Charles de Lint – The Wild Wood (Urban Fantasy)

Die Künstlerin und die Faerie Queen

Als die Malerin Eithne Gerrows in ihre Hütte in den Wäldern Kanadas zurückkehrt, um sich auf weitere Naturzeichnungen zu konzentrieren, erblickt sie eine maskierte Frau in einem wertvollen Kleid, die ein magisches Buch hält. Sie fordert von Eithne: „Du musst dich erinnern.“ Weitere Waldwesen erscheinen in ihren Zeichnungen und allmählich begreift Eithne, dass die Welt von Faerie sie um Hilfe bittet…

Der Autor

Der 1951 geborene Kanadier Charles de Lint publizierte bereits 1979 seine erste Fantasy-Story und hat sich seitdem als einer der fleißigsten Autoren profiliert. Dabei verfasste er nicht nur Fantasy, sondern auch einen Horrorroman („Angel of Darkness“, unter Pseudonym) und einen SF-Roman mit dem Titel „Svaha“. Bei uns ist er bislang durch seine zwei Romane für Ph. J. Farmers „Dungeon“ und durch den Fantasy-Roman „Das kleine Volk“ (alle bei Heyne) bekannt geworden.

Es wäre zu wünschen, dass sich seine Fangemeinde vergrößert, um auch die anderen zauberhaften Romane „Into the Dream“, „Yarrow“, „Moonheart“, „Memory & Dream“ und „Spirit Walk“ zu entdecken. Inzwischen hat es De Lint zu seiner Spezialität gemacht, Kurzromane in Eigenherstellung und mit niedrigster Auflage zu Sammlerpreisen anzubieten.

Werke auf Deutsch:

1) Grünmantel (1998)
2) Das kleine Land (1994):
Band 1: Das verborgene Volk
Band 2: Die vergessene Musik
3) Das Dungeon 3: Tal des Donners
4) Das Dungeon 5: Die verborgene Stadt

Handlung

Eithne Gerrows, Mitte 30, ist aus der kanadischen Hauptstadt Ottawa in die Wälder und Marschen an einem See gezogen, um sich hier Inspiration zu finden und ungestört ihrer bildenden Kunst widmen zu können. Nachdem sie sich von ihrem missbilligenden Elternhaus vor rund zwanzig Jahren lösen konnte, hat sie sich zu einer anerkannten und gefragten Malerin und Zeichnerin entwickelt.

Shakuhachi

Ihr Gespür für die Natur ringsum lässt sie ständig Motive finden, und gleichgesinnte Nachbarn helfen ihr mit allen praktischen Dingen des Lebens aus. Besonders der „Indianer“ Joe, der aus Japan stammt, weckt ihr Interesse – er ist immer in der Gegenwart und nichts bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Als wäre er der Rattenfänger von Hameln spielt er die Flöte – das heißt, die japanische Shakuhachi-Bambusflöte, deren Klang unverwechselbar ist.

Die Königin

Als sie an diesem sonnigen Herbsttag hinausgeht, erblickt Eithne – ihr gälischer Name bedeutet „Kern“ – jedoch nicht alltägliches Getier, sondern eine maskierte Frau, die vor ihr in einem prächtigen Brokatkleid steht und ein aufgeklapptes Buch hält. Die königliche Erscheinung verunsichert Eithne zunächst, und als diese sie dann auch noch eindringlich auffordert: „Du musst dich erinnern!“, nimmt sie Reißaus. Sie fährt zu ihren Freunden in Arizona.

Arizona

Franz und Carla Weir halfen ihr, die eigene Holzhütte zu bauen. Nun hat Carla bereits drei Kinder und betätigt sich als Dichterin, während Franz seine Malerei betreibt. Hier im Südwesten ist die Natur ganz anders. Die Gegend ist zwar trocken, doch wenn man sie kennt, findet man auch genügend Wasser. Ja, unvorsichtige Zeitgenossen seien hier schon in den Wadis ertrunken – sie wurden von einer Springflut überrascht, sagt Franz.

Später muss Eithne immer daran denken, was Franz ihr riet, um den „Geist“ eines Landes zu erkennen. Sie müsse die Legenden und Geschichten kennenlernen, quasi Klatsch und Tratsch des Landes, wie der Poet Gary Snyder es ausdrückte. So trage der große Berg überm Tal beispielsweise den Beinamen „Älterer Bruder“ in den legenden der lokalen Indianer.

Der wandernde Wald

Nun erinnert sich Eithne endlich an die zentrale Geschichte, die sie in ihrer Kindheit fesselte – die vom wandernden Wald. Sie stammt von einem Viktorianer namens Reynolds, der ein Zeitgenosse des wesentlich berühmteren George MacDonald war. Darin wird ein kleines Mädchen vom Wächter des Waldes, der von Holzfällern bedroht wird, gebeten, den Samen weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass der Wald woanders weiterleben kann. Dies verspricht sie – und sie Aufgabe nimmt ihr ganzes Leben in Anspruch. Da erinnert sich Eithne aber auch, wie sie in dieser Aufgabe versagte: Sie erlitt eine Fehlgeburt, als sie für ein Kind noch nicht bereit war.

