George R. R. Martin – Traumlieder 2. Erzählungen

Meisterliche SF-Classics

Drei Bände von Martins Erzählungen bringt der Heyne-Verlag häppchenweise auf den Markt. Der zweite Band umfasst einige seiner besten Novellen, darunter „Sandkönige“ und „Nachtgleiter“, beide aus dem Jahr 1980.

Das Beste sind allerdings die autobiographischen Skizzen des Autors selbst. Wer Martin kennt, ahnt schon, dass darin eine Menge Selbstironie stecken muss.

Der Autor

George R. R. Martin, 1948 in Bayonne/New Jersey geboren, veröffentlichte seine ersten Kurzgeschichten im Jahr 1971 und gelangte damit in der Fantasy-Szene zu frühem Ruhm. Gleich mehrfach wurde ihm der renommierte Hugo Award verliehen. Sein mehrteiliges Epos Das Lied von Eis und Feuer wird einhellig als Meisterwerk gelobt, dessen neunter Band im Mai 2012 auf Deutsch erschienen ist. George R. R. Martin lebt in Santa Fe, New Mexico. (Erweiterte Verlagsinfo)

Die Erzählungen

A) DIE ERBEN DER SCHILDKRÖTENBURG (autobiographisch)

Das Generalthema dieser Notizen ist FANTASY. Denn darum dreht sich der erste Abschnitt von Erzählungen. Fantasy als separates Genre existierte bis Ende der sechziger Jahre gar nicht in den USA. Das wurde erst durch den phänomenalen Erfolg des Raubdrucks von Tolkiens „Herr der Ringe“ (ab 1966) ermöglicht: „Gandalf for president!“ Tolkien, R.E. Howard und Fritz Leiber waren Martins Lieblingsautoren.

Nach ein paar Gehversuchen in diesem Genre konnte er allerdings erst 1976 die erste Profi-Story verkaufen. Aus den jeweils geplanten Serien und Sharra, Adara und Alys der Grauen wurde – wieder mal – nichts. Aber aus dem Eisdrachen machte er doch noch ein eigenständiges Kinderbuch – und so sollte man die Geschichte auch lesen.

1) Die einsamen Lieder Laren Dorrs (The Lonely Songs of Laren Dorr, ca. 1976)

Sharra mit der dunklen Krone ist eine Wanderin zwischen Welten. Sie kennt die Tore, doch diese haben Wächter, die von den sieben Herrschern aller Welten eingesetzt wurden. Der letzte Wächter hat Sharra verletzt, bevor sie in Larens Welt fliehen konnte. Nun bricht sie entkräftet zusammen, und Laren bringt sie auf seine Burg, wo sie vor den Kreaturen der Nacht sicher ist.

Er ist das einzige menschliche Wesen auf seiner Welt, sagt er – oder sollte man sagen: göttliches Wesen? Nachdem sie wieder zu Kräften gekommen ist, stellt er sich mit ihr auf die höchste Zinne der Burg und zeigt ihr seine Welt. Diese bewegt sich quasi um die Burg. Doch auch nach dieser Tour de force ist er nicht etwa aufgeregt, sondern melancholisch wie stets: Diese Welt hat ihm nach all den Äonen nichts Neues zu bieten. Er sehnt sich nach seinem eigenen Volk, über das er einst glückhaft herrschte – und das ihm die Sieben nahmen, um ihn zu bestrafen. Die einsamen Lieder, die er ihr auf den Saiten seines Instruments vorspielt, schildern sein trauriges Schicksal.

Sie erklärt sich dazu bereit, einen Monat zu verweilen, quasi als Trostpflaster für seine Wunden. Er soll sich aber bloß keine Schwachheiten einbilden, denkt sie wohl – und erzählt ihm sogleich, dass ihr Herz bereits dem heldenhaften Kaydar gehöre, der sie einst zum Lachen brachte. Nun, Laren bildet sich keine Schwachheiten ein, findet aber doch den Weg in ihr Himmelbett.

Alle guten Dinge müssen enden. So auch diese Liebe. Der Tag kommt, an dem er ihr das Tor zeigen soll, das zur nächsten Welt führt. Es befindet sich in einem verfallenen Turm seiner Burg. Doch wo ist der Wächter, fragt sie bangen Herzens…

Mein Eindruck

Abgesichts der blassen Sonne und der energielosen Welt, in der Laren Dorr lebt, fühlte ich mich sofort auf die sterbende Erde des Storyzyklus „The Dying Earth“ von Jack Vance zurückversetzt. Der Autor kannte dieses Werk bereits, ebenso wie eine Menge anderer heroischer Fantasy. Aber im Gegensatz zu Jack Vance entbehrt Martins Story jeder Art von Humor, außer vielleicht in der Pointe.

Die Geschichte ist bittersüß, ebenso melancholisch wie die Titelfigur, doch kommt zwischendurch Hoffnung auf eine Liebe auf, die von Dauer sein könnte. So aber erweist sie sich als die männlich gewendete Geschichte von der Nymphe Nausikaa, die Odysseus, den Seefahrer, jahrelang von der Weiterfahrt abhalten wollte. Nausikaa wie Loren haben ihre Besonderheit darin, dass sie jeweils bestimmte Reize nutze, um den jeweiligen Wanderer zum Verweilen zu bewegen. „Verweile doch, du bist so schön, möcht‘ ich zum Augenblicke sagen“, spricht Dr. Johann Faust. Bei Loren sind es die traurigen Lieder, die Sharra betören. Schade, dass wir sie nicht auch hören können.

2) Der Eisdrache (1980)

Adara ist ein Winterkind. Nur sie kann auf dem Eisdrachen reiten, der die Kälte bringt. Als der Krieg näherkommt und die Drachen des Königs einer nach dem anderen vom Feind besiegt werden, scheint es keine Rettung zu geben. Da träumt Adara von ihrem einzigen Freund, dem Eisdrachen. Zusammen reiten sie. Doch kann Eis auch Drachenfeuer standhalten?

Mein Eindruck

Die Geschichte ist von klassischem Zuschnitt. Ein Kind – man denke an die junge Daenerys – verfügt über eine Eigenschaft, die es andersartig macht und damit ausgrenzt. Die emotionale Beziehung zu ihrem Vater ist zwiespältig, weil er ihr die Schuld am Tod seiner Frau gibt. Diese Kluft trägt später dazu bei, dass Adara nicht bei ihm bleibt, sondern im Moment der Gefahr fortläuft. Das dürfte jedem kindlichen Leser auffallen.

