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Hill, Joe – Blind

Jude Coyne ist ein Rockstar Anfang fünfzig mit einem makaberen Hobby: Er sammelt morbide und okkulte Gegenstände. Zu seinen Errungenschaften gehören eine Zeichnung des Serienmörders John Wayne Gacy, ein Totenkopf aus dem 16. Jahrhundert, das Sündenbekenntnis einer als Hexe verbrannten Frau, eine Henkersschlinge und sogar ein [Snuff-Film.]http://de.wikipedia.org/wiki/Snuff-Film

Eines Tages erhält sein Assistent Danny den Hinweis auf eine interessante Internetauktion, bei der ein Geist versteigert wird. Jude schlägt zu und erhält für tausend Dollar den Sonntagsanzug des Verstorbenen in einer schwarzen Herzschachtel. Was wie ein schlechter Scherz klingt, entpuppt sich bald als Realität, als Jude den Geist des alten Mannes zu Gesicht bekommt. Es stellt sich heraus, dass der Verkauf kein Zufall war. Der tote Craddock McDermott ist auf grauenhafte Weise mit Judes Vergangenheit verbunden – und er ist hier, um sich für das zu rächen, was Jude seiner Ex-Freundin Anna, Craddocks Stieftochter, angetan hat.

Für den Rockmusiker beginnt ein Horrortrip, in den nicht nur er, sondern auch sein Umfeld miteinbezogen werden und bei dem Craddock nicht mehr der einzige Geist ist, der ihn verfolgt. In seiner Verzweiflung macht er sich gemeinsam mit seiner jungen Gothic-Freundin Georgia und seinen beiden Hunden auf zur Verkäuferin des Geistes, der Tochter des Toten. Dort in Florida hofft er, Antworten zu finden …

Geistergeschichten haben seit Jahrunderten ihren festen Platz in der Horrorliteratur. Umso schwerer ist es da, diesem Aspekt noch eine originelle Seite abzugewinnen. Joe Hill, Pseudonym des Sohnes von Horrormeister Stephen King, erzählt in seinem Debütroman zwar eine typische Geister-Rache-Geschichte, doch dass ein Geist per Internet an sein Opfer gelangt und käuflich erworben wird, ist eine nette Übertragung des Phänomens in die moderne Welt.

|Spannung bis zum Schluss|

Die Handlung geht gleich |in medias res|, ohne sich mit langem Vorgeplänkel aufzuhalten. Schon bald hält der Geist Einzug im Hause Coyne, sorgt für eine unheilvolle Atmosphäre, und Leser wie Hauptfigur ahnen, dass der Kauf keine gute Idee war. Ein Telefongespräch mit der Verkäuferin klärt rasch die persönlichen Hintergründe. Judes depressive Ex-Freundin war die Stieftochter des Verstorbenen, die Verkäuferin die Schwester und für das scheinbare Unrecht, das Jude ihr mit seinem Rausschmiss angetan hat, soll er nun mit seinem Tod büßen.

Auch sein Assistent Danny bekommt bald zu spüren, was es heißt, einem Geist zu begegnen, und spätestens ab diesem Augenblick ist Jude klar, dass er in höchster Gefahr schwebt. Der Leser fragt sich, ob auch Georgia ein Opfer des Geistes werden wird, ob die beiden auf ihrer Flucht Hilfe aus dem Jenseits erhalten, was Jude in Florida von Annas Schwester erfährt, ob diese ihnen helfen wird oder Jude zu drastischen Mitteln greift. Auch eine überraschende Wendung ist enthalten, die plötzlich alle Dinge in einem anderen Licht erscheinen lässt.

|Interessante Charaktere|

Vielschichtigkeit ist ein Stichwort zur Beschreibung der Charaktere. Jude Coyne wächst dem Leser zwar immer mehr ans Herz, doch ein makelloser Held ist er beileibe nicht. Er trägt die typisch verwegene Vergangenheit eines Rockstars mit sich herum, inklusive Drogentrips und den munteren Affären mit halb so alten Gothic-Girls, denen er ihren Heimatstaat als Spitznamen verpasst. Früh erfährt man vom Hass auf seinen sterbenskranken Vater, dem er schon lange den Tod an den Hals gewünscht hat, ebenso von seiner gescheiterten Ehe. Letztlich befremdet auch sein makaberes Hobby, vor allem der Besitz des Snuff-Videos, auch wenn Jude selbst gewisse Skrupel dabei hegt. Der alternde Star ist eine zwiespältige Persönlichkeit und kein moralisches Vorbild, erfährt aber im Verlauf seiner Reise neue Einsichten.

