Terry Pratchett – Der Winterschmied. Ein Märchen von der Scheibenwelt (Tiffany Weh 3)

Hexenromanze mit dem Winter

Tiffany Weh ist eine Hexe in Ausbildung und im besten Teenageralter. Da sie sich ungern etwas verbieten lässt, schon gar nicht das Tanzen, kann sie sich auch bei der Feier, die den Übergang vom Sommer zum Winter markiert, nicht zurückhalten. Und so passiert das Unvermeidliche – der Winterschmied selbst, Herr über Eis und Schnee, wird auf Tiffany aufmerksam und verliebt sich in sie.

Von Stund‘ an überschüttet er sie mit Schneeflocken, und Tiffany muss sich schnell etwas einfallen lassen, wenn es jemals wieder Frühling werden soll auf der Scheibenwelt … (Verlagsinfo)

Tiffany ist mittlerweile dreizehn Jahre alt. Ihre Hexenkräfte sind bereits recht beträchtlich, findet ihr Vater, besonders in der Schafzucht. Aber kann sie das LAND von dem schlimmsten Winter seit Menschengedenken befreien? Als sie sich in die Sommerkönigin zu verwandeln beginnt, ist guter Hexenrat teuer!

Dieser Besprechung lag das englische Original „Wintersmith“ im Hardcover zugrunde. Über die Übersetzung kann ich mir daher kein Urteil erlauben.

Der Autor

Terry Pratchett und seine Frau Lynn sind wahrscheinlich die produktivsten Schreiber humoristischer Romane in der englischen Sprache – und das ist mittlerweile ein großer, weltweiter Markt. Obwohl sie bereits Ende der siebziger Jahre Romane schrieben, die noch Science-Fiction-Motive verwendeten, gelang ihnen erst mit der Erfindung der Scheibenwelt (Disc World) allmählich der Durchbruch. Davon sind mittlerweile etwa drei Dutzend Bücher erschienen. Gesamtauflage 80 Millionen Exemplare verkauft, davon 45 Millionen verkaufte Exemplare der „Scheibenwelt“-Romane, Übersetzungen in 38 Sprachen. Keine Frage, der 1948 in Beaconsfield geborene Terry Pratchett gehört zu den erfolgreichsten Autoren unserer Zeit.

Den Grundstein dafür legte er 1983 mit dem „Scheibenwelt“-Erstling „Die Farben der Magie“, der ihn quasi über Nacht zum Bestsellerautor machte – eine beispiellose Erfolgsgeschichte begann. Dass ihm sein Ruhm nicht zu Kopfe gestiegen ist und er auch sein Gespür für Komik nie verloren hat, zeigt sein Kommentar zur Ernennung durch die Queen zum „Officer of the Order of the British Empire“: Er habe die Nachricht zunächst für eine Zeitungsente gehalten. Aber manchmal klingt die Realität eben einfach wie ein Traum – nicht nur in der Scheibenwelt.

Nachdem die ersten Scheibenwelt-Romane wie „Die Farben der Magie“ für Erwachsene – ha! – konzipiert wurden, erscheinen seit 2001 auch „Märchen“ für Kinder. Den Anfang machte das wundervolle Buch „The Amazing Maurice and His Educated Rodents“ (siehe meinen Bericht), worauf „Kleine freie Männer“ folgte. Die Fortsetzung von „Kleine freie Männer“ trägt den Titel „Ein Hut voller Sterne“. Das weitere Schicksal von Tiffany Weh wird in späteren Bänden weitererzählt, in „Winterschmied“, „Das Mitternachtskleid“ und „Die Krone des Schäfers“.

Doch auch andere Welten wurden besucht: ein Kaufhaus, in dem die Wühler und Trucker lebten (NOMEN-Trilogie) , und eine Welt, in der „Die Teppichvölker“ leben konnten. Die Nomen-Trilogie „The Bromeliad“ soll zu einem Zeichentrickfilm gemacht werden. Pratchett starb 2015.

Die Reihe um Tiffany Weh:

1) Kleine freie Männer
2) Ein Hut voller Sterne
3) Der Winterschmied
4) Das Mitternachtskleid
5) Die Krone des Schäfers

Handlung

Der Winter ist gekommen, und zwar im Überfluss. So sehr, dass es zwar schon Frühlingsanfang sein müsste, aber der Schnee um den Hof von Tiffany Wehs Familie immer noch fünf Meter hoch liegt. Darunter sind die Lämmer und ihre Mütter, die von Tiffanys Vater gezüchtet werden, irgendwo begraben.