Dass dieses andersartige Kind auch einen ungewöhnlichen Freund gewinnt, dürfte nicht verwundern. Zusammen sind Adara und der Eisdrache ein Paar, doch wozu sollen gut sein, fragen sich ihre Geschwister. Das zeigt sich, als es darauf ankommt, den Feind zurückzuschlagen. Was diese Freundschaft wert ist, erweist sich nicht nur im Kampf, sondern auch im besonderen Opfer, das der Eisdrache seiner Freundin bringt: Er schmilzt ja in der Sommersonne.

Und dieses Opfer verändert Adaras Körpertemperatur nachhaltig. Fortan kann sie nicht mehr mit den Eisechsen spielen. Sie würden in ihrer Hand verbrennen. Jetzt ist Adara wie alle anderen, denn das Opfer ihres Freundes hat sie vom Geschenk bzw. Fluch der Kälte erlöst. Es ist eine Lektion, die jedes Kind, das Liebe und Freundschaft braucht, begreifen wird.

Die kindgerechte Geschichte von der kleinen, kaltblütigen Adara und ihrem einzigartigen Freund, dem großen Eisdrachen, erinnert von ihrem Ausgangspunkt her schon an das spätere Epos „Die Herren von Winterfell“, in dem es auch ziemlich kühl und kriegerisch zugeht.

Dass der Krieg zur kleinen Heldin kommt, ist für ein Kinderbuch etwas ungewöhnlich und anspruchsvoll. Aber der junge Leser wird ganz behutsam auf das Erscheinen des Feindes vorbereitet, denn erst kommen die Flüchtlinge, die Verwundeten, dann die Hungernden und schließlich erst die schrecklichen Drachen, die alles niederbrennen.

Auch das Epos-Motto „Ein Lied von Feuer und Eis“ ist hier schon umgesetzt, denn es sind ja die Vertreter des Eises, Adara und ihr Eisdrache, die es mit den feuerspeienden Drachen des Feindes aufnehmen. Wer jetzt noch kein Freund des Winters ist, der wird mit Adaras Geschichte eines Besseren belehrt. Doch der Winter kann nicht ewig dauern, weder draußen in der Natur, noch drinnen in Adara: Der Frühling ist innen wie außen eine Zeit der Erlösung und des Aufbruchs, des Neuen und des Wachsens. Das gilt auch für kleine ungewöhnliche Mädchen wie Adara.

3) Das verlassene Land (In the Lost Lands, 1982)

Die schöne und kluge Lady Melange hat alles, was das Herz begehrt – bis auf eine Sache. Und so schickt sie ihren treuen Lieblingsritter Jerais den Blauen zu Alys der Grauen, denn diese ist voller Geheimnisse. Die graue Frau altert nie und wies es scheint, kann sie jede gewünschte Gestalt annehmen. Ein Beuel voller Edelsteine weckt das Interesse von Alys und sie fragt Jerais nach dem Begehr der Lady Melange. „Sie will sich in einen Wolf verwandeln können“, antwortet der Ritter. Alys sagt ihre Hilfe zu: „Ich weise keinen ab.“ Doch der Ritter offeriert einen Saphir: „Ich wünsche, dass du keinen Erfolg hast.“ Wieder sagt sie: „Ich weise keinen ab.“

Alys hat vier Wochen Zeit, ihr Werk zu vollbringen. Zwei Wochen vergehen, um Nachrichten zu verbreiten, die schließlich auch das Verlassene Land erreichen. Von dort kommt Boyce mit dem selbstsicheren Lächeln. Er will sie zu einem der Werwölfe bringen, die das Verlassene Land zu einem Ort des Grauens gemacht haben. Schon nach wenigen Tagen überwindet Alys‘ Wagen den Gebirgspass, und das öde Land liegt vor ihr. Weitere Tage, und der Vollmond geht auf: Boyce verwandelt sich.

Er denkt, er habe leichtes Spiel mit der grauen Frau, die er gerade noch geliebt hat, doch sie hat Vorkehrungen getroffen. Mit einem speziellen Federkleid verwandelt sie sich in einen Adler. Mit den silbernen Klingen an ihren Krallen beginnt sie, die Haut des Werwolfs zu verwunden, bis er entkräftet zu Boden sinkt. Er fleht und beteuert seine Liebe, klagt und gelobt Besserung – nichts hilft gegen das, was sie nun offenbar vorhat. Als der Vollmond erneut aufgeht, ist er am Boden gefesselt und beginnt sich zu verwandeln. Sie hält das Häutemesser schon bereit…

Mein Eindruck

Eine wunderbare Story im Genre von Sword & Sorcery, mit einer starken Frau als Hauptfigur. Man sollte meinen, Alys säße in einer Zwickmühle, doch weit gefehlt. Sie erkennt, was Jerais in Wahrheit will: die Lady Melange selbst. Er soll sie bekommen – als Werwölfin. Die Moral von der bösen Geschicht‘: Alys weist keinen Kunden ab, aber man sollte sich wirklich zweimal überlegen, ob man sich an sie wenden will.

Die Erzählung ist in der Manier großer Vorbilder wie R.E. Howard und Fritz Leiber geschrieben, doch nimmt sie durch die Hauptfigur die magisch-erotischen Geschichten von Tanith Lee und Jessica Salmonson (für deren Anthologie „Amazonen“ das Stück gedacht war) vorweg. („Amazonen“ erschien bei uns im Bastei-Lübbe Verlag.)

B) HYBRIDE UND HORROR (autobiographisch)

Es gab auch kein Horrorgenre, als Martin aufwuchs, doch was er zu lesen bekam, waren Monster-Stories. Viel einflussreicher aber waren Horror Movies! FRANKENSTEIN, BRIDE OF FRANKENSTEIN, WOLF MAN, THE INVISIBLE, dann auch das alberne THE MUMMY – diese Universal-Klassiker war Martins Horrorfutter jeden Samstag im lokalen Flohkino. Spät abends gab’s auch in der Flimmerkiste Horror, meist Zeug von William Castle.

Das alles war nicht befriedigend, als er Lovecraft entdeckte. HPL wurde – neben RAH und JRRT – zu seinem Gott und brachte ihn auch auf eine verhängnisvolle bzw. folgenreiche Idee. Wenn schon der Roman „Berge des Wahnsinns“ eine Hybridmischung aus Horror und Science-Fiction sein durfte, dann konnte man an John W. Campbells Hybridmischung in „Who goes there?“ (dt. Filmtitel: „Das Ding aus einer anderen Welt“, verfilmt von William Wyler) erst recht nichts aussetzen. Tatsächlich hatten die so gegensätzlichen Autoren erstaunlich viel gemeinsam, wenn es um ihre Hybriden ging. Warum also nicht auch so etwas versuchen?

Die Beschreibung, wie er versuchte, es dem Herausgeber Harlan Ellison rechtzumachen, um unbedingt in dessen Anthologie „The Last Dangerous Visions“ aufgenommen zu werden, ist pure Komödie. Monatelang schrieb Martin an der ersten Fassung von „Der Fleischhausmann“, nur um sie 1974 mit der Bitte um Überarbeitung zurückgeschickt zu bekommen. Er „riss sich die Gedärme heraus und fügte noch etliche Tropfen Blut auf jeder Seite“ hinzu.

