von denen die meisten entweder nerven (die Fuchsartigen) oder Opfer (von Holts Diebesraubzügen) oder einfach nur geheimnisvoll sind. Aber ein Imperium gibt es hier ebensowenig wie eine Republik, von einem Krieg ganz zu schweigen. Im Gegenteil: Der wirksamste Mechanismus, der Veränderungen bewirkt, ist einfach Entropie – banaler Verfall.
Dennoch macht der Ausgang der Geschichte Hoffnung: Statt in ferne Weiten aufzubrechen, sollten junge Leute vielleicht besser in die Tiefen ihres eigenen Geistes eintauchen. Dort finden sie – etwa durch Geschichtenerzählen – alle Sternen, die sie brauchen.
12) Bitterblumen (Bitterblooms, 1977)
Die 16-jährige Shawn versucht ihren Vater/Bruder/Liebhaber Lane zu begraben. Er ist ein Opfer der Vampire geworden. Doch der Boden auf dieser kalten Welt ist besonders im Tiefwinter hart wie Stahl, und so kann sie ihn beschämt nur mit dem Holz ihres Unterstandes bedecken – nicht genug Schutz vor den Windwölfen und Vampiren ihrer Welt.
Zwei Wochen dürfte sie für den Rückweg nach Carinhall, ihrem Dorf, brauchen. Ihre Vorräte reichen aber längst nicht so lange. Sie will bereits mit ihrem Leben abschließen, als sie ein helles Licht vom Himmel herabschießen sieht. Sie folgt seiner Spur vorsichtig, stets auf der Hut vor den geflügelten Blutsaugern. Vor dem dreibeinigen, tropfenförmigen Metallgebilde, das sie schließlich erblickt, wächst eine hellblaue Blume. Doch dieses ungewöhnliche Gewächs lässt sich nicht aus dem Boden ziehen. Als ein Vampir schließlich Shawn angreift, wird er vom Schuss einer anderen Waffe getroffen. Shawn verliert das Bewusstsein.
Shawn erwacht im Inneren des dreibeinigen Gebildes auf einem weißen Bett, entkleidet von einer freundlich dreinblickenden Frau, die ihren Namen zu kennen scheint: Shawn aus Carinhall. Sie selbst nennt sich Morgan und eine Zauberin. Sie mag freundlich lächeln, doch nach einer Weile erinnert sich Shawn an eine schlimme Geschichte, die sie einmal hörte: Morgan habe einmal eine Sippe mit Essen aus Träumen und Luft ernährt, bis alle verhungert waren.
Doch Morgan, die freundliche Zauberin, erstickt ihren Protest und zeigt ihr Wunder über Wunder, die alle in einem großen Fenster in der Wand erscheinen. Fremde Welten, fremde Völker, interessante Leute, faszinierende Geschichten. Beinahe ist Shawn versucht, der Zauberin Vertrauen zu schenken. Bis die Sache mit den Bitterblumen, die Shawn draußen vor dem Schiff erblickt hatte, eine fatale Unstimmigkeit offenbart…
Mein Eindruck
Auf den ersten Blick scheint „Bitterblumen“ die scheinbar einfache Story einer Verführung und der Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Frauenfiguren zu sein. Doch viele Dinge bleiben ungesagt. Shawn etwa ist vollständig in ihre Sippe eingebettet und kann ohne sie nicht existieren. Dass sie ihren nächsten Blutsverwandten zum Liebhaber hat, verrät uns, dass der Genpool der Sippe inzwischen derart klein geworden ist, dass Inzest zur Regel erhoben worden ist. Wie lange dies in gesundheitlicher Hinsicht gutgehen kann, steht auf einem anderen Blatt.
Außerdem ist Shawn – jede Shawn – der Göttin Carin versprochen, die in Carinhall verehrt wird. So gelingt es Morgan, der Sternfahrerin, auf Shawn Anspruch zu erheben. Sie sei die Stellvertreterin Carins. Außerdem verdankt Shawn ihr das Leben. Morgan ist sehr von sich eingenommen, obwohl sie sich als Einzelgängerin nur auf die Funktionsfähigkeit ihrer „magischen“ Technik verlassen kann. Sie kennt bestimmt Arthur C. Clarkes Axiom, demzufolge „jede genügend fortgeschrittene Technologie nicht von Magie unterschieden werden kann“. Mit ihrer magischen Technik und den Geschichten von fernen Welten, wo ihre Freunde leben, verführt sie Shawn. Diese ist schließlich versucht, ihr Leben in Morgans Hände zu legen und ihre Eiswelt zu verlassen.
