Stephen King – Duddits: Dreamcatcher

Das geschieht:

Das Leben hat sie gebeutelt: Joe „Biber“ Clarendon, den Hippie-Tischler, der zwanghaft Zahnstocher zerkaut; Pete Moore, den alkoholsüchtigen Autoverkäufer; Henry Devlin, den depressiven Psychiater, für den der Selbstmord bereits beschlossene Sache ist, und Gary „Jonesy“ Jones, den College-Dozenten, der sich gerade langsam von einem schweren Autounfall erholt. Seit einem Vierteljahrhundert kennen sie sich und haben sich niemals aus den Augen verloren. Ein unsichtbares Band verbindet sie – und das buchstäblich, denn das Quartett verfügt über gewisse hellseherische Kräfte.

Trotzdem waren Biber, Pete, Henry und Jonesy nur Waisenknaben gegen den Fünften im Bunde: Douglas Cavell, genannt „Duddits“, ihren geistig behinderten, telepathisch begabten Freund aus der Kleinstadt Derry im US-Bundesstaat Maine, Neuengland. Ihn hat das Quartett aus den Augen verloren.

Wie in jedem Jahr unternehmen Biber, Pete, Henry und Jonesy im Spätherbst einen Ausflug in die Wälder von Maine. Heuer wird das Vergnügen allerdings durch einen seltsamen Vorfall getrübt: Aus dem Wald stolpert der Anwalt Richard McCarthy. Er gehört zu einer Jagdgesellschaft, die seit einigen Tagen vermisst wird. Nun wirkt er desorientiert und geistesabwesend und ist anscheinend krank.

Die Wahrheit ist allerdings wesentlich und bizarrer. Unbemerkt hat die Nationalgarde damit begonnen, den Wald unter Quarantäne zu stellen. Seit dem Roswell-Zwischenfall 1947 befindet sich die Erde in einem geheimen Krieg mit außerirdischen Intelligenzen. Um eine Panik zu vermeiden, unterliegt dies der strengsten Geheimhaltung. Die Tarnung wird auch deshalb aufrechterhalten, weil die einzige bekannte Form der ‚Verteidigung‘ darin besteht, in den von Aliens ‚befallenen‘ Gebieten jedes Leben auszutilgen.

So sehen sich die Freunde bald in einem aussichtslosen Kampf gegen die „Cleaner“ der Regierung, die vom gnadenlosen, allmählich in den Wahnsinn abgleitenden Abraham Kurtz angeführt werden, und gegen die parasitenhaften Außerirdischen, von denen sich „Mr. Gray“ als besonders findig erweist. Den einzigen Weg zur Rettung kennt nur Duddits, doch der liegt im Sterben …

Neubeginn mit & unter Schmerzen

Stephen King stellt sein Publikum auf die Probe. So denken vor allem jene Leser, die mit den frühen Werken des Meisters zwischen „Carrie“ (1976) und „Es“ (1986) aufgewachsen sind und den Qualitätsunterschied zu den Werken der 1980er und 1990er Jahren schmerzlich zur Kenntnis nehmen mussten. Damit sind nicht unbedingt Kings achtbare Versuche gemeint, ‚richtige‘ Literatur zu schreiben („Das Spiel“, 1992; „Dolores“, 1993; „Atlantis“, 1999). Das lustlose Fortspinnen der sich endlos im Kreise drehenden Saga vom Dunklen Turm, routinierte aber seltsam leblose Romane wie „Insomnia“ (1994), „Das Bild“ (1995) und „Sara“ (1998) sowie echte Rohrkrepierer wie „Das Mädchen“ (1999) belegten, dass King stetig Boden auf jenem Feld verlor, das er einst bestellt und lange beherrscht.

Der moderne unheimliche Roman verdankt Stephen King unendlich viel. Sogar die Kritik, die einen erfolgreichen Schriftsteller niemals liebt, hat in den letzten Jahren begonnen, ihm dies zuzugestehen. Aber die Verfolger holten auf, und spätestens nach 1995 zog eine jüngere Schriftsteller-Generation an King vorbei, die sichtlich verinnerlichte, was er sie gelehrt hatte.

Dann fuhr im Juni 1999 ein betrunkener Autofahrer den wankenden Meister des Horrors über den Haufen und verletzte ihn beinahe tödlich. Die schwerste Krise in seinem Leben beschrieb King ausführlich in seiner Autobiografie „Das Leben und das Schreiben“ (2000). Der Leser erfuhr von Kings Drogen- und Alkoholsucht, von Depressionen und Selbstmordgedanken, und wunderte sich anschließend nicht mehr, dass den späten Romanen das Feuer fehlte.