Doch auch diesmal lehnte der erhabene Maestro sie ab – Martin würde immer noch wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen, so die Kritik. Da gab Martin auf: Wenn’s Herzblut nicht mal reicht… Er verkaufte sie 1976 an Damon Knight für eine Ausgabe von „Orbit“, einer sehr guten Anthologiereihe, die deutsch bei S. Fischer erschien.

Mit „Sandkönige“ und „Nachtgleiter“ sind zwei von Martins bekanntesten Stories abgedruckt. Beide wurden verfilmt, und aus „Sandkings“ wollte man sogar ein Computerspiel machen.

4) Der Fleischhausmann (1976)

Auf dem Planeten Skakky lernt Greg Trager, was es heißt, Leichen zu führen. Skakky ist eine Minenwelt, und Bergbau ist ein harter Job. Da hilft es, die Leichen einzusetzen, um die riskante Dreckarbeit zu erledigen. Die Leichen sind insofern tot, als sie ein synthetisches Gehirn besitzen, das sie zu willenlosen Marionetten ihrer telepathischen Führer macht. Ansonsten sehen sie aus wie normale Menschen auch, nur wesentlich blasser.

Das Fleischhaus ist der Ort, an dem sich junge Kerle wie Trager erst bewähren müssen. Cox, der Leiter der Minenarbeitertruppe, grinst schon spöttisch, wenn er einen Frischling wie Trager sieht. Das Fleischhaus ist das „Bordell“ der Station, nur dass es hier statt käuflicher Mädchen eben Leichen zu vernaschen gibt. Cox ist es, der Tragers Freude an dieser Nutzung verdirbt: Die Leichen reagieren nur auf die psychische Rückkopplung mit ihrem Benutzer, nicht etwa aus eigenem Antrieb. Die Freude, die Trager nun genommen wurde, sucht er bei echten Frauen. Er findet sie bei Josie.

Das Jahr mit Josie, der Technikerin, ist wunderbar. Mit ihr und ihrer Clique erlebt Trager eine abwechslungsreiche Zeit. Er hat sie vom ersten Augenblick geliebt, erkennt er – und zögert, ihr seine Liebe zu gestehen. Wird sie ihn ablehnen? Nach einem Jahr bringt endlich den Mut dazu auf, aber sie will bloß Freundschaft, keine Liebe. Geknickt verlässt Trager Skakky.

Vendalia ist eine Waldwelt, das heißt, sie war es, bis Trager und seine Baumfäller- und Rodungstrupps gekommen sind. Seitdem hinterlassen sie nur heiße Asche, wo einst Wälder gediehen. Bei den Forstwissenschaftlern lernt er Laurel kennen, keine Leiche, sondern eine echte Frau. Sie ist romantisch veranlagt, und aus den beiden wird ein Liebespaar. Leider lernt sie auch Tragers Freund Donelly kennen – und den liebt sie auch!

Mein Eindruck

Diese für Harlan Ellison (siehe oben) verfasste Story ist die schlechteste des ganzen Bandes . Hier beackert der Autor längst bekannte Banalitäten wie die Verläufe der Liebe, gewinnt den Aspekten der ferngesteuerten „Leichen“ viel zu wenig ab und verliert sich schließlich irgendwo sentimental im Nirgendwo.

Zum Glück hat Ellison das Manuskript mit vollerm Recht zweimal abgelehnt. Der Autor geht einfach nicht weit genug. Es fehlt ihm am Zynismus und der Kaltschnäuzigkeit, die zum Markenzeichen von Ellisons Stilmerkmalen zählen. Vielleicht war er mit 28 Jahren noch zu jung für diese Geschichte. Aber nach dem literarischen gesetz „kill your darlings“ hätte er seinen Helden Trager opfern müssen. Stattdessen traktiert er den Leser am Schluss mit Binsenweisheiten. Nein, danke!

5) Erinnerungen an Melody (1981)

Heute ist Ted ein erfolgreicher Anwalt in Chicago, aber das war nicht immer so. Vor zehn Jahren lebte er als fröhlich-freier Hippie in einer Kommune mit drei anderen Studenten: Anne, Michael – und Melody. Als er die Tür seines Appartements öffnet, steht Melody vor ihm: abgerissen, mager und offensichtlich abgebrannt. Ob sie bei ihm bleiben dürfe? Höchstens eine Woche knurrt. Denn Melody ist eine Landplage.

Wie oft hat er ihr schon geholfen? Er kann sich gut daran erinnern: Es müssen mindestens 2000 Dollar sein. Die sie nie zurückzahlte, weil sie für Drogen brauchte. Nun heult sie ihm was vor, wie mies es ihr gehe, nachdem ihr letzter Macker sie rausgeworfen habe. Melody ist Weltmeisterin im Weinen, eine echte Heulboje. Wenn sie mal nicht weint, dann wird sie giftig: „Du Bastard!“ Wenn man ihr auf die harte Tour kommt, dann geht sie in die Knie und wird mitleiderregend. Auch diese Masche kennt Ted zur Genüge.

Er hat die Nase schließlich so voll, dass er sie auffordert: Sie müsse gegangen sein, wenn er von seinem Abendspaziergang (lies: Sauftour) zurückkäme. Sie verspricht ihm, etwas zurückzulassen, das ihn an sie erinnern würde. Als er zurückkehrt, läuft die Dusche. In der Dusche liegt Melody – leblos. Aber als die Cops die Dusche überprüfen, ist da nichts: Alles ist trocken – bis auf Ted, der offensichtlich ordentlich „getankt“ hat…

Mein Eindruck

„Memory of Melody“ – wie schön das stabreimt! Aber Melody ist sozusagen die fleischgewordene Vergangenheit, an die sich keiner ums Verrecken mehr erinnern will. Und das, obwohl die damalige Zeit das Wunderbarste war, was man sich als junger Mnesch vorstellen kann: ewige Freundschaft, ungezwungener, kostenloser Sex, Abenteuer und Ausleben von Phantasien. Was will man mehr?