Doch es verläuft ein feiner Riss zwischen der trügerisch magischen Technik und der Realität. Das Trugbild, das Morgan errichtet hat, bekommt durch das Auftauchen der Bitterblumen Risse und wird als solches erkennbar. (Ich verrate nicht, was der Clou daran ist.) Shawn kehrt erstarkt mit viel Glück zu ihrer Sippe zurück und baut dort vieles wieder auf, was am Rande des Ersterbens gelegen hatte. Sie muss allerdings den Ältesten davon überzeugen, dass nicht alles, was sie erzählt, erstunken und erlogen ist. Als Beweis hat sie die Bitterblumen. Die Geschichte endet also gut – und mit einer ironischen Pointe.
Letzten Endes geht es um die erneute Frage, ob es sich lohnt, die Sterne zu befahren, wenn doch die Erde so viel wichtigere Aufgaben bereithält. Und wir erfahren von zahlreichen Gestalten und Namen, die schon in der „Steinstadt“ auftraten und später auch in „Der Weg von Kreuz und Drachen“. Somit stellt „Bitterblumen“ einen wichtigen Baustein in Martins Future History dar.
13) Der Weg von Kreuz und Drachen (The way of cross and dragon, ca. 1977)
Mit der Besiedlung des Weltalls hat auch die Römisch-katholische Kirche ihren Einflussbereich ausgedehnt. Die Ritter der Inquisition, angeführt vom Großkomtur und Erzbischof Torgathon, einem vierarmigen Fremdweltler von erlesener Hässlichkeit, verfolgen im Namen der Einzig Wahren Interstellaren Katholischen Kirche jedwede Ketzerei und Irrlehre. Damien, der von Torgathon herbeigerufene Ritter, erhält einen neuen Auftrag auf Arion: „Dort wird Judas Ischariot als Heiliger verehrt“, sagt Torgathon, und Damien schaudert.
Auf dem langen Flug nach Arion findet Damien viel Gelegenheit, das ketzerische Buch „Der Weg von Kreuz und Drachen“ zu lesen. Es ist eine krude Mixtur aus Fantasy, dem Ewigen Juden, Paulus und natürlich Judas. Dabei spielen anfangs Drachen eine wichtige Rolle. So einen Drachenkönig findet auch Damien recht dramatisch, doch dann wird Judas von Jesus, dem er dienen wollte, nach dessen Kreuzigung und Wiederauferstehung bestraft, mit Blindheit, Heimatlosigkeit und mehr: Judas hat Jesu Ideale verraten. Kein Wunder, dass der Märtyrer zum Heiligen aufsteigt.
Die Kirche der Judas-Anhänger, die im Zentrum der Hauptstadt aufragt, ist ziemlich leer, aber teuer gebaut. Lukyan Judasson, der Damien empfängt, bekennt in seinem Büro freimütig, dass er die ganze Geschichte des Buches von A bis Z erfunden und erlogen habe. Damien ist erst einmal ziemlich baff und fragt nach dem Grund. Lukyan denkt, dass alle Religionen und ihre Glaubenssätze einfach nur Lügengebäude sind. Auch die vier legitimen Evangelien bestünden wahrscheinlich nicht zu hundert Prozent aus Wahrheit, zumal sie über hundert Jahre nach Jesu Tod in Neugriechisch verfasst wurden. Jesus aber sprach Aramäisch.
Doch dann geht Lukyan zum Angriff über: Er will Damien für seine Kirche gewinnen. Dafür setzt er die Kräfte des eigentlichen Gründers seiner Kirche ein, und dieser Johannes A. Kreuz ist ein Telepath…
Mein Eindruck
Die spannende Frage lautet natürlich, ob der Inquisitor Damien selbst vom rechten Glauben abfallen wird. Kann er dem Telepathen, der die Irrlehre erfunden hat, Widerstand leisten, ja, will er es überhaupt? Vielleicht erweist sich der Aufenthalt auf Arion als sein Damaskus-Erlebnis und bekehrt ihn seinerseits. Ob er die Probe besteht, darf hier nicht verraten werden.
Martin stellt sich hier, je nach Blickpunkt, auf einen Standpunkt, der die fundamentalistischen Christen seines Heimatlandes USA herausfordern musste. Glaubensgebäude als – mehr oder weniger – gut erfundene Lügengespinste hinzustellen (wenn auch von einem Ketzer), würde auch heute noch, 40 Jahre nach Veröffentlichung, einige Leute herausfordern und auf die Barrikaden treiben.
