Elizabeth Kostova – Der Historiker. Ein Vampirroman

Ein junges Mädchen findet in der Bibliothek ihres Vaters ein Konvolut mit vergilbten Briefen. Das Geheimnis um den Vater und das Schicksal der Mutter verbinden sich zu einem Drama, das weit in die Vergangenheit zurückreicht. Die Briefe fragen nach der Herkunft von Vlad dem Pfähler, dem Urbild der Dracula-Legende. Eine atemberaubende Suche in Klöstern, Bibliotheken und Archiven beginnt, bei der Grausamkeiten Draculas zutage treten, die sich bis heute fortsetzen… (Verlagsinfo)

Totgesagte leben länger. Das gilt ganz besonders für den Vampir der Vampire, den Über-Blutsauger, den Grafen unter den Untoten – nämlich Dracula. Sein Name evoziert sofort eine ganze Reihe Stereotypen. Da wären die zarten Frauenhälse, die spitzen Pflöcke, Christopher Lees blutunterlaufene Augen, Fledermäuse, das rollende „R“ des rumänischen Grafen und noch etliches mehr.

Der Ire Bram Stoker hat 1897 (1901 endgültige Fassung) mit seinem Roman „Dracula“ nicht nur einen Meilenstein in der Entwicklung des literarischen Vampirs geschaffen, sondern gleich ein ganzes Genre. Zahlreiche Autoren nach ihm (von den Filmemachern ganz zu schweigen) haben die Dracula-Legende wieder aufgegriffen und literarisch weiterentwickelt.

Elizabeth Kostova schlägt mit ihrem über 800 Seiten starken Debütroman „Der Historiker“ in dieselbe Kerbe und fragt sich, was schon viele Autoren vor ihr debattiert haben: Was wäre, wenn der historische Dracula tatsächlich ein Vampir wäre?

Die Autorin

Elizabeth Kostova hat einen BA-Abschluss an der Universität von Yale und einen Masters-Abschluss in Creative Writing an der Universität von Michigan gemacht. Hier wurde sie für das erste Kapitel des Historikers mit dem Hopwood Award ausgezeichnet. Sie recherchierte und schrieb zehn Jahre an diesem Roman. Ebenfalls von ihr stammt der Roman „Das dunkle Land„.

Handlung

Auf mehreren Erzählebenen, quer durch Europa und zu verschiedenen Zeiten im 20. Jahrhundert inszeniert sie die Jagd nach dem Untoten. Ihre anonyme Ich-Erzählerin macht sich auf die Suche nach ihrem Vater, der plötzlich verschwunden ist. Dabei hatte der Diplomat auf ihren vergangenen Reisen gerade angefangen, ihr von den mysteriösen Ereignissen seiner Jugendzeit zu erzählen…

Wie er ein seltsam leeres Buch mit einem Drachen in der Mitte findet, wie sein Doktorvater Professor Rossi auf geheimnisvolle Weise aus seinem Büro an der Universität verschwindet und wie er sich, von der Tochter Rossis begleitet, auf die Suche nach seinem Mentor und Freund macht.

Die Reise führt die beiden quer durch Europa, nach Istanbul, Sofia, Budapest und in zahlreiche Klöster, Bibliotheken, Archive und sonstige staubverhangene Orte. Was dabei zunehmend klarer wird: Dracula ist keine Legende und nicht nur eine historische Figur. Er scheint tatsächlich die Jahrhunderte überdauert zu haben und verfolgt nun seinerseits seine Verfolger.

Werden die Ich-Erzählerin und ihr Vater Paul das Rätsel um Dracula lösen oder werden sie vorher seinem Despotentum zum Opfer fallen, wie so viele vor ihnen? Können sie das Grab des Vampirs finden und ihn vernichten? Wird Rossi gefunden? All diese Fragen kann nur die Lektüre selbst beantworten.

Mein Eindruck

„Der Historiker“ ist ein Mammutwerk, und so wundert es kaum, dass Kostova zehn Jahre an dem Roman arbeitete, um die historische und geographische Tiefe zu erreichen, die hauptsächlich den Reiz der Geschichte ausmachen. Ihre Charaktere reisen kreuz und quer durch Europa, sie durchforsten die Bibliothek von Oxford genauso wie ein vergessenes Archiv in Istanbul.

Sie nehmen an einem wissenschaftlichen Kongress in Ungarn teil und an einem religiösen Festtag in der Provinz von Bulgarien. Schade, dass die Autorin nur selten wirkliche Begeisterung für die Orte ihrer Handlung zu vermitteln vermag und gerade am Anfang die Reisebeschreibungen die Handlung eher unterbrechen und hinauszögern, als sie zu unterstützen.

Wer jedoch Dracula nur als den spitzbezahnten Vampir kennt, der wird hier viel Neues über das Leben des historischen Woiwoden aus der Walachei lernen. In Rumänien heute noch als Volksheld verehrt, verteidigte er im 15. Jahrhundert standhaft das christliche Europa gegen die einfallenden Türken – wenn auch mit grausamen Mitteln. So ließ er tausende Menschen pfählen oder seine eigenen Bojaren ermorden, wenn sie ihm gefährlich zu werden drohten. 1476 wurde er im Kampf enthauptet, vielleicht sogar von seinen eigenen Leuten, und sein Kopf als Trophäe an den Sultan Mehmed II geschickt.