Der Schmerz als Dauerbegleiter

Der Unfall und noch mehr die anschließenden qualvollen Monate der Genesung (und des Entzugs) haben King gezeichnet. „Duddits“ ist eine 800-seitige Studie zu den Themen Krankheit, Tod und vor allem Schmerz. Der verunglückte, psychisch und physisch angeschlagene Dozent Jonesy ist eine kaum verhohlene Spiegelung des Autors selbst, aber auch die anderen Figuren tragen ‚kingsche‘ Züge. Dazu kommt die Geschichte selbst, oberflächlich betrachtet eine Neuauflage von „Das Monstrum“ (1988; auch hierzulande eher unter dem Originaltitel „Tommyknockers“ bekannt). Doch wer verlangt eigentlich – von King oder überhaupt -, jedes Mal das Themen-Rad neu zu erfinden?

Tatsächlich hat „Duddits“ mit den „Tommyknockers“ wenig gemeinsam. (Allerdings führt der Kontakt mit dem Extraterrestrischen in beiden Fällen zu Zahnausfall.) Die Invasion der grauen Aliens bildet zwar wieder einmal die Grundlage für Kings üblichen Plot vom Einbruch des Grauens in die Alltagswelt ganz normaler Durchschnittsmenschen. Den beherrscht er mit einer Meisterschaft, die im Unterhaltungsroman – zumal im phantastischen – praktisch beispiellos ist.

Auf der anderen Seite symbolisiert der heimliche Krieg zwischen Menschen und Aliens den Kampf des menschlichen Körpers gegen eine der vielen schleichenden Krankheiten, an die man lieber nicht denkt, damit man nicht davon betroffen werde. Aliens = Krebs, Aids, Alzheimer: Leiden, die scheußlich und seltsam sind, nicht wirklich geheilt werden können und deren Therapierung meist ebenso drastische Folgen nach sich zieht wie die Krankheit selbst.

Blutig, eklig & gemein

Entsprechende Bilder gibt in „Duddits“ reichlich. Aber keine Sorge: Sie schieben sich selten aufdringlich in den Vordergrund. Stephen King zeigt sich in seinem ersten Roman nach dem Unfall in zuletzt seltener Hochform. Überwiegt bei der Lektüre zunächst eine reservierte, vorsichtige Haltung, beginnt allmählich der alte, längst verschwunden geglaubte Zauber zu wirken. Ohne dass man es bemerkt, beginnt man sich festzulesen und dann Seiten zu ‚fressen‘. „Duddits“ ist mehr als 800 Seiten stark, aber das merkt man nicht. Was trügerisch langsam beginnt, legt noch weit vor der Halbzeit an Tempo zu und lässt darin nicht mehr nach.

Spannung und psychologische Tiefenschärfe, dreidimensionale, lebendige Figuren, Sentimentalität und Pathos ohne Kitsch und Peinlichkeit, eine Atmosphäre sich ständig steigernder Bedrohung, der demonstrative Tritt in den Hintern jener Kritiker, die eine ‚gute‘ unheimliche Geschichte daran festmachen möchten, dass sich das übernatürliche Element quasi nur aus dem Augenwinkel erkennen lässt – das ist Stephen King, wie man ihn sich wünscht und lange, lange Jahre vermisst hat!

Mit sicherer Hand bohrt King auch wieder den „Political-Correctness“-Nerv von Zeitgenossen an, die sich als Streiter für Anstand und Ordnung berufen fühlen. Drastischer Horror und Splatter-Effekte, gepaart mit rüdem Humor, sind seit jeher ein Markenzeichen Kings. Aber einer muss ja aussprechen, was die weniger Mutigen nur zu denken wagen. Ist es z. B. nicht typisch, dass sich in der Literatur, besonders aber im Film Monster, die parasitenhaft im Körperinneren eines Menschen nisten („Ripleys“ nennt King sie – eine seiner genialen Wortschöpfungen), stets aus der Kehle oder notfalls aus dem Brustkorb ihres Opfers hervorbrechen, wo es doch eine sehr viel näher liegende Schlupfmöglichkeit gibt … King spielt diese Option durch – sehr konsequent und ohne Rücksicht auf den guten Geschmack!

Ein wirklich schmutziger Krieg

Auch sonst muss man staunen: Die Aliens als nicht unbedingt bösartige oder überlegene, sondern in ihrer Fremdheit unerbittliche, undurchschaubare und entschlossene Invasoren – fast hatte man sie vergessen. Aber sie taugen noch als Bösewichter, wie King eindrucksvoll unter Beweis stellt!