Höchste Zeit also, findet Dad, sich ein ganz klein wenig dieses Missstands anzunehmen, findet Tiffany nicht auch? Findet sie. Obwohl: Sie traut ihren eigenen magischen Kräften noch nicht so hundertprozentig. Trotz ihres spitzen Huts und des fliegenden Besens, die sie seit letztem Sommer an der Hexenschule ihr Eigen nennen darf.

Hexenkunst

Tiffanys Magie ist die des Ausgleichs. Um also gefrorenes Wasser – vulgo „Schnee“ genannt – zu beseitigen, braucht man auf der anderen Seite viel Hitze. Dad und seine Helfer werfen alles brennbare Material, ja sogar Dads Mantel in ein riesiges Feuer, das sie entzündet haben. So gelingt es Tiffany, in einer gigantischen Schneeräumaktion zahlreiche Lämmer und Mutterschafe aus den Schneemassen zu befreien, bis sie zum Heuschober und dem Stall gelangt. Dann erlischt das Feuer.

Den Nac Mac Feegle ist der Überfluss an gefrorenem Wasser ebenfalls keineswegs entgangen, schließlich leben sie ja im Untergrund des LANDes. Sie kennen auch die Ursache für den verspäteten Winter: Es ist der Winterschmied, ein unsichtbares Monster, das sich Tiffany letzten Sommer eingefangen hat. Es gibt in Rob Anybodys Augen nur einen Ausweg: Ein Held muss her. Doch wo einen nehmen und nicht stehlen?

Ein nicht völlig blinde Hexe

Für ihre weitere Lehrzeit lebt Tiffany bei der uralten Hexe Miss Treason, die für die Bewohner des Landes die Verkörperung der Gerechtigkeit darstellt. Dabei ist Miss Treason blind wie eine Fledermaus. Allerdings nicht ganz: Als Hexe hat sie die Kunst vervollkommnet, durch die Augen anderer Lebewesen zu schauen. Gewandet ganz in Schwarz, umgibt sie sich vorzugsweise mit schwarzen Dingen: schwarze Kerzen, schwarze Totenschädel, schwarze Vögel usw. Die Nac Mac Feegle haben sie im Auge, damit Tiffany, ihrer Stammeshexe, nichts zustößt.

Ein unerlaubter Tanz

Eines Nachts nimmt Miss Treason ihre Gehilfin Tiffany mit auf den Tanz der Moriskentänzer. Die Moriskentänzer tanzen stets an Kreuzungen, angetan mit Mummenschanz, der voller Glöckchen hängt. Doch diese hier sind anders, findet Tiffany. Sie sind dunkel und still und bewegen sich, als ob sie mit einem Geist tanzen würden. Obwohl es ihr die Hexe streng verboten hat, fühlt Tiffany den unwiderstehlichen Drang, an dem Tanz teilzunehmen. Unversehens findet sie sich in einem Pas de deux mit einem Geist wieder. Der fragt nicht ohne Grund: „Wer bist du denn?“ Tiffany schwinden die Sinne.

Sie erwacht in der Hütte der Hexe, welche sie nun anherrscht, was sie, Tiffany, sich denn dabei gedacht habe, mit dem Winterschmied zu tanzen?! Tiffany weiß es nicht zu sagen, stellt aber mit Bedauern fest, dass ihr kleiner silberner Anhänger in Form eines Pferdchens verschwunden ist.

Sichtlich unsichtbar

Am nächsten Morgen hat Tiffany genug von den zudringlichen Fragen und Ermahnungen der alten Hexe, die an ihrem Webstuhl arbeitet, und stapft hinaus in den Schnee vor der Tür. Wunderschön geformte Flöckchen, die alle Tiffanys Gesicht tragen, rieseln vom Himmel – außer an einer Stelle. Diese befindet sich bemerkenswerterweise mitten in der Luft – und sie bewegt sich. Tiffany erstarrt. Ist dies der Geist des Winters, der gekommen ist, um sie zu zu holen?

Etwas Unsichtbares mitten im Geriesel, das aussieht wie eine Hand, streckt sich ihr aus dem Nichts entgegen. Darin liegt ihr silberner Anhänger in der Form eines weißen Pferdchens. Jemand steht offenbar auf sie, und es ist nicht der Osterhase…

Mein Eindruck

Nach dem Tod der alten Miss Treason zieht Nanny Ogg um, einer sehr guten Freundin von Oberhexe Granny Weatherwax. Beide haben die Kunst vervollkommnet, Menschen zu führen, ohne ihnen direkte Anweisungen zu geben. So stellen sie beispielsweise die Magieschülerin Annagramma Hawkins auf die Probe, indem sie sie zur Nachfolgerin von Miss Treason machen.