Auch die ehemalige Stripperin Georgia, eigentlich Marybeth, ist anfangs nicht leicht einzuschätzen. Der erste Eindruck entspricht dem einer naiven Bettgefährtin, eines leichenblassen Groupies mit kunstvollem Make-up und oberflächlichen Interessen. Doch als Judes Leben außer Kontrolle gerät, entwickelt sich Georgia zu einer hilfreichen Unterstützung. Sie kennt wenig Furcht und hält zu Jude, auch wenn sie sich damit selber in Gefahr bringt. Auf dem Weg nach Florida machen sie Station bei ihrer Großmutter „Bammy“, einer resoluten und okkult-erfahrenen Frau aus Hillbilly-Kreisen, durch die auch Georgia ein wenig Geister-Kenntnis mitbringt.

|Kleine Schwächen|

Frei von Mankos ist das Debüt dennoch nicht. So lobenswert es auch ist, vielschichtige Charaktere zu erzeugen, so blass bleibt dagegen der Horrorfaktor. Zwar sind die ersten Auftritte von Craddocks Geist durchaus unheimlich, doch danach schwindet die Gruselatmosphäre immer mehr. Dazu trägt auch die ungünstige Beschreibung bei, nach der die Augenpartie der Geister wie mit schwarzem Stift überkritzelt aussieht – ein Effekt, der zweifellos in einem Film besser zur Geltung kommt als in einem Roman. Es fehlt dem Geist an einer geheimnisvollen Aura, die ihn von einem mord- und rachlustigen Psychopathen unterscheidet. Bezeichnend dafür ist, dass eine kleine Nebenepisode mit Bammys Schwester Ruth, die im Kindesalter entführt wurde und nie zurückkehrte, auf wenigen Seiten einen viel intensiveren Schauer auslöst als alle Auftritte mit Craddock McDermott zusammen. Der Roman ist weniger der Horror-Schocker, den der Verlag ankündigt, sondern zeigt eher das Bild eines Mannes auf der Suche nach sich selbst während eines Trips quer durch die USA, vor dem Hintergrund einer Geistergeschichte.

_Unterm Strich_ bleibt ein ordentlicher Debütroman, der nicht allen Lobpreisungen gerecht wird. Vor allem den interessanten Charakteren und dem flüssigen Stil ist zu verdanken, dass „Blind“ ein lesenswerter Geisterroman geworden ist. Der Horrorfaktor dagegen fällt eher gering aus, sodass eingefleischte Schocker-Fans nicht zu hohe Erwartungen haben sollten.

_Der Autor_ Joe Hill, eigentlich Joseph Hillstrom King, ist ein Sohn des bekannten Autorenehepaares Stephen & Tabitha King. 2005 erschien seine Geschichtensammlung „20th Century Ghosts“, die im November 2007 bei |Heyne| unter dem Titel „Black Box“ auf Deutsch veröffentlicht werden soll. Er ist Träger des |Ray Bradbury Fellowship|, wurde bereits zweimal mit dem |Bram Stoker Award| sowie dem |British Fantasy Award|, dem |World Fantasy Award|, dem |A. E. Coppard Price| und dem |William L. Crawford Award| als bester neuer Fantasy-Autor 2006 ausgezeichnet. Erst im Zuge des Verkaufs der Filmrechte von „Blind“, seinem Debütroman, wurde das Pseudonym gelüftet. Joe Hill wurde 1972 in Bangor/Maine
geboren und lebt mit seiner Familie in New Hampshire.

http://www.joehillfiction.com

|Originaltitel: Heart-Shaped Box
Originalverlag: Morrow
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller
Gebundenes Buch, 432 Seiten|
http://www.heyne.de

Berkeley, Jon – gestohlene Lachen, Das (Die unglaublichen Abenteuer von Miles und Little 1)

Der zehnjährige Miles lebt seit seiner Flucht aus dem Waisenhaus in einem Holzfass. Seine besten Freunde sind sein Teddybär Mandarine, den er stets bei sich trägt, und Lady Partridge, eine ältere Frau, die mit ihren hundert Katzen in einem riesigen Baumhaus lebt. Eines Nachts zieht der Wanderzirkus Oscuro in die Stadt. Der neugierige Miles schleicht sich in die Vorstellung und sieht dort die Hochseilnummer eines kleinen Mädchens.