Doch die Welt dreht sich weiter, und man entwickelt sich auseinander. Leider rächt sich nun die Sache mit der „ewigen Freundschaft“, die man damals schwor, auf sehr makabre Weise. Melody ist, literarisch gesehen, nicht gerade die Verkörperung einer Rachegöttin, aber eben doch der Preis, den man für die „Good Times“ zahlen muss. Eric Burdon hat darüber ein bittersüßes Lied mit diesem Titel geschrieben: „When I think of all the good times that I wasted having good times.“

Doch nun ist Ted in Melodys Hölle gelandet. Er kann keine Dusche mehr aufsuchen, ohne sie zu sehen. Er kann auch keine Hilfe bekommen. Denn Melody hat auch Michael und Anne besucht. Ewige Freundschaft eben. Und die Ewigkeit währt eine lange Zeit…

6) Sandkönige (Sandkings, 1980)

Simon Kress lebt auf Baldur als schwerreicher Manager. Da unverheiratet, hält er sich stets ein paar Haustiere, die er sammelt. Nach seiner letzten Geschäftsreise, die etwas länger dauerte, sind fast alle Tiere eingegangen. Also sucht er in der Gegend des Raumhafens von Asgard nach Ersatz. Ein Laden, den er noch nie dort gesehen hat, bietet ihm Sandkönige an – „keine Insekten!“, schwört die Verkäuferin, Jalla Wo.

Die kleinen Viecher, die in einem trockenen Terrarium Kolonien bilden, seien vielmehr Psi-begabt und bauten Burgen, die sie verteidigten, um ihre zweigeschlechtliche „Königin“ zu schützen. Außerdem haben die Sandkönige die Fähigkeit, ein Wesen zu verehren. Kress sieht die reizvollen Möglichkeiten und kauft die Tierchen.

In einem Becken seines Wohnzimmers lässt Kress ein großes Terrarium mit vier Burgen und jeweils einer Maw, einer Königin, einrichten und oben abdichten. Nach einer Weile zeigen sich die Mobilen der Weißen, Schwarzen und Roten, doch die Orangefarbenen tauchen erst mit Verspätung auf. Sofort beginnen sie, Burgen zu errichten. Durch Füttern nährt Kress sie, durch Nahrungsentzug zwingt er sie, die anderen „Stämme“ anzugreifen. Die Kriege sind überhaupt das Geilste an der ganzen Sache, findet er. Als er das Hologramm aktiviert, können die Sandkönige sein Konterfei am „Himmel“ sehen und verehren. Schon bald ziert es auch ihre Burgen.

Da er auf Status bedacht ist, lädt er seine Freunde und Bekannten zu einer Party ein, um seine Neuerwerbung stolz vorzuführen. Während einer sofort eine Wette abschließt, er könne ein Wesen auftreiben, das die Sandkönige fertigmacht, protestiert Kress‘ frühere Freundin Cath m’Lane gegen dieses perverse Hobby. Das liegt daran, dass Simon ihren kleinen, sehr geliebten Hund einst seinen „Haustieren“ vorwarf. Nicht nett, aber sehr lustig. Er gedenkt, noch einen draufzusetzen, um sich an ihr zu rächen.

Leider ist Simon Kress nicht nur ein Widerling, sondern auch Alkoholiker. Als Cath wieder bei ihm auftaucht, um sich dafür zu rächen, dass er einen weiteren ihrer Hunde den Sandkönigen vorgeworfen hat, kommt es zum Kampf. In dessen Verlauf stellt sich der verkaterte Simon so blöd an, dass das Terrarium zu Bruch geht – und die arme Cath von einem seiner Schwerter durchbohrt wird. Ups! Dumme Sache. Caths Gleiter ist rasch in einem Vulkan entsorgt, doch ihre Leiche erfordert andere Maßnahmen. Als er den Hunger der Maw der Weißen in seinem Kopf spürt, weiß Simon, was er zu tun hat…

Und das ist erst der Anfang.

Mein Eindruck

Die Story, die sich packend wie ein Drehbuch liest, ist seit ihrer Verfilmung für „Outer Limits“ allgemein bekannt. Dennoch ist sie immer noch spannend zu lesen, besonders wie sich schrittweise die Machtverhältnisse umkehren und die Maws das Kommando übernehmen. Simon bekommt Angst und ruft die Kammerjäger – ein weitere Runde des Unheil beginnt.

Noch faszinierender ist vielleicht der Aspekt der „Verehrung“. Simon spielt bekanntlich Gott mit seinen Tierchen. Anhand ihrer Abbilder kann er den Grad ihrer Verehrung genau ablesen (falls er sich mal im Suff die Mühe macht). Aus dem ursprünglich freundlichen Lächeln wird zusehends ein grimmiges Grinsen, dann eine definitiv boshafte Fratze – das Inbild des Bösen. Wenn die Sandkönige also schließlich das Kommando übernehmen und Simon vertreiben, kommt dies einer Teufelsaustreibung gleich.

Doch es gibt noch eine Wendung. Die Verehrung erstreckt sich auch auf die fleischliche Ebene. Die Sandkönige, die zunächst wie Insekten in einer Kolonie gewirkt haben, mästen sich an den vielen Leichen, die Simon anschleppt, und beginnen sich zu verpuppen. Aus ihnen werden übermannsgroße, vierarmige Zweibeiner, die ein bemerkenswertes Merkmal aufweisen: ihr Gesicht entspricht dem ihres Gottes. Als sie ihn schließlich erwischen, starrt er im Moment seines Todes in seine eigene Fratze…

Dies ist wahrscheinlich Martins beste Story überhaupt und es ist kein Wunder, dass sie mit Preisen überhäuft wurde.

7) Nachtgleiter (Langfassung von „Nightflyers“, 1980)

Royd Eris‘ Raumschiff „Nachtflieger“ ist ein kleiner Trampfrachter, der dennoch dank seines Antriebs für weite Distanzen ausgelegt ist. Daher wird es für die Handvoll Wissenschaftler, die mit ihm hinaus ins All fliegen wollen, ganz schön eng. Royd zieht es vor, gar nicht körperlich in Erscheinung zu treten, sondern nur als Hologramm. Über die Sensoren seines Schiffs kommt er den Eigenarten seiner Passagiere bald auf die Schliche. Was zum Geier hat sie veranlasst, diesen Höllenritt zu unternehmen?

Karoly ist der Nestor der Xenobiologie und befindet sich wie die drei anderen Forscher auf der Spur der geheimnisvollen Volcryn, die seit mindestens 18.000 Standardjahren durchs All ziehen. Wohlgemerkt: mit Unterlichtschiffen, also quasi im Schneckentempo. Nach Angaben anderer Fremdweltler seien sie auf dem Weg aus unserer Milchstraße hinaus in den weiten Raum, der sich bis zur nächsten Galaxie erstreckt. Aber wie müssen die Volcryn beschaffen sein, um derartige räumliche und zeitliche Distanzen überwinden zu können? Dieses Rätsel will gelüftet sein. Hm, meint Royd neutral.