Der Einfachheit halber werden wir uns nicht damit aufhalten, wie eine kopflose Leiche als Vampir wiederauferstehen kann (Enthauptung ist – neben dem Pfählen – seit jeher eine sichere Abwehr gegen Vampirismus), Kostova verwendet darauf auch kaum Papier, als ahnte sie, dass sich hier ein echtes Problem auftut, für das sie kaum eine überzeugende Lösung zu bieten hat.

Logische Probleme solcher Aart gibt es häufiger. So wird beispielsweise nicht klar, warum Paul, um seinen Doktorvater Rossi zu finden, unbedingt das Grab Draculas aufspüren muss. Oder, wenn doch bereits am Anfang gesagt wird, dass sich laut Überlieferung eben jenes Grab in Snagov befindet, erst auf Seite 500 einer der Charaktere auf die Idee kommt, diese Überlieferung zu überprüfen (Sie erweist sich als falsch – der Dracula-Kenner weiß das, der normale Leser tappt jedoch im Dunkeln.)

Dracula und die Jagd nach ihm ist jedoch nur ein Mittel zum Zweck, das Thema des Romans könnte mehr oder minder zufällig gewählt sein. Eigentlich nämlich ist der Roman eine Liebeserklärung an die Methode der Recherche. Während Recherche im Normalfall ein meist frustrierendes und langwieriges Stöbern in Stapeln von Büchern und Dokumenten ist, wird sie bei Kostova zum Mittel der Detektivarbeit.

Durch methodisches Suchen und Sammeln, durch Lesen und Forschen kommen die Protagonisten des Romans Dracula schließlich auf die Spur. Dass Recherche jedoch nicht alles lösen kann, beweist die Tatsache, dass Kostova von Zeit zu Zeit zu unwahrscheinlichen Zufällen und Handlungssprüngen greifen muss, um ihren Plot voranzutreiben. Ihre Liebe zu Büchern, historischen Dokumenten und Bibliotheken wird in diesen Passagen jedoch besonders deutlich und jeder, der diese Liebe teilt, wird an der Lektüre besondere Freude habe. Alle anderen wird es hoffentlich dazu bekehren, dass die hintersten Ecken einer Bibliothek nicht nur Heimstatt von riesigen Staubflocken sind, sondern unter Umständen auch faszinierende Geheimnisse beherbergen können.

Die Verbindung

Was unbedingt angesprochen werden sollte, ist die Verbindung von Kostovas „Historiker“ und Stokers „Dracula“. Auf den ersten Blick haben beide, bis auf das Thema, wenig miteinander zu tun. Doch blickt man tiefer, findet man durchaus die ein oder andere Hommage an den Großmeister des Vampirromans. Schon die Form des Romans, mit seinen verschachtelten Erzählebenen, eingefügten Dokumenten und Briefen ist an Stoker angelehnt, dessen „Dracula“ ja bekanntlich als Briefroman konzipiert ist. Und auch die Tatsache, dass Dracula selbst über weite Strecken des Romans keine eigene Stimme hat und erst auf den letzten 100 Seiten auftaucht, erinnert an „Dracula“.

Kostova, die mit der Lebendigkeit ihres Personals arge Probleme hat (gerade die eingefügten Liebesgeschichten wirken hölzern und schablonenhaft), blüht mit Draculas Auftauchen geradezu auf. Zwar wird nicht klar, warum er in so archaischem Gewand herumläuft, jedoch verbreitet er sofort seine ganze spezielle Dracula-Aura: eine Mischung aus Angst und Faszination, die dem Grafen seinen ganz besonderen Reiz verleiht. Er ist eindeutig der Star des 800-Seiten Romans, auch wenn er erst spät zur Handlung dazustößt. Durch ihn gewinnt der Plot auf den letzten Seiten deutlich an Fahrt, schon weil der Graf endlich all die Geheimnisse lüftet, die Kostova auf den vorangegangenen Seiten so genüsslich ausgebreitet hat.

Unterm Strich

Kostovas Debüroman ist ein Buch mit Schwächen. Gerade ihre wenig ausgeleuchteten Charaktere und die logischen Probleme der Handlung seien da genannt. Sie hat sich im „Historiker“ offensichtlich nach Herzenslust ausgetobt (und das, obwohl der Roman sehr streng und organisiert daherkommt), was dazu führt, dass er schlicht zu lang ist. Viele der Landschaftsbeschreibungen sind reines Füllsel und bringen die sich ohnehin nur langsam entfaltende Handlung zu einem plötzlichen Halt.

Die wunderbaren Szenen in Bibliotheken und Archiven, das Brüten über mittelalterlichen Schriftrollen und Geheimarchiven kann wohl nur den echten Bücherfanatiker entschädigen. Und obwohl „Der Historiker“ kein unbedingt einfaches Buch ist (bedingt durch die verschachtelte Struktur), ist es doch ein sicherer Griff für alle, die einen Schmöker für die Winterzeit suchen.

Gebunden: 832 Seiten
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
ISBN-13: 978-3827005908

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