Mitten im Auftritt stürzt die Artistin, doch sie rettet sich auf wundersame Weise durch ihre Flügel – was das Publikum für einen netten Trick hält, ist offenbar tatsächlich Realität. Später beobachtet Miles, dass das Mädchen vom Zirkusdirektor, dem skrupellosen Großen Cortado, gefangen gehalten wird. Es gelingt ihm, die kleine Artistin zu befreien und mit ihr zu Lady Partridge zu flüchten.

Dort erfährt er die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das sich „Little“ nennt. Little ist ein Engel, gemeinsam mit ihrem Engelfreund Silverpoint aus den Wolken gestürzt und auf dem Zirkusplatz gelandet. Während Little als Hochseilartistin auftreten musste, wurde Silverpoint in den „Palast des Lachens“ verschleppt, der zum Zirkus gehört. Für Miles und Little steht fest, dass sie Silverpoint befreien müssen. Ein sprechender Tiger hilft den beiden auf ihrer Reise zu diesem unheimlichen Ort, an dem der Große Cortado regiert. Wer hier eine Vorstellung besucht, verliert die Fähigkeit zu lachen und glücklich zu sein …

Mit dem Auftakt zu einer Trilogie versorgt Jon Berkeley alle Freunde des phantastischen Kinderromans mit einem unterhaltsamen Lesestoff, der neugierig auf die folgenden Teile macht.

|Liebevolle Charaktere|

Im Mittelpunkt steht der zehnjährige Miles, ein Waisenjunge, dem nach sieben Versuchen endlich die Flucht aus dem ungastlichen Waisenhaus geglückt ist und der seitdem zufrieden in seinem Weinfass lebt. Sein Leben ist nicht komfortabel, aber annehmbar und sein größter Schatz ist sein geliebter Bär Mandarine, die letzte Erinnerung an die Zeit vor dem Waisenhaus. Wer seine Eltern waren, weiß er nicht, und manchmal stimmt ihn dieser Gedanke traurig. Sein unbekümmertes, neugieriges Wesen macht ihn sofort sympathisch, und für Kinder stellt er schnell eine ideale Identifikationsfigur dar – ähnlich wie Huckleberry Finn lebt er ohne große Zwänge und genießt die Freiheit, eine für Kinder natürlich beneidenswerte Situation.

Die kleine Little sieht zwar aus wie ein süßes Mädchen, doch da sie zum ersten Mal auf der Erde ist, sind ihr viele Dinge fremd, was Miles immer wieder in Verwirrung bringt. Sie kann mit Tieren sprechen und fliegen, unter Wasser atmen und Miles Teddybär Mandarine zu Leben erwecken. Über die Menschen wusste sie bislang nur die Gerüchte, die sich die anderen Engel erzählen – von zweiköpfigen Wesen und pelzigen Gesichtern, von Menschen, die essen, bis sie platzen, und von anderen, die wie Gerippe herumlaufen. Ihre naive und zugleich liebenswerte Art ist nicht immer leicht für Miles zu begreifen, doch schon bald stehen sich die beiden nah wie Geschwister und sie wissen, dass sie nur gemeinsam eine Chance haben, gegen den Großen Cortado zu bestehen.

Eine Reihe von nicht weniger sympathischen und orginellen Nebenfiguren ergänzt die Liste der Charaktere. Da ist die kugelrunde Lady Partridge, die mit ihren hundert Katzen in einem Baumhaus lebt und eine zuverlässige Helferin in schwierigen Lagen ist. Mit Vorliebe lacht sie über ihre eigenen Witze, die außer ihr sonst niemand wirklich komisch findet, aber davon abgesehen, ist sie eine rundum liebenswerte, wenn auch schrullige ältere Dame. Da ist der distinguierte, sprechende Tiger, der Miles und Little auf ihrem Weg zum Palast des Lachens auf dem Rücken trägt, der aber bei jeder Gelegenheit erwähnt, dass sie ihn bloß nicht als Freund betrachten sollen, falls er doch einmal hungrig werden sollte. Und da ist der alte Bolzenglas von Arabien, ein früherer Forschungsreisender und ehemaliger Werber um Lady Patridge, der Miles‘ Expedition mit Begeisterung unterstützt.