Zu den Forschern zählen ein Telepath und eine Parapsychologin. Der Telepath berichtet ihr, dass er eine nahende Gefahr spüre. Sie bezieht diese Gefahr fälschlicherweise auf den Kapitän, der sich wochenlang nicht hat blicken lassen und nun irgendwie verdächtig erscheint. Ist er etwa selbst ein Alien? Als sie die Wahrheit herausfinden will und dem Telepathen dazu ein Mittel verabreicht, das seine Fähigkeit enorm steigert, warnt sie der Kapitän vergeblich vor diesem Schritt. Zu spät: Der Schädel des Telepathen explodiert.

Ist nun der Kapitän verantwortlich für diesen Tod oder nicht? Als einzige argumentiert Melantha Jhirl gegen diesen üblen und ungerechtfertigten Verdacht. Sie ist selbst ein verbessertes Modell des Menschen und ihre Vernunft behält selbst dann noch die Kontrolle, wenn bei den anderen schon die emotionalen Sicherungen durchbrennen.

Leider begeht auch Melantha einen Fehler: Weil sie Royd nicht genug vertraut, bittet sie ihn, seine Überwachungstechnik abzuschalten. Diese sensorische Blindheit ermöglicht es der Xenosoziologin und der Kybernetikerin, den Hauptrechner des Schiffs zu manipulieren, um so die Kontrolle über die Mission zu übernehmen. Es kommt zu einer verhängnisvollen Kettenreaktion. Denn Royd ist nicht der einzige Pilot an Bord der „Nachtflieger“…

Mein Eindruck

Dies ist die am meisten ausgezeichnete SF-Erzählung des Jahres 1980, ein absoluter Liebling der amerikanischen SF-Leser, vergleichbar nur mit Martins Top-Storys „Sandkönige“ und „Der Weg von Kreuz und Drachen“, aber wesentlich komplexer und vielschichtiger.

Im Grund ist es eine Variation über das Thema Telekinese, also die Bewegung von Objekten mittels Geisteskraft. Ohne zuviel über den zweiten Piloten verraten zu wollen, so liefert das Phänomen doch einige spektakuläre Spezialeffekte (die man wahrscheinlich schon mal in irgendeinem SF- oder Horrorfilm gesehen hat): durch die Luft fliegende Messer und Schneidlasergeräte, aufrecht gehende Leichen, ein gigantisches, nur durch Geisteskraft bewegtes Volcryn-Raumschiff und vieles mehr.

Das zweite Thema ist die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn/Klon, verkörpert in einem Konflikt zwischen körperlichem und geistigem Menschen. Der „Geist in der Maschine“ feiert hier seine unheilige Wiederauferstehung, und wer an den verräterischen Schiffscomputer „Mutter“ in „Alien 1“ denkt, liegt sicher nicht verkehrt. („Alien 1“ ist wiederum die – gerichtliche nachgewiesene – Umsetzung von A. E. van Vogts Story „Discord in Scarlet“ aus dem Jahr 1939.)

Drittens überwölbt der Autor die zahlreichen Konflikte innerhalb der „Nachtflieger“, die in gewisser Weise an die „Pequod“ erinnert, mit einem „sense of wonder“, das er dem lebenden Raumschiff der Volcryn abgewinnt. Es bewegt sich durch Telekinese, wie die Parapsychologin erkennt, und ist lediglich ein einziger Organismus.

Im Vergleich zur suchenden und jagenden „Pequod“ der „Nachtflieger“ ist dies der große weiße Wal: der Moby Dick des Weltalls. Die Forscher wollen ihn jedoch keinesfalls erlegen, und so ergibt sich am Schluss für die Überlebenden eine fantastische Option – dem „Wal“ in die Tiefen einer geheimnisvollen Materieansammlung zu folgen, die als „Schleier des Versuchers“ bekannt ist. Kein Wunder, dass diese geniale Story in ANALOG erschien, dem Magazin für den an Kosmos und Naturwissenschaft orientierten SF-Leser.

8) Die Affenkur (The Skin Trade, 1989)

Kenny Dorchester hat eine große Leidenschaft: Essen. Nach ein paar Jahren hat sein Körper das stattliche Gewicht von 367 Pfund erreicht. Kenny würde es nie zugeben, aber er mag dieses Gewicht nicht, denn es ist ein Hindernis, das ihn von seiner zweiten Leidenschaft abhält: Frauen. Deshalb versucht er alles, um abzunehmen. Er macht Diäten ohne Ende, aber es ist zwecklos. Sein Gewicht bleibt bei 367 Pfund. Die Digitalwaage lügt nicht.

Deshalb haut es ihn fast vom Hocker, als er im Restaurant Slab seinen früheren Leidensgenossen „Boney“ Moroney entdeckt – dürr wie eine Bohnenstange! Sofort setzt sich Kenny zu Boney, um ihm das Geheimnis seiner Hungerkur aus den Rippen zu leiern. Doch Boney, so sein fieser Spitzname, ergeht sich in seltsamen Zuckungen und Verrenkungen, bevor er sich doch dazu bequemt, sein Geheimnis zu verraten: „Die Affenkur“. Er kritzelt eine Adresse auf eine Papierserviette und macht sich aus dem Staub.

Die Adresse liegt in einem derartig verrufenen Hafenviertel, dass der Taxifahrer, der Kenny dorthin chauffiert, nicht mal auf sein Geld wartet und davonbraust. Die Tür des dunklen lässt sich leicht öffnen – schon findet sich der Besucher mitten in einem Wohnzimmer voll schäbigen Mobiliar. Der Mann, der ihn mit breitem Grinsen begrüßt und in einen abgedunkelten Nebenraum bugsiert, weiß sofort, wozu hergekommen ist: „Affenkur!“. Kaum kann sich Kenny aus dem Raum befreien, als er auch schon das Gewicht eines kleinen Affen spürt, der seinen Hals umklammert. Sämtliche Versuche, den Affen loszuwerden, schlagen fehl.

Das wäre noch kein Grund zur Verzweiflung, doch als Kenny wieder Hunger verspürt, kommt die Affenkur voll zur Geltung: Der Affen futtert ihm jeden Bissen vor dem Mund weg! Und das ist erst der Anfang, denn Kennys bleibt auf rätselhafte Weise ständig bei 367 Pfund…

Mein Eindruck

Natürlich kann niemand sonst den Affen auf Kennys Rücken sehen – wie Kenny ja schon bei Boney Moroney bemerkt hat. Kennys Selbstgespräche erweisen sich auch nicht gerade als hilfreich, um sein Ansehen zu steigern – ganz im Gegenteil. Er zieht sich in seine eigenen vier Wände zurück, um den Kampf mit dem Affen aufzunehmen. Ob er es schafft, darf hier nicht verraten werden, aber es kommt natürlich zu einer Krise.

Jedenfalls ist die Affenkur niemandem zu empfehlen, und sei er noch so verzweifelt, sein Gewicht zu reduzieren. Der Autor schildert Kennys Entwicklung als spannende Odyssee, deren Ankunftsbereich völlig offen ist. Wird es ihm so ergehen wie dem armen Moroney? Was anfangs noch recht lustig, ironisch und einfach nur seltsam wirkt, entwickelt sich zunehmend zu beklemmenden Schauergeschichte.

Im Vergleich zu Stephen Kings „Dünner“, das ja verfilmt wurde, mag die Erzählung nicht so drastisch und böse sein. Aber wir haben Sympathie für den Gerne-Esser Kenny Dorchester, denn er ist einer von uns und wir erkennen uns in ihm wieder. Letzten Endes sendet die Story eine Warnung vor dem Esswahn, der Hölle der Diäten (o h ja, auch die Atkins-Diät bleibt nicht unerwähnt) und den Abwegen, auf die manche Menschen geraten. Man denke nur an den Bulimie-Kult unter jungen Frauen. Sie wissen es noch nicht: Aber die Affenkur wird sie für ihr Leben lang zeichnen.

Diese fiese Story wurde 1989 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Der O-Titel bedeutet in der Umgangssprache eigentlich „Prostitution“, aber Martin nutzt die Bedeutung von „trade = Tausch“ auf hinterlistige Weise.

9) Der birnenförmige Mann (1987)

Als Jessie vom Lande in die große Stadt zieht, um hier als Buch-Illustratorin zu arbeiten, teilt sie sich eine Wohnung mit Angela. Deren Freund, ein angehender Psychiater, gehört praktisch schon zum Inventar, und das soll sich schon bald als sehr hilfreich erweisen.

Unter der Treppe wohnt ein echt unheimlicher Typ, findet Jessie. Der Fettwanst hat nicht nur eine birnenförmige Figur, sondern auch ein birnenförmiges Gesicht. Seine Stimme ist ein hohes Winseln, das jessie kalte Schauder verursacht. Er kauft beim Supermarkt nur eine Flasche Cola und jede Menge Käseflocken, in einer Eisdiele selbstgemachte Eiskrem, findet sie heraus. Gleich als er sie sieht, sagt er: „Da ist sie ja“, als er sie schon erwartet hätte. Wie unheimlich ist das denn?!

Das Schlimmste sind jedoch die einsetzenden Alpträume. In diesem Träumen folgt sie der Einladung des birnenförmigen Mannes, „seine Sachen“ anzusehen, die er in seiner Wohnung hat. Allein schon die Vorstellung, dort hineinzugehen, lässt sie schreiend aufwachen. Nach nur wenigen Wochen begibt sie sich jedoch freiwillig hinein. Angelas Psychiaterfreund Donald findet, Jessie sei besessen. Der Beweis ist unwiderleglich: Sie hat den birnenförmigen Mann in ihrer jüngsten Buchtitel-Illustration nicht nur einmal gemalt, sondern auch noch in derzweiten, viel übleren Version. Angela kommt mit weiblicher Logik zu einem ähnlichen Schluss: Jessie ist verliebt. Jessie würgt.

Donald drängt sie dazu, sich ihrer Besessenheit, die aus Angst entspringt, zu stellen. Nur so könne sie ihre Alpträume beenden. Als letzte rationale Tat begibt sich Jessie zu ihrer Hausverwaltung. Dort stellt sich heraus, dass weder der Name des birnenförmigen Mannes bekannt ist noch das Datum seines Einzugs. Er scheint schon immer dort gewesen sein. Sie besteht darauf, dass die Türschlösser ausgewechselt werden. Hilft nichts: Am nächsten Tag findet sie Käseflocken in all ihren Unterhöschen. Kreisch! Jetzt ist das Maß voll. Weil sie auch noch ihren besten Kunden beim Buchverlag Pirouette verloren hat, ist sie am Boden zerstört.

Es gibt keinen anderen Weg mehr als den in die Wohnung unter der Treppe. Dort hebt sie gerade die Hand, um anzuklopfen, als sich die Tür bereits öffnet. Grinsend heißt sie der birnenförmige Mann in seiner Höhle willkommen. Wenig später weiß Jessie, dass ihre Ängste nur allzu berechtigt waren…

Mein Eindruck

Obsessionen haben die fatale Eigenheit, den Blick bzw. die Wahrnehmung des Besessenen derart zu verändern, dass die objektive bzw. intersubjektive Realität nicht mehr wahrgenommen wird. So ergeht es Jessie mit ihren Erlebnissen – und mit ihren Alpträumen erst recht. Die Obsession überlagert die Realität derart, das ein „normales“ Leben nicht mehr möglich ist, es sei denn, man stellt sich ihr oder gibt ihr nach.

Das tut Jessie dann schließlich auch, aber die Folgen sind derart, dass sie nur noch körperlich nachvollziehen, was geistig-seelisch bereits stattgefunden hat: eine Art „feindliche Übernahme“. Allerdings darf hier nicht verraten werden, was bei dieser Übernahme aus den Körpern und den Seelen wird.

Die sehr genau beobachtende und zunehmend beklemmender anmutende Erzählung gehört zu den besten in diesem Band, was den Horror angeht. Sie wurde 1987 mit dem Bram-Stoker-Award ausgezeichnet. Allerdings hat sie eine fatale Ähnlichkeit mit „Die Affenkur“, die ebenfalls aus dem Prinzip der Übernahme und des Austauschs beruht.

C) EINE KOSTPROBE VON TUF (autobiographisch)

Die Geschichten um den Sternenhändler und Ökologen Haviland Tuf sind wohl die gelungenste (und rare) Serie, die Martin fertiggestellt hat. Alle Erzählungen sind in dem Band „Planetenwanderer“ zusammengefasst. Leider kam es nicht zu den geplanten Fortsetzungen wie „Twice as Tuf“, weil Martin schwer ins Geschäft mit dem Drehbuchschreiben für Hollywood-Serien einstieg – und damit in zwei Wochen mehr Geld verdiente als mit einem Story-Band in einem ganzen Jahr.

Dieser Erfolg war nötig, weil sein (durchaus hochgelobter) Roman „The Armageddon Rag“ 1982/83 floppte und er den Roman „Black and White and Red All Over“ noch nicht mal abschließen konnte: Das Geld wurde knapp. Außerdem begann er die Herausgabe der Serie „Wild Cards“, einer Shared World, an der auch etliche andere Autoren mitschrieben. Der Erfolg von „Wild Cards“ zeigt, dass man nicht alles selber machen muss, um die Sache hinzukriegen.

Noch heute beknien ihn Fans von Haviland Tuf, doch bitte, bitte weitere Erzählungen zu schreiben. Zuerst muss er aber erst einmal den Schlussband von „Das Lied von Eis und Feuer“ abliefern.