Zum Glück ist die Religionskritik seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als Ludwig Feuerbach damit anfing, ein gutes Stück vorangekommen. Bibelgrundlagenforschung, Quellenanalyse und vieles mehr erlauben es heute, von mehr als dreihundert Evangelien zu sprechen. Sie wurden alle nach Jesu Tod für die versprengten Christengemeinden des Nahen Ostens geschrieben, darunter auch das Evangelium des Judas. (Dazu gibt es eine Doku-DVD der National Geographic Society.) So ganz daneben liegt Martin also nicht. Die Argumente, die er Damien und Lukyan austauschen lässt, sind auch heute noch nachdenkenswert.
Der Name Arion ist eine Anlehnung an die Sekte der Arianer, die von den „rechtgläubigen“ Christen ab dem 4. Jahrhundert als Häretiker verfolgt wurde. Der Name „Lukyan“ erinnert an Lukian von Samosata, der nicht nur eine Geschichte über eine Reise zum Mond veröffentlichte, sondern auch ein wichtiges Buch über die Natur der Dinge. Martin kennt sich offenbar mit jener spätantiken bzw. frühchristlichen Epoche gut aus.
Die Übersetzungen
***: ins Deutsche „übertragen“ von Tony Westermayr, der für den Goldmann-Verlag dessen SF-Reihe herausgab – und völlig alleine übersetzte. Dabei ist zu beachten, dass Westermayr stets ein eigenartiges Verständnis an den Tag legte, was eine „Übersetzung“ ausmacht, so etwa auch Kürzungen, Raffungen und vieles mehr.
S. 52: „Opferalter“ statt „Opferaltar“. Ein kleines Beispiel für die Druckfehler.
S. 360: „…was einmal eine Jaenshi-Betpyramide gewesen [war].“ In Westermayrs-Übersetzung fehlt das Wörtchen „war“ ebenfalls.
S. 377: „Der Wind (!) steht bevor, Proktor, und es ist viel zu tun.“ Gemeint ist nicht Wind, sondern Winter! Dann ergibt der Satz einen Sinn. Dies ist ein typisches Beispiel für Westermayrs Unfug – und ein trauriger Beleg für mangelnde Sorgfalt des HEYNE-Korrektorats. Wahrscheinlich war es durch Westermayrs Frechheit überfordert.
Unterm Strich
Viele der Erzählungen in den Abschnitten 2 und 3 dieses Bandes sind bereits moderne SF-Klassiker. Sie wurden völlig zu Recht preisgekrönt und bedürfen keines weiteren Lobs. Man sollte sie einfach lesen und genießen. Dass der Heyne-Verlag auch die darin zu findenden Schnitzer des Originalübersetzers Tony Westermayr trotz dessen schlechten Rufes übernommen hat, löst hingegen weniger Begeisterung aus.
Der erste Abschnitt des Bandes ist hingegen eine Frage des Interesses: Will der Leser wirklich wissen, welche vorzeigbaren Ausrutscher sich der mittlerweile weltbekannte autor in seiner Jugend geleistet hat? Dieser Abschnitt ist für die Sammler, an die sich dieser Band richtet, jedoch von großem Interesse.
Außerdem entschuldigt sich der Autor selbst dafür, dass er zwei nicht-phantastische Geschichten in seine Auswahl aufgenommen hat. Diese Erläuterungen in den autobiographischen Anmerkungen sind das Sahnehäuchen, das die gesammte TRAUMLIEDER-Trilogie so attraktiv für Sammler macht – und hoffentlich auch für SF-Einsteiger. Mit milder Selbstironie erwirbt sich der Autor schnell die Sympathie des Lesers, und wer SF-Fan ist, kann seiner Begeisterung etwa für Robert A. Heinlein beipflichten – oder sie vehement ablehnen. Heinleins Jugend-SF-Bücher (siehe meine Berichte dazu) sind alle OK, aber sein Spätwerk ist ein Objekt des Streits. Es lohnt sich, darauf zu achten, wie Martin sein Vorbild verarbeitet hat.
Dieser Band enthält leider nur das erste Drittel aller Stories, das ist ein kleiner Wermutstropfen. Schwer wiegt das Manko, dass ein Verlag, der sich das Image von Experten zugelegt hat („www.diezukunft.de“), keinerlei Originaltitel und keine bibliografischen Angaben abgedruckt hat. Das ist für Sammler wenig hilfreich. Alle entsprechenden Angaben in dieser Rezension stammen von mir selbst, zusammengetragen aus allen verfügbaren Quellen. Das Fehlen dieser Angaben sowie die Druckfehler (s. o.) führen zu Punktabzug.
Broschiert: 544 Seiten
Info: Dreamsongs vol. 1, 2003
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453316119
www.heyne.de
Der Autor vergibt: