Anonymus – Die lüsterne Gouvernante. Die erotischen Abenteuer einer jungen Engländerin (OA)

Eine Detektivin im Haus der Liebe

Kurz nach dem 1. Weltkrieg arbeitet die junge Ann Sheridan in London bei einer Zeitung. Sie möchte gerne aufsteigen und berühmt werden. Um ihrem Chefredakteur einen Gefallen zu erweisen, schleicht sie sich als Gouvernante in das Haus eines Richters ein, um dort etwas Nachteiliges in Erfahrung zu bringen, das ihrem Chef helfen würde, sich am Richter zu rächen. Wochen vergehen, denn der Richter hat eine weiße Weste. Erst als sie sich mit Rosy, der Köchin, einlässt, kommt Ann endlich weiter. (korrigierte Verlagsinfo)

Der Autor

… ist anonym. Da es sich um eine Originalausgabe handelt, wie dem Titelblatt zu entnehmen ist, könnte der Autor genauso gut ein versierter deutschsprachiger Autor gewesen sein. Oder eine Autorin, denn in diesem Roman wird ein Loblied auf die Liebe zwischen Frauen gesungen.

Handlung

Um 1920 herum arbeitet die junge Ann Sheridan in der Redaktion einer Londoner Zeitung, aber mehr als Texte kopieren, Kaffee kochen und als Geliebte unter dem Chefredakteur zu arbeiten, darf sie nicht tun – bis heute. Während sich die Kollegin Marilyn Hunter über sie lustig macht, soll Ann bei ihrem Chef im Zimmer bleiben, allein. Jeff Whilers hat ein besonderes Anliegen. Es wäre ihm einiges wert, wenn Ann ihm Informationen liefern könnte, mit deren Hilfe er sich an Richter Mulligan rächen könnte. Denn dieser Richter hat ihn zu 5000 Pfund Strafe verdonnert, ein empfindlicher Verlust.

Nun ist allgemein bekannt, dass der Richter seine Schwiegertochter bei einem Unfall verloren hat. Deshalb sind sein Sohn und dessen zwei Töchter bei ihm eingezogen. Groß genug ist der alte Kasten ja. Leider ist Mulligan ein Tugendbold, aber wie weit reicht diese Tugend? Etwas muss es doch geben, mit dem man ihm am Zeug flicken könnte. Von ihrem ehemaligen Freund Artie Brix erfährt Ann nicht nur, dass der Richter eine Gouvernante sucht, sondern dass sie selbst in sich eine masochistische Veranlagung besitzt.

Der Richter

Anns Chef verschafft ihr die nötigen Zeugnisse und Papiere, damit sich Ann beim Richter bewerben kann. Dies erfährt sie während einer seiner Sex-Partys, die wieder mal mit sehr jungen Mädchen stattfindet. Genau deswegen hat ihn ja der Richter zu einer Strafe verdonnert. Für die Papiere zahlt Ann wieder mal in „Naturalien“.

Richter Mulligan ist ein richtig netter Kerl, findet Ann widerwillig, und stellt sie mit Kusshand ein, ihre Zeugnisse gefälscht sind und ihre eigenen Aussagen nur aus Lügen bestehen. Sie hat keinen blassen Schimmer von Kindererziehung. Die beiden Enkel des Richters versuchen sie, auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Die neunjährige Phyllis will Ann austricksen und der elfjährige Jim sie mit seiner Ehrlichkeit einwickeln. Er ist ein kleiner Gentleman, den scheinbar nichts erschüttert.

So richtig gefährlich wird ihrem Herzen aber Daniel, der Vater der beiden, ein 33 Jahre alter Rechtsanwalt, der für alle Frauen in der Umgegend offenbar der gefragteste Heiratskandidat ist. Natürlich auch für Ann, denn seine charmante Art bringt ihre Gedanken auf Abwege, die 20 Jahre in die Zukunft führen. Schließlich ist sie ja erst 23 Jahre alt und hat noch viel vor.