10) Eine Bestie für Norn (1976)

Haviland Tuf, ein schwergewichtiger Öko-Ingenieur und Sternenhändler, ist mit seinem telepathischer Kater Dax auf der Raumstation Tamber vor Anker gegangen. Hier gibt es leckeres Bier. In der Kneipe spricht ihn ein dünner, ungeduldiger Mann an. Er stellt sich als Herold Norn vor und will eine Bestie kaufen. „Ein richtiges, mächtiges Monster“, sagt er. Haviland Tuf zögert. Dass man ihn als simplen „Tierhändler“ bezeichnet, kränkt ihn. Aber er hat noch nie einen Kunden abgewiesen und hört sich die ganze Sache erst einmal an.

Herold Norn stammt von der Welt Lyronica, die sich zwölf Adelshäuser teilen. Um herauszufinden, welches das mächtigste und reichste ist, veranstalten sie regelmäßig in der Stadt Aller Häuser eine Art Hahnenkämpfe, nur eben mit Monstern. In der Bronzenen Arena werden die Bestien aufeinander losgelassen, und wessen Tier die meisten Wetten gewinnt, der wird zum reichsten Haus, ganz einfach, quasi wie im alten Rom. Tuf ist von dem blutigen Spektakel abgestoßen.

Bislang stammten die Bestien von Lyronica selbst, doch es habe schon Fälle von Tieren gegeben, die importiert wurden, erzählt Herold Norn. Er selbst ist der Leitende Züchter solcher Bestien für das haus Norn. Er züchtet Eisenzähne, eine Kreuzung aus Wolf und Säbelzahntiger. Leider ziehen seine Tiere ständig den Kürzeren, weshalb das Norn an letzter Stelle rangiert. Dieser Zustand ist natürlich unhaltbar.

Haviland Tuf ist listiger, als Herold Norn ahnen kann. Er verkauft ihm für ein hübsches Sümmchen sechs wilde Katzen, die durch ihre Telepathie die Absichten des jeweiligen Gegners vorausahnen und entsprechend agieren können. Als kostenlose Dreingabe erhält Herold Norn noch ein paar Präriehüpfer, harmlose Beute für die Katzen, außer wenn sie in Massen auftreten…

Um es kurz zu machen: Die Katzen triumphieren – meist, aber nach dem Ableben der ersten beiden Exemplare muss Norn darauf warten, bis die anderen fortpflanzungsbereit werden. Und die Hüpfer futtern inzwischen das Gras, das Getreide, alles was sie kriegen können.

Natürlich bleibt es nicht beim ersten Haus. Eines der Häuser nach dem anderen bittet Tuf um ein oder mehrere Monster – bis auf das letzte, das ihm mit einem vorzeitigen Ableben droht, sollte es ihm einfallen, noch ein einziges Monster an die anderen Häuser zu verkaufen. Doch Tufs listiger Plan geht auf. Die Monster tun ihre Pflicht, doch die „kostenlose Dreingabe“ ebenso: Schon bald ist der Planet kahlgefressen. Als Tuf sich dazu herablässt, die penetranten Anrufe von Herold Norn anzunehmen, hört er vor allem Gewinsel…

Mein Eindruck

So schnell lässt sich eine ökologische Katastrophe herbeiführen, dass die nichtsahnenden Bestienzüchter sich kaum versehen, bevor die Folgen über sie hereinbrechen. Das bedeutet natürlich – leiderleider – das Ende der blutigen Kämpfe in der Bronzenen Arena.

Der Autor hat bereits 1976, als der Öko-Gedanke Verbreitung fand, die Beispiele von irdischen Öko-Katastrophen zusammengefasst und ausgewertet. Bekanntestes Beispiel ist sicherlich die Kaninchenplage in Australien, die nur mit Hilfe der Myxomatose eingedämmt werden konnte, einer spezifischen Krankheit. Die kleinen Nager fraßen all den niedlichen Beuteltieren die Nahrung weg – und den Schafen ebenso. Das brachte die Schafzüchter auf die Palme – und den Karnickeln den Tod.

Was noch interessanter ist, betrifft die erkannte Wechselwirkung zwischen Beutetier und Jäger. Der Jäger darf nicht zu erfolgreich sein, sonst dezimiert er seine Beutetierspezies derart, dass ihm die Nahrungsquelle wegbricht – und er geht selbst am Hungertuch nagt. Es herrscht also stets ein Gleichgewicht zwischen Jäger und Beute. Die zwölf Häuser von Lyronica haben davon offensichtlich nicht den blassesten Schimmer.

Der dritte Trick besteht in der Ausnutzung artspezifischer Eigenheiten. Was für ein Pech aber auch, dass die gelieferten Kampfkatzen erst im Frühling geschlechtsreif werden – und sich die Kampfbären erst einmal in den 20-jährigen Winterschlaf verabschieden! Natürlich hat keiner der gierigen Bestienzüchter den „Tierhändler“ nach den Details im Kleingedruckten gefragt. Dass der telepathische Kater Dax dem Helden ein paar interessante Details aus dem Geist seines jeweiligen Verhandlungspartners verrät, könnte man allerdings als „gezinkte Karten“ bezeichnen.

11) Wächter (10/1981)

Haviland Tuf besucht auf Brazelourn die Biolandwirtschaftsausstellung und wundert sich. Sie nennt sich „Ausstellung der sechs Welten“, es sind aber nur fünf Hallen belegt. Wo ist Nr. 6? Das fragt er ganz beiläufig einen Verkäufer von leckeren Pasteten. So erfährt er, das der Planet Namor, die Nr. 6, erhebliche Probleme mit Seeungeheuern hat. Und das auf einer Wasserwelt…

Weil er so ein guter Mensch ist (und ein lukratives Geschäft wittert), fliegt der Ökoingenieur mit seinem 30 km langen Saatschiff, der „Arche“, nach Namor – und wird erst ungläubig, dann feindselig empfangen. Erst nach einer Weile des Zuredens gesteht ihm die Wächterin und Pilotin Kefira Qay zu, dass er ihrer Welt vielleicht doch helfen könnte. Die Seeungeheuer sind nun nämlich auch Luftungeheuer und Landungeheuer geworden. Keiner weiß, welchen Grund diese verbreiteten Attacken gegen die Siedler auf den Inseln haben, aber die Verluste sind so hoch, dass zu befürchten steht, dass bald der kleine Hauptkontinent Neu-Atlantis überrant werden wird. Das wäre das Ende.

Tuf sichtet das umfangreiche Datenmaterial, während er Kefira mit seinen Kätzchen und seinen exquisiten Pilzgerichten – er ist Veganer – bekannt macht. Aber sie würde viel lieber richtiges Fleisch essen, einen heimischen Schlammtopf beispielsweise. Aber Fleisch, egal woher, kommt bei ihm nicht auf den Tisch. Als er für die zwei Millionen Standardkredite, die er verlangt, immer noch nichts getan hat, setzt ihm Kefira buchstäblich die Pistole auf die Brust. Indigniert lässt er sich dazu herab, eine Fülle von Monstern auf die Seeungeheuer loszulassen.