Deutliche Worte findet der Verfasser auch für die Angehörigen ethnischer/religiöser Minderheiten oder geistig/körperlich Behinderte; weiterer Pluspunkt für King, der Duddits nicht zum edlen ‚Vorzeige-Behinderten‘ herabwürdigt, sondern ihm eine echte Persönlichkeit mit durchaus weniger angenehmen Zügen zubilligt.

Natürlich übertreibt es der Meister hier und da; das kann bei einem Werk dieses Umfangs kaum ausbleiben. Die Figur des irrsinnigen aber mächtigen und dadurch doppelt gefährlichen Abraham Kurtz (der eigentlich „Coontz“ heißt – kleine Spitze gegen einen erfolgreichen Kollegen) ist ein wenig zu holzschnittartig geraten. Zwar tritt King mutig die Flucht nach vorn an: Er gibt seiner Figur denselben Namen wie dem direkten Vorbild in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ und natürlich im Film „Apocalypse Now“ (1979). Nichtsdestotrotz ist Kurtz weniger düster und gefährlich geraten, wie King es wohl gern hätte.

Luftverlust im Spannungsreifen

Auf den letzten zweihundert Seiten beginnt die Geschichte ihren Schwung zu verlieren. Das eigentlich als Höhepunkt gedachte Finale zieht sich als banale Verfolgungsjagd in die Länge und mündet in einen wenig aufregenden Showdown. Das heißt allerdings nicht, dass man sich langweilen würde; noch jeder King-Roman hat seine Helden schließlich an den Rand des Berges Orodruin ins Land Mordor geführt.

Anzumerken bleibt, dass King auch „Duddits“ in das inzwischen recht dicht gesponnene Gefüge seiner imaginären Geschichte Maines einpasst. Aus anderen King-Romanen und -Erzählungen bekannte Figuren geben sich an ebenfalls bekannten Orten ein Stelldichein, doch diese Cameos und Crossovers zu identifizieren und aufzulisten, überlässt Ihr Rezensent an dieser Stelle doch lieber den Hardcore-King-Fans. (Aus Derry kommt übrigens ein verheißungsvoller Gruß vom bösen Clown Pennywise.)

„Duddits“ ist noch immer der von Stephen King bescheiden-kokett als Ziel seines schriftstellerischen Bemühens apostrophierte „Burger mit Fritten“. Aber das Fleisch ist wieder saftig, die Fritten kross, und es gibt Krautsalat und ein Glas Rotwein dazu. Von einem Comeback mag man auch nicht sprechen, denn King war nie von der Bildfläche verschwunden. Aber er hat Boden gut gemacht, der bitter nötig war: Nach „Duddits“ begann King eine schwindelerregende Berg-und-Tal-Fahrt, die durch wenige gute und viele durchschnittliche bis miserable Romane gesäumt wird.

„Dreamcatcher“ – der Film

Schon 2003 wurde „Duddits“ verfilmt. Lawrence Kasdan, der sich mit Filmen wie „Silverado“ (1985), „Die Reisen des Mr. Leary“ (1988) oder „Wyatt Earp – Das Leben einer Legende“ gemacht hatte, inszenierte den Film wie so oft nach einem selbst geschriebenen Drehbuch. In der Rolle des größenwahnsinnigen Colonel Curtis bot Morgen Freeman eine gute Leistung. Dennoch war „Dreamcatcher“ weder ein Meisterwerk noch ein Blockbuster, sondern vor allem Hollywood-Mainstream: handwerklich perfekt aber schematisch, spannend aber nie originell.

Autor

Normalerweise lasse ich an dieser Stelle ein Autorenporträt folgen. Wenn ich ein Werk von Stephen King vorstelle, pflege ich dies zu unterlassen, wie man auch keine Eulen nach Athen trägt. Der überaus beliebte Schriftsteller ist im Internet umfassend vertreten. Nur zwei Websites – die eine aus den USA, die andere aus Deutschland – seien stellvertretend genannt; sie bieten aktuelle Informationen, viel Background und zahlreiche Links.

Taschenbuch: 896 Seiten
Originaltitel: Dreamcatcher (New York : Scribner 2001)
Übersetzung: Jochen Schwarzer
http://www.heyne-verlag.de

eBook: 1192 KB
ISBN-13: 978-3-641-12317-8
http://www.heyne-verlag.de

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