Nach einem Wiedersehen mit dem Shakuhachi spielenden Joe fühlt sich Eithne bereit, die Königin des Waldes wiederzusehen. Doch nicht diese erscheint, sondern ein Waldgeist, der sich Albin nennt und sie um ihre Hilfe bittet. Mittlerweile ist es später Herbst und draußen bereits bitterkalt. Er erklärt der Malerin geduldig, dass die Königin Broceliande – sie trägt den Namen eines magischen Waldes in der Bretagne – sich nur noch selten erinnern könne, und mit den Erinnerungen, die sie hüte, verschwänden auch alle Wesen in Faerie: Stöckchenmänner aus Eithnes Visionen und Träumen ebenso wie Wesen wie Albin. Eithne müsse sich für Broceliande erinnern! Denn der Wald, den die Königin verkörpert, wird von allen Seiten und auf der ganzen Welt vergiftet, abgeholzt, niedergebrannt und seine Bewohner ausgerottet – das Lied des Waldes besteht nur noch aus Lücken…

Das alte Buch

Am ersten Tag des Schneefalls ist Eithne in eine Art frenetische Plackerei verfallen. Ihre Lieferung an die Galerie ist schon zwei Wochen überfällig! Jetzt verliebt sie sich zu allem Überfluss auch noch in Joe. Und als wäre das nicht verwirrend genug, kommt auch noch ihre Cousine Sharleen zu Besuch. Sharleen kommt aus der mütterlichen Seite und war zu Anfang nur Trailer Trash, doch mittlerweile hat sie sich zu einer gesicherten Existenz emporgearbeitet, die sowohl eine Regierungsstelle als auch originäre Malerei umfasst. Eithne bewundert Sharleens Verwandlung, ist aber verblüfft, als diese ihr ein bestimmtes Buch überreicht, das Oma ihr mitgegeben habe. Es ist „Der wandernde Wald“.

Vereinigung

In dieser Nacht geht Eithne, beobachtet von der wissenden Sharleen, hinaus in die Marsch am See, um Albin zu rufen. Sie weiß nun, was sie zu tun hat, ist aber ratlos, wie sie das tun soll. Sie kennt ihre Aufgabe. Broceliande taucht nicht auf, aber als sie zurück in ihr Zimmer stolpert, ist das Albin, attraktiver denn je: „Ich bin das, was ich für dich sein soll“, sagt er. Und das nimmt Eithne wörtlich, als sie ihn zu ihrem Bett führt…

Mein Eindruck

Veröffentlicht vier Jahre vor dem Buch „Memory & Dream“ (siehe meinen Bericht), erweist sich „The Wild Wood“ bei näherer Betrachtung als Fingerübung für jenen weitaus ausgefeilteren Roman. Da ist die nicht mehr ganz so junge Künstlerin, die draußen im Wald lebt und mit den Wesen von Faerie Kontakt auf, und zwar enger, als ihr lieb ist. Auch hier findet sich bereits die Gestalt des attraktiven jungen, aber etwas befremdlichen Indianers wieder und ebenso die Stöckchenmännchen. Völlig originär für „The Wild Wood“ ist indes die Figur der Broceliande, und das macht den Roman so interessant, selbst für eingefleischte De-Lint-Kenner.

Die Faerie-Königin

Broceliande steht am Anfang der Geschichte und ebenso am Schluss, diesmal in Eithne verwandelt: „Du musst dich erinnern“, fleht sie Eithne an, doch sie meint viel mehr als das Abrufen von Gedächtnisinhalten. Die beiden Prinzipien Erinnerung und Traum sind für einen Künstler von grundlegender Kraft: Ohne Erinnerung existiert keine Vergangenheit, ohne den Traum keine Zukunft, keine Alternative. Das Zusammenspiel dieser beiden Prinzipien verwandelt die Hauptfigur und erlaubt ihr einen völlig neuen Platz in der Welt. Wo sich Eithne vorher am Rande der Welt versteckte, befindet sie sich nun in deren „Kern“, genau wie ihr gälischer Name besagt.

Der Weg nach Faerie

Die Frage ist natürlich: Wie kann es zu dieser erstaunlichen Entwicklung kommen? Eithne selbst zunächst erschreckt und flieht. Sie fragt sich, ob sie verrückt wird und sich alle Stöckchenmännchen sowie Broceliande plus Albin nur einbildet. Sie sagt sich; Okay, man kann sich seine Seelenlandschaft nach draußen projizieren und dann entdecken, was einen im Innersten bewegt. Das ist das, was gute Kunst tut. Das beantwortet nicht die Frage (die sie sich also demzufolge selbst stellt?), woran sie sich erinnern soll.