Schon bald zeigt sich, dass Annagramma zwar Magie bestens kennt, sie aber bei den Dörflern und Bauern ihrer Gegend keinen Eindruck schindet: Die Junghexe droht eher, sich lächerlich zu machen. Es bleibt Tiffanys diplomatischem Geschick überlassen, Annagramma in der Hexenkunst zu unterrichten und ihre Jahrgangsfreundinnen davon zu überzeugen, dass es nur zu ihrem eigenen Besten ist, Annagramma unter die Arme zu greifen.

Eine besondere Junghexe

Tiffany ist weit mehr als nur eine junge Hexe, die gar nicht wie eine aussieht. Hier werden Klischees widerlegt. Sie ist ein Gegenentwurf zu Harry Potter, zu der Zauberschule Hogwarts und überhaupt zu der Aufspaltung der Welt zwischen der der Zauberer und der der Muggel.

Tiffanys Welt ist ein Kontinuum, und wenn man nach Westengland wandern würde, sagen wir: nach Wiltshire oder Shropshire, könnte man vielleicht sogar Leute finden, die so oder so ähnlich auf ihren Weilern leben wie die Leute im Buch. (Ein Beispiel: Der durch Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Film bekannt gewordene Art Designer und Illustrator Alan Lee lebte vor dem ganzen Rummel um den Film sehr abgeschieden irgendwo in Südwestengland, und das Jackson-Team musste ihn erst einmal per GPS lokalisieren.)

Tiffanys Hexenkunst

„Witchcraft“, also Hexenkunst, wird von Pratchett völlig anders dargestellt als von J.K. Rowling. Es dreht sich nicht um Macht, Kontrolle und Dinge, auch nicht um Fabeltiere und anderen Kinderkram, sondern um Menschen. Tiffany kann nicht nur ausgezeichneten Käse herstellen und das Wörterbuch rückwärts und vorwärts zitieren, sie lernt auch, wie man sich als Hexe um andere Menschen kümmern und so seinen Lohn erhält, nicht als Obolus in harter Währung, sondern auf dem Wege von Tauschgeschäften. Offensichtlich benötigen Hexen kein Geld.

Wem die junge Hexe nun zu langweilig erscheint, dem sei gesagt, dass sie über mehrere bemerkenswerte Qualitäten verfügt. Zum einen ist da schon das erwähnte Verlassen des eigenen Körpers. Ihre Lehrerin ist sehr erstaunt darüber – seit Generationen habe keine Hexe mehr über diese Fähigkeit mehr verfügt. Zweitens kann Tiffany ausgezeichnet denken: Sie hat erste, zweite und DRITTE Gedanken. Das hilft, zur richtigen Entscheidung zu gelangen, sollte man meinen. Tut es meistens auch. Außerdem kann sie ihre Augen zweimal öffnen: einmal für die physische Welt und einmal für die Welt dahinter.

Zudem hat sie keine Angst vor dem Tod. Als sie ins Land jenseits des Landes der Lebenden einen kleinen Ausflug unternimmt, begegnet sie dem Sensenmann, der immer in GROSSBUCHSTABEN redet. Sie sagen hallo bzw. HALLO zueinander und gehen ihrer Wege, wobei gesagt werden muss, dass es eher so ist, dass Tod sich vor dem zudringlichen Nac Mac Feegle an Tiffanys Seite in Sicherheit bringt. Schrecken geht bei Pratchett häufig einher mit Komik. Es ist seine Methode, Kindern mit den tieferen, ernsteren Wahrheiten des Lebens vertraut zu machen. Er hat sicherlich nicht vor, Horrorromane unters Volk zu bringen.

Die älteste Geschichte der Welt

Ohne es zu wollen und aus einem simplen Impuls heraus, mischt sich Tiffany in die älteste Geschichte der Welt ein: in die wechselseitige Abfolge der beiden Hauptjahreszeiten Winter und Sommer. Sie war schon den alten griechen als die Geschichte von Entführung Persephones, der Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, durch Hades, den Herrscher der Totenwelt, bekannt. Als Folge wurde es nicht mehr Sommer und es bedurfte eines Helden, um Persephone zurückzuholen. Noch heute denken wir bei diesem Helden an Orpheus, selbst wenn die von ihm befreite Dame Eurydike hieß.

In der Tat ist auch in Tiffanys Geschichte die Sommerkönigin in der Unterwelt eingesperrt und muss von irgendjemandem dringend befreit werden. Die Sommerkönigin spricht in Tiffanys Kopf zu ihrer vermeintlichen Nachfolgerin: „Schäfermädchen“, verspottet sie die Hexe, die sich der Aufmerksamkeiten des Winterschmieds (widerwillig) erfreut.