Die Rivalin

Jim, der kleine Gentleman, hat Ann vor der Konkurrenz gewarnt, und hier ist sie: Rosy, die Köchin, liebt Daniel heiß und innig. Es dauert nur eine Woche, bis Ann merkt, dass sie von Rosy beschattet und verfolgt wird. Kein Wunder: Sie hält Ann selbst für ihre größte Rivalin im Kampf um Daniels Herz.

Als Ann ihr Leid ihrem Chef klagt, wird der ziemlich sauer: Sechs Wochen beim Richter und null Ergebnisse! Sie muss sich mehr anstrengen oder die offenkundig lesbische Marilyn Hunter bekommt die Chance auf diese Bewährungsprobe. Was für eine Schmach das wäre, wagt sich Ann kaum auszudenken.

Niemand wagt es, das Thema der verblichenen Mrs. Daniel Mulligan anzuschneiden, und das macht Ann misstrauisch. Ist die Frau etwa nicht einem Unfall zum Opfer gefallen? Daniel traut sich endlich zu gestehen, dass er sie liebe. Sie sagt erstmal nichts, aber es gefällt ihr, dass er sie nicht wegen ihres jungen Körpers liebt. Am nächsten Morgen merkt die aufgeweckte Phyllis gleich, dass Ann traurig ist, und es ist ihr auch klar, dass sie sich in Dan verliebt hat.

Süße Falle

Aber noch jemand hat gelauscht: Rosy, die junge, mollige Köchin. Sie lädt Ann auf ihr Zimmer zu einem erotischen Stelldichein, das sich als überraschend befriedigend erweist, und erzählt ihr hinterher, was sie über Dan weiß: „Er ist im Bett ein Langweiler, da sind Frauen viel aufregender, das kann ich dir versprechen. Im Beruf ist er eine Niete und durfte noch nie vor Gericht auftreten. Und es gibt noch etwas, was du über Dan wissen musst: Er ist ein Mörder…“

Mein Eindruck

Der Sprachstil dieses Romans – mitunter im Telegrammstil – ist anspruchslos, und das interessanteste Element der Erzählung ist sicherlich die Titelfigur. Sie mag vielleicht nicht gerade „lüstern“ sein, und eine Gouvernante ist Ann Sheridan schon gleich gar nicht. Aber sie versucht herauszufinden, was sie mag und was nicht. Sie mag beispielsweise den Sex mit Minderjährigen, den ihr Chef vorzieht, überhaupt nicht. Aber sie mag Männer im allgemeinen, wie ihre zahlreichen Affären belegen, so etwa mit Artie Brix.

Da sie entweder unter Bindungsangst oder Freiheitsliebe „leidet“, besteht ihr Anliegen im Haus des Richters sowohl in einer privaten Suche als auch in der Suche nach Beweisen, die den Richter belasten würden. Die Avancen, die Dan Mulligan ihr macht, scheinen von Herzen zu kommen, doch die Köchin Rosy warnt Ann vor ihm: Er sei im Bett ein Langweiler. Und Rosy muss es ja wissen, denn sie hat schon mit Dan geschlafen. Sie zeigt Ann, die nicht nur verloren, sondern bedroht ist, wo das Paradies der Liebe zu finden sei: in den Armen einer Frau. Ist also Bisexualität der Weisheit letzter Schluss, mag sich der Leser fragen.

Die Titelfigur

Die Figur der Ann Sheridan unterscheidet sich von ihren viktorianischen und edwardianischen Vorgängerinnen beträchtlich. Erstens ist sie ein „Working Girl“, keine ausgehaltene Mätresse, keine auf Fortpflanzung geeichte Ehefrau und schon gleich gar eine Prosituierte – von denen im Buch ebenfalls die Rede ist. Doch Arbeit hilft Ann, wenigstens die Abhängigkeit von einem Zuhälter und die Gefahr einer Infektion abzuwenden.