Um dies herauszufinden, muss sich Eithne quasi selbst psychoanalysieren. Es gibt nur wenige Helfer, die ihr dabei indirekt helfen. Da sind Franz und Carla mit ihren Gedanken über den Geist von Arizona. Da ist Joe mit seinen bemerkenswerten Ansichten über die Musik, die er mit der Shakuhachi erzeugen kann. Da ist Sharleen mit ihren sehr bodenständigen Ansichten über Eithne, ihre gemeinsame Familie und über ihren Platz in der Welt. Dass sie Eithne in ihrem Glauben an die Existenz von Faerie unterstützt, trägt entscheidend dazu bei, dass Eithne nicht noch einmal flüchtet.

Die Aufgabe

Statt dessen stellt sich die Künstlerin ihrer Aufgabe: eine vollwertige Frau zu werden und Faerie eine Zukunft zu verleihen. Denn die Alternative wäre sehr traurig: Faerie ist die Farbe und der Klang der Welt. Sollten die Lücken in den Gesängen der Wesen zunehmen, würde nicht die Welt verstummen, sondern auch alle Farben verblassen. Und was hätte dann eine Künstlerin wie sie dann noch abzubilden und durch Abbilden zu feiern? Jedes Bild, so Eithne, sollte die Natur, die Kraft des Leben zelebrieren. Wie einer ihrer Kritiker mal bemerkte: „Ihre Bilder sind zwar formvollendet, doch fehlt ihnen Leidenschaft.“ Diese ist aber nur aus der Teilhabe am Leben zu schöpfen, aus der Liebe.

Eithne hat ein Vorbild, an das sie Sharleen mit Omas Buch erinnert: das kleine Mädchen, das sich um den „wandernden Wald“ kümmert und den neuen Samen dort pflanzt, wo der Wald sicher ist. Die erwachsene Version dieses Mädchen ist Broceliande, und deren männliche Variante ist Albin, eine Figur wie Oberon (tatsächlich gibt es einige Ausführungen zu Albin, Albion, Oberon). Um Broceliandes Nachfolgerin als Hüterin von Faerie werden zu können, muss sich Eithne mit Albin vereinigen. Es ist im Grunde ganz einfach. Man muss dafür nur verrückt genug sein…

Textschwächen

S. 158: „one the the most important pieces of her childhood.“ Einmal „the“ reicht völlig.

Unterm Strich

Als Vorübung zu dem Urban Fantasy Roman „Memory & Dream“ (1994), das viel ausgefeilter und komplexer ist, hat „The Wild Wood“ einen gewissen Reiz. Die Grundelemente sind alle bereits angelegt, mit einer Ausnahme: Das Paar Broceliande und Albin fordert die Hauptfigur auf, sich um den Wald zu kümmern. Bisher hat sich Eithne wie in einem Selbstbedienungsladen aufgeführt, indem sie ein Motiv des Waldes nach dem anderen „geerntet“ und zu Papier gebracht hat. Dieses Verhalten hat keine Zukunft mehr: Sie muss Verantwortung übernehmen und sich um den Wald und alle Wesen darin – „Faerie genannt – kümmern, genau wie das Mädchen in dem alten Buch. Deshalb die wiederholte Aufforderung: „Du musst dich erinnern.“

Doch Erinnern ist auch riskant. Es bedeutet, sich nicht nur dem Grauen einer Fehlgeburt zu stellen, sondern auch mit den Vorurteilen einer abweisenden Familie klarzukommen. Zum Glück findet Eithne drei Helfer, die zu ihr halten und ihr den Mut geben, den Weg nach Faerie zu gehen und sich in Broceliandes Nachfolgern zu verwandeln. Dass sie dabei selbst reich beschenkt wird, ist der Lohn ihres Wagnisses: ein einzigartiges Kind namens Lia. Das Wissen der Mutter, dass es eines Tages zu Faerie zurückkehren wird, verleiht dem Schluss eine bitter süße Note.

Dass die Botschaft „Der Mythos führt uns zu uns selbst“ lautet, tut dem Erfolg des Unterfangens, in den Inner Space zu Faerie zu reisen, keinen Abbruch. Schließlich haben uns die alten Mythen etwas Wertvolles mitzuteilen, wie man zum Beispiel an den zahlreichen Verarbeitungen der Artus-Sage ablesen kann. Um jedoch lückenlos schlüssig zu sein, fehlt diesem kurzen Roman einiges an Hintergrund über Eithne – sie ist ja nicht mehr die Jüngste, sondern muss schon mindestens Mitte 30 sein. Ich hätte erwartet, dass sie gegenüber Faerie-Wesen ein wenig abgeklärter sei.

Ich fand den Country-Fantasy-Roman (bis zur Urban Fantasy reicht es noch nicht ganz) interessant und stellenweise bewegend, aber wenig spannend. Die Schilderungen sind stimmungsvoll und die Bewältigung des zentralen Konflikts mit seiner Auflösung nachdenklich machend. Am besten gefiel mir natürlich der positive Schluss mit seiner konstruktiven Botschaft über den Sinn des Lebens. Der Roman dürfte ganz besonders weibliche Leser ansprechen. Schade, dass auch dieser De-Lint-Roman noch nicht übersetzt worden ist.

Taschenbuch: 205 Seiten
Originaltitel: The Wild Wood, 1990
ISBN-13: 978-0765302588

Orb Books

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