Anfangs geht alles gut, doch dann findet der Gegner wieder Methoden, um auch seine übelsten Haie, Rochen und Kraken fertigzumachen. Tuf rätselt darüber, dass in den Tiefen der Ozeane von Namor nichts zu finden ist, das eine derartige Intelligenz darstellen könnte. Dann setzt er seine Geheimwaffe ein: Dax, das telepathische Kätzchen. Und siehe da: eine Lösung ist in Sicht!

Nun muss er nur noch einem ungläubigen Weltkongress von Oberwächtern beibringen, das telepathische Kätzchen Namors Rettung vor Seeungeheuern darstellen. Keine leichte Aufgabe, wie sich herausstellt…

Mein Eindruck

Namor ist ein Beispiel für die arrogante menschliche Denkweise, die Leben völlig geozentrisch definiert hat: Es muss sich bewegen, Sinnesorgane haben, sich fortpflanzen und dergleichen mehr. All dies trifft auf den Gegner, den sich die Menschen von Namor geschaffen haben, nicht zu. Das hat zu dem fatalen Trugschluss geführt, dass nicht intelligent sein kann, was nicht dieser Definition entspricht.

Der Gegner sah sich deshalb als Nahrungsquelle eingestuft und als Speise verschlungen. Das hat dazu geführt, dass seine telepathisch kommunizierende, unbewegliche Art erheblich dezimiert wurde. Um der Ausrottung zu entgehen, erschuf der Gegner die besagten Ungeheuer – eine reine Verteidigungsmaßnahme, die aber als Aggression verstanden wurde.

Höchste Zeit also, dass endlich so etwas wie Kommunikation zwischen der menschlichen und der ein heimischen Spezies stattfindet – mit Hilfe von Tufs Kätzchen. Stolz und Standesdünkel – „Wir sind doch Menschen!“ – sowie eine unvollständige Weltsicht haben die Namorianer an den Rand der Vernichtung gebracht. Aber dies abzulegen, ist der schwierigste teil, schätzt Tuf. Auf jeden Fall ist seine Geschichte sehr ironisch-humorvoll – und so lehrreich, dass sie in jeden Biologieunterricht gehört.

Die Übersetzungen

Diesmal fehlt der Name von Tony Westermayr unter den genannten Übersetzern. Aber das bedeutet nicht, dass alle Texte perfekt sind.

S. 15: „Star Shudded Comics“ – das sieht verdächtig nach einem Fipptehler aus. Das Wort „shudded“ kenne ich nicht. Hingegen würde „Star Studded Comics“, also „sternenreiche Comics“ sehr viel mehr Sinn ergeben.

S. 418: „seine sämtlichen Kinns“. Korrekt wäre „seine sämtlichen Kinne“. Vgl. dazu DUDEN, 24. Auflage, S. 576.

S. 430: „Kein Affe würde das Beste von Kenny Dorchester bekommen, dachte er.“ Hier ist aber nicht des Mannes „bestes Stück“ gemeint – die Story ist jugend- und sexfrei -, sondern „die Oberhand gewinnen“. Das beruht auf der vermutlichen Originalformulierung „to get the better of someone“ und „to best someone“.

S. 458: „bruckstückhaft“ sollte „bruchstückhaft“ heißen.

S. 545: „Demzufolge“. Korrekt wäre „Anschließend“, denn „demzufolge“ bedeutet „das ergibt sich daraus“, nicht aber „das tat er im Anschluss“. Ein klarer Sprachfehler, wie man ihn immer häufiger antrifft, z.B. „gleichwohl“ statt „gleichermaßen“. Darauf stößt man beispielsweise in der deutschen Synchronisation von „Der Herr der Ringe Teil 1: Die Gefährten“ in der ersten Unterhaltung Gandalfs mit Bilbo in Beutelsend. Jedes Mal, wenn ich das höre, ärgere ich mich grün und blau.

Unterm Strich

Im ersten Teil stellt der Autor seine Experimente im Fantasygenre vor. Von diesen finde ich „Der Eisdrache“ am gelungensten, und Martin war wohl der gleichen Ansicht, denn er baute die Geschichte später zum Kinderbuch „Adara und der Eisdrache aus. Mit Alys der Grauen schuf er in „Das verlassene Land“ eine vielversprechende Frauenfigur, die er aber in ihrer Ausrichtung viel erfolgreicher als Sternenhändler Haviland Tuf fortführte.

Die Erzählungen um Tuf und seine lehrreichen Abenteuer machen den letzten Teil dieses Bandes aus. In der umfangreichen Mitte dieses Bandes findet der Sammler hingegen einige der besten Erzählungen des Autors überhaupt. Dazu gehören „Sandkönige“, seine einzige Story, die sowohl den HUGO wie auch den NEBULA Award errang, „Nachtgleiter“ in der Langfassung – eine ausgefeilte SF-Gespenstergeschichte – sowie diverse Schauergeschichten.

„Der birnenförmige Mann“ und „Die Affenkur“ wurden ausgezeichnet. „Erinnerungen an Melody“ ist eine nette, böse Story über die lästige Vergangenheit, die zurückbeißt. „Der Fleischhausmann“ gehört noch mindestens zweimal überarbeitet, um gut zu werden. Diese Ansammlung von Belanglosigkeiten und Binsenweisheiten wurde von Harlan Ellison zu Recht zweimal abgelehnt. Keine Ahnung, was daran horrormäßig sein soll.

Mit milder Selbstironie erwirbt sich der Autor in seinen autobiographischen Skizzen schnell die Sympathie des Lesers. Diese Erläuterungen sind das Sahnehäubchen, das die gesamte TRAUMLIEDER-Trilogie so attraktiv für Sammler macht – und hoffentlich auch für SF-Einsteiger. Schmerzlich werden hier genaue Zeitangaben und Originaltitel vermisst.

Dieser Band enthält leider nur das zweite Drittel aller Erzählungen, das ist ein kleiner Wermutstropfen. Schwer wiegt das Manko, dass ein Verlag, der sich das Image von Experten zugelegt hat („www.diezukunft.de“) keinerlei Originaltitel und keine bibliografischen Angaben abgedruckt hat. Das ist für Sammler wenig hilfreich. Alle entsprechenden Angaben in dieser Rezension stammen von mir selbst, zusammengetragen aus allen verfügbaren Quellen. Das Fehlen dieser Angaben sowie die Druck- und Sprachfehler (s. o.) führen zu Punktabzug.

Broschiert: 624 Seiten
Info: Dreamsongs vol. 2, 2003
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453316256
www.heyne.de

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