|Fantasievolle Details|

Es ist in Grundzügen die Welt, die wir kennen, die im Roman präsentiert wird, doch nach und nach schleichen sich die fantastischen Elemente ein. Den sprechenden Tiger hält Miles zunächst noch für einen Traum, und auch ein Engelsmädchen hat er nie zuvor gesehen, ganz zu schweigen davon, dass er auf einmal die Gespräche auf der Katzenversammlung verstehen kann. Es ist kein reiner Märchenroman, sondern die Grenzen zwischen der unserigen Realität und jener der Fantasy-Details verschwimmen. Immer ist man gespannt darauf, welche skurrile Figur als Nächstes auftauchen mag, welche Hindernisse sich Miles und Little in den Weg stellen oder vom wem sie überraschend Hilfe erhalten – auch wenn von Anfang an klar ist, dass alles ein gutes Ende finden muss. Die Einbindung des Wanderzirkusses sorgt für eine zusätzliche aufregende Atmosphäre mit ihren bunten Gestalten, etwa den netten drei Clowns, die immer durcheinander reden und dabei vom Thema abschweifen, der baumlangen Riesenfrau Baumella und dem geheimnisvollen Zero, einer monsterhaften Mischung, die an an eine Hyänen-Yeti-Kreuzung erinnert.

Der Stil ist ideal für Leser ab etwa 10 Jahren geeignet. Hin und wieder spricht der Erzähler den Leser direkt an, aber so selten und dezent, dass es keineswegs aufdringlich ist. Sehr positiv ist außerdem, dass der erste Teil in sich abgeschlossen ist. Alle wichtigen Fragen werden geklärt und man kann das Buch nach dem Lesen befriedigt zur Seite legen, bis der zweite Teil erscheint. Am Ende werden Andeutungen gegeben, was im nachfolgenden Roman passieren wird, sodass sich der Leser schon mal Gedanken machen kann.

|Nur kleine Schwächen|

Echte Mankos weist das Buch erfreulicherweise keine auf. Allerdings reagieren die Figuren nicht immer ganz logisch. Als Little von ihrem Schicksal erzählt, stellt Miles kaum weitere Fragen, sondern es steht für ihn sofort fest, dass er ihr bei der Suche nach Silverpoint helfen wird. Dabei wäre es naheliegend, sich zu erkundigen, ob Little niemandem aus dem Wolkenreich zu Hilfe rufen kann. Ähnlich verhält es sich bei einer Hilfsaktion gegen Ende des Buches. Anstatt sogleich zu fragen, woher seine Freunde wussten, dass sie zur Rettung herbeikommen mussten, erfährt er die Umstände bloß zufällig und etwas später. Gerade für ungeduldige Kinder, die rasch Antworten auf logische Fragen haben wollen, ist das nicht sehr geschickt konstruiert, fällt aber zum Glück nicht stark ins Gewicht.

Ein wenig schade ist die Eindimensionalität der bösen Charaktere, deren Darstellung längst nicht so originell ausfällt wie jene der Sympathieträger. Vor allem der böse Zirkusdirektor Cortado und sein Gehilfe Dschingis sind recht oberflächlich gezeichnet, knubbelig und hässlich vom Äußeren, Dschingis außerdem sehr beschränkt und naiv. Es fehlt den Bösen vor allem an Zwiespältigkeit und einer etwas geheimnisvolleren Attitüde, die sie interessanter gemacht hätte.

_Als Fazit_ bleibt ein gelungener Auftakt zu einer kindgerechten Trilogie, an der auch Jugendliche und Erwachsene ihre Freude haben können. Obwohl es sich um den ersten von drei geplanten Teilen handelt, ist das Buch in sich abgeschlossen und besitzt ein eigenständiges und befriedigendes Ende. Liebevolle Charaktere, ein leicht verständlicher Stil und märchenhafte Elemente machen den Roman trotz ein paar kleiner Schwächen zu einem spannenden und abwechslungsreichen Lesegenuss.

_Der Autor_ Jon Berkeley, geboren in Dublin, liefert mit „Das gestohlene Lachen“ seinen Debütroman ab, zwei weitere Bände sollen folgen. Zuvor arbeitete er über zwanzig Jahre lang als Illustrator und lebte unter anderem in Sydney und Hongkong. Heute hat er sich mit seiner Familie und seinen Tieren in Katalonien niedergelassen.

http://www.ravensburger.de/

Preußler, Otfried – kleine Wassermann, Der

Tief unten auf dem Grund des Mühlenweihers steht ein kleines Haus. Dort wohnt die Wassermannfamilie mit dem Vater, der Mutter und dem kleinen Wassermannjungen. Der kleine Wassermann sieht genauso aus wie ein normaler Menschenjunge, nur dass er grüne Haare und zwischen den Fingern Schwimmhäute hat. Am liebsten trägt er seinen schilfgrünen Rock, gelbe Stiefel und eine lange, rote Zipfelmütze.