Die Abhängigkeit von einer patriarchalischen Struktur in ihrer Firma dauert allerdings an und erinnert an die MeToo-Affäre mit Harvey Weinstein: Sexuelle Ausbeutung ist an der Tagesordnung. Alles, was Ann erreichen kann, ist die Rivalin Marilyn – ebenfalls eine Lesbierin – und von der Tippse zur Redakteurin aufzusteigen. Und wenn sie es schafft, ihren Chef wegen seiner Pädophilie anzuschwärzen, kann sie selbst zur Chefin aufsteigen – das legt die Handlung nahe.

Erotik

Natürlich muss ein erotischer Roman auch ein paar „Stellen“ aufweisen. Der Hetero-Sex ist sehr dezent angedeutet, so dass man sich stellenweise den Kopf darüber zerbrechen muss, was denn nun eigentlich beschrieben wird. Explizit sieht also anders aus. Offenbar wollte die Autorin (?) – denn es handelt sich nicht um eine Übersetzung – vermeiden, dass ihr Buch auf dem Index landete. Sie widerfuhr es ja vielen der 33 Erotika, die im Goldmann-Verlag veröffentlicht wurden. Was für den Hetero-Sex gilt, darf man getrost auch für den lesbischen Sex erwarten. Man sollte sich mit der weiblichen Anatomie bestens auskennen.

Humor

Eine der besten, humorvollsten Szenen liefert Ann Sheridan bei ihrem ersten Besuch in der Wohnung von Artie Brix, einem ihrer zahlreichen Exe, ab. Erst bewirft sie ihn verärgert mit einer wertvollen japanischen Vase, dann, nach einer Dusche, macht sie ein Badehandtuch zu einem Instrument erotischer Stimulation. Diesmal wirft Artie zurück. Und nicht nur das: Er „verhaut“ sie spielerisch mit besagtem Handtuch. Das muss man wohl gelesen haben, um zu verstehen, warum Ann entdeckt, dass sie es auch etwas rauer mag, sozusagen mit schlagenden Argumenten.

Textform

Druckfehler konnte ich keine entdecken, wohl aber viele veraltete Schreibweisen. Es fehlten eigentlich nur noch „Neger“, „Garagen“ und „Radios“ – die Klassiker der Übersetzungen zwischen 1945 und 1980. Die erste Ausgabe dieses Buches erschien – zumindest bei Heyne – anno 1976.

Unterm Strich

Dieses schmale Büchlein lässt sich auf einer Zugfahrt leicht bewältigen – und solche Taschenbücher wurden ja ursprünglich an Bahnhofskiosken angeboten, nicht etwa in Sexshops. Das erklärt auch die sehr dezente Schilderung von erotischen Momenten und Erlebnissen, die die Titelheldin für sich verbuchen kann.

Sie betätigt sich im Auftrag ihres Chefs als Liebesdetektivin im Haus eines unbescholtenen Richters. Dabei führt ihre Odyssee sie von den Armen des Richtersohns zu denen der freundlichen, lehrreichen Köchin. Deren erotische Zuwendung erweist sich zwar als Offenbarung, bringt aber Anns Ermittlung noch keinen Schritt weiter. Daher engagiert sie die Dienste von Artie Brix, der sich auch als Safeknacker als kompetent erweist.

Nur: Dessen Dienste hätte es gar nicht bedurft, denn Rosy liefert ein viel handfesteres Beweismittel… Hier wollte die Autorin vermutlich eine bereits eingeführte Figur nochmals verwenden und hat auf die korrekte Dramaturgie gepfiffen. Der Leser wird’s verschmerzen, denn ihm ist sicher spannendes Safeknacken lieber als endloses Handtuchwerfen.

Eine „Kostbarkeit der amourösen Dichtung aller Zeiten“ ist dieser Roman ebenso wenig wie ein „seltenes Werk der galanten und erotischen Literatur“, wie der Klappentext der Reihe verspricht.

Taschenbuch: 123 Seiten
ISBN 9783453500792

https://www.heyne.de

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