Tiffany weiß, dass es falsch ist, den Winter noch weiter im Land zu halten, nachdem dessen Geist sich in sie verliebt hat. Ihre Eitelkeit wird auf eine probe gestellt, aber kann sie ihr angesichts der meterhohen Schneewehen und klirrenden Kälte, die selbst Vögel tötet, nachgeben? Natürlich nicht. Immer wieder weist sie den zudringlichen Freier zurück.

Menschlich werden

Doch der Winterschmied hat von kleinen Kinder, die einen Schneemann gebaut haben, eine wichtige Lektion gelernt: Erst, wenn er ein Mensch ist, kann er ihre Gunst erringen, soviel ist klar. Doch was macht einen Menschen aus? Es gibt zum Glück ein Gedicht, in dem diese Dinge aufgezählt werden: Eisen aus einem Nagel, diverse chemische Substanzen. Leider hat der Winterschmied das Gedicht nicht bis zum Ende gelernt. Dort steht nämlich etwas über „Liebe, die stark genug ist, das Herz zu brechen“. Die Mühe, die der Winterschmied auf sich nimmt, sind zugleich romantisch wie auch komisch.

Die Kleinen Freien Männer

Die Feegle sind kleine, blauhäutige Schotten von kriegerischer Mentalität. Ihr Anführer Rob Anybody ist ein durchtriebener, listiger Bursche, der nur vor zwei Dingen Angst hat: vor langen Wörtern und der Ungnade seiner ihm anvertrauten „Big Wee Hag“, also Tiffany Weh. Nur seine nicht so brillanten Kampfgenossen Daft Wullie (= dämlicher Willi), Big Yan und die anderen könnten ihn ab und zu daran hindern, seine brillanten PLÄNE in die Tat umzusetzen.

Die Feegle tauchen häufig auf, und zwar in so umwerfend komischen Szenen, dass man sich das Lachen nicht verkneifen kann. Zwar erfordern ihre Szenen im Original fortgeschrittene Schottisch-Kenntnisse. Aber man muss nur auf das vorangestellte Glossar zurückgreifen, um sie zu verstehen und wenig die Aussprache berücksichtigen, dann kommt man zurecht.

Ein „Held“

Einer von Robs PLÄNEN besteht darin, Tiffanys Freund Roland aus seinem Gefängnis im Burgturm zu befreien, ihn mit einer Rüstung und einem Schwert auszustaffieren und ihn – ganz sachte – in Richtung Unterwelt zu bugsieren. Dorthin wurde, wie ihnen allmählich klargeworden worden ist, die Sommerkönigin entführen. Es gibt nur einen, der sie befreien kann: Roland. Der Haken: Roland ist ein Bücherwurm und Nerd und das Schwert ist ihm viel zu schwer. Der zweite Haken: Der Fährmann über den Fluss, der die Unterwelt begrenzt, will seinen Obolus im Voraus – und natürlich auch den für die Rückfahrt. CRIVENS! Höchste Zeit für einen neuen PLAN, Rob!

Textschwächen

Im Original gibt es einen unerklärlichen Druckfehler, der immer wieder auftritt. Statt „through“ steht stattdessen regelmäßig „though“ (S. 253, 286, 309).

S. 300: „Who would have though[t]“: Das T fehlt.

S. 385: Falsche Satzstellung in der Frage: „What it is you want?“ Korrekt muss es „What is it you want?“ heißen.

Unterm Strich

Mit Fortsetzungen zu erfolgreichen Romanen wie dem Auftaktband der Reihe ist es ja immer so eine Sache. Wird sie genauso gut sein wie der tolle Erstling? „Winterschmied“ ist nicht so ideenreich wie „Kleine freie Männer“, aber besser als „Ein Hut voller Sterne“. Es ist anders: tiefgründiger, weiser, noch verdrehter in seiner Denke, als es „Kleine freie Männer“ schon war, und außerdem warmherziger und komischer.

Wie man sieht, gibt es jede Menge Ironie, Komik und Horror – eine interessante Mischung, die jugendliche Leser hier vorgesetzt bekommen. Zum Glück sind Gewaltszenen sehr dünn gesät und derart surreal, dass sie keiner ernstnehmen kann. Eltern können beruhigt sein, während ihre Kleinen nach etwas Aufregung in diesem Buch lechzen. Am ehesten ist noch die Fahrt in die Unterwelt dazu angetan, Spannung zu erzeugen.

Wer aber „Wee Free Men“ oder die Übersetzung „Kleine freie Männer“ genossen hat, der wird auch diese Fortsetzung nicht verpassen wollen. Sie ist gleichermaßen für Fantasy- und Satirefreunde empfehlenswert. Und für Pratchett-Fans sowieso.

Taschenbuch: 384 Seiten
Originaltitel: Wintersmith. A Tiffany Aching Adventure, 2006
Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst
ISBN-13: 978-3442468393

www.Randomhouse.de

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