Schnell wächst er heran und bald ist es soweit, dass der kleine Wassermann mit seinem Vater zum ersten Mal das Haus verlassen und durch den Mühlenweiher schwimmen darf. Endlich lernt er all die Fische persönlich kennen, die er bisher immer nur vom Fenster aus beobachten konnte. Einer von ihnen wird sein ganz besonderer Freund: der alte, ehrwürdige Karpfen Cyprinus, auf dessen Rücken er nach seinem ersten Ausflug nach Hause reiten darf.

Von da an durchstreift der kleine Wassermann jeden Tag den Mühlenweiher und erlebt stets ein neues Abenteuer. Der Weiher ist zwar nicht sehr groß, aber für den Jungen gibt es allerhand zu entdecken. Dabei gibt es auch unerfreuliche Begegnungen, wie mit dem hässlichen Neunauge, das dem kleinen Wassermann schreckliche Albträume beschert – aber eines Tages nimmt ihn sein Vater sogar mit zu einem Abstecher auf Land, wo der staunende Wassermann die Menschen kennen lernt und noch aufregendere Dinge erlebt …

„Der kleine Wassermann“ ist mittlerweile einer der Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur. Der Erfolg ist nicht verwunderlich, denn das Buch enthält alles, was Kinder zur Unterhaltung brauchen: eine sympathische Hauptfigur, einfache kindgerechte Sprache, lustige und aufregende Episoden sowie zahlreiche Illustrationen.

|Sympathische Hauptfigur|

Das Entscheidende am kleinen Wassermann ist, dass er für Kinder eine ideale Identifikationsfigur darstellt. So wie die Menscheneltern ihre Kinder vor bestimmten Dingen warnen, so gelten auch für den kleinen Wassermann gewisse Regeln. Und ganz wie Menschenkinder, ist er so neugierig, dass er sie ein ums andere Mal übertritt.

Gleich bei seinem ersten Ausflug in den Mühlenweiher verleitet ihn sein Übermut dazu, sich so tief in den Schlingpflanzen zu verstecken, dass er alleine nicht mehr herauskommt. Erst sein Vater kann ihn befreien und der kleine Wassermann erfährt zum ersten Mal, was passieren kann, wenn man es zu toll treibt.

Auch bei seinen Ausflügen in die Menschenwelt lauern Gefahren. Nicht umsonst warnen ihn seine Eltern davor, sich den Menschen zu zeigen. Doch der kleine Wassermann kann es nicht lassen. Zu seinem Glück glauben die meisten Menschen nicht an Wassermänner, sondern halten ihn bloß für einen komischen Knirps mit grünen Haaren, und der kleine Wassermann ist so flink, dass er blitzschnell entwischt, als ihn einmal ein Menschenmann zu jagen beginnt.

|Humorvoll und lehrreich|

Sehr humorvoll geht es an den Stellen zu, an denen der Wassermann unbekannte Gegenstände der Menschenwelt erforscht. In der Wasserwelt ist man natürlich ganz anderes Essen gewohnt, so dass er die gebratenen Kartoffeln zunächst für Steine hält. Als die Kinder ihm welche zum Probieren anbieten, schmecken sie ihm wider Erwarten ganz vorzüglich. Selbstverständlich will er sich dafür revanchieren und bringt seinen neuen Freunden etwas von seinen eigenen Köstlichkeiten mit – oder zumindest etwas, das in seiner Welt als Köstlichkeit gilt: Voller Stolz präsentiert er den Jungen Kröteneier mit eingesalzenen Wasserflöhen, gedünsteten Froschlaich und Algengerichte. Leider will keiner seiner Freunde davon probieren. 😉

Bezeichnenderweise reagieren die Menschenjungen viel freundlicher auf den kleinen Wassermann als die Erwachsenen. Sie stutzen keinen Augenblick, als er ihnen verrät, wer er ist. Vielmehr freuen sie sich, einen neuen Kameraden gefunden zu haben.

In liebevoller Weise mahnt das Buch den respektierlichen Umgang mit der Natur an. Der kleine Wassermann lebt mit allen Tieren im Weiher in friedlicher Harmonie, auch wenn sich darunter so unheimliche Gesellen wie das Neunauge befinden. Menschen, die diese Natur bedrohen, werden bestraft, so wie ein Angler, mit dem sich der kleine Wassermann einen Streich erlaubt.

Ein netter Charakter ist der Karpfen Cyprinus. Sehr ruhig und bedächtig, voller Vorurteile über die Menschenwelt und immer ein bisschen grummelig, steht er im direkten Gegensatz zu seinem kleinen, naseweisen Freund. Dennoch oder gerade deswegen verstehen sich die beiden prächtig, denn der kleine Wassermann weiß, dass er immer auf den Karpfen vertrauen kann. Umgekehrt registriert der alte Cyprinus anerkennend, dass der kleine Wassermann trotz seiner Flausen ein anständiger Junge ist.

|Kaum Schwächen|

Die Darstellung der Menschenwelt ist etwas zu bieder geraten. Die Kinder sind alle freundlich zum kleinen Wassermann, die Erwachsenen dagegen unangenehme Zeitgenossen, die mit ihm schimpfen oder ihn verjagen. Diese Schwarz-Weiß-Malerei kommt ein bisschen zu dick aufgetragen daher, was aber vermutlich bei einem Kinderbuch nicht so stark ins Gewicht fällt.

Auch ein bisschen mehr Spannung hätte dem Werk gut getan. Die Abenteuer des kleinen Wassermanns sind lustig und lehrreich, aber für die Leser nicht wirklich aufregend. Er gerät nie ernsthaft in Gefahr. Vor den Menschen hat er von Anfang an keine Scheu und außer dem Neunauge scheint er alle Tiere im Weiher zu mögen. Vielleicht hätte man ein zusätzliches Abenteuer, etwa mit einem gefährlichen großen Fisch, einbauen können, damit die etwas älteren Leser, die sich nach mehr Action sehnen, auch auf ihre Kosten kommen.

|Einfache Sprache|

Die Sprache ist ideal für Grundschulkinder geeignet. Die Sätze sind einfach und kurz gehalten und es werden keine schwierigen Worte verwendet. Sätze wie: „Hei, wie der Moormann dem kleinen Wassermann aufspielte“ werden bewusst mit umgangssprachlichen Ausschmückungen versehen, um das Erzählte gegenüber dem Kind noch lebendiger zu gestalten. Durch diesen Stil eignet sich das Buch auch hervorragend zum Vorlesen. Alle paar Seiten befindet sich eine meist halbseitige Federzeichnung, die die Erlebnisse des kleinen Wassermanns jeweils untermalt.

_Insgesamt_ handelt es sich bei dem „kleinen Wassermann“ um ein für Kinder sehr lesenswertes Buch. Viele schöne Episoden in und außerhalb der Wasserwelt sorgen für kindgerechte Unterhaltung. Mit Liebe zum Detail kreiert der Autor eine gemütliche Unterwasserwelt. Lustige und lehrreiche Epsioden ranken sich um den Alltag eines kleinen Wassermannjungen, der trotz seiner Herkunft die gleichen Eigenschaften wie Menschenkinder aufweist und ihnen deshalb schnell vertraut sein wird.

_Der Autor_ Otfried Preußler zählt zu den bekanntesten Kinderbuchautoren Deutschlands. Er wurde 1923 in Böhmen geboren. Später zog er nach Oberbayern, wo er noch heute zuhause ist. Bis 1970 arbeitete er als Volkschullehrer, ehe er sich dem Schreiben widmete.

„Der kleine Wassermann“ war sein erstes Kinderbuch. Es folgten zahlreiche weitere Werke, die allesamt erfolgreich wurden, u. a.: „Die kleine Hexe“, „Das kleine Gespenst“, „Der Räuber Hotzenplotz“, „Hörbe mit dem großen Hut“, „Die Abenteuer des starken Wanja“ und „Krabat“.

Für den „kleinen Wassermann“ erhielt Preußler den Deutschen Kinderbuchpreis. Es folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen, u.a. der Deutsche sowie der Europäische Jugendbuchpreis („Krabat“), Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse, Eichendorff-Literaturpreis, Konrad-Adenauer-Preis für Literatur der Deutschland-Stiftung e. V.
Viele seiner Werke wurden erfolgreich vertont bzw verfilmt.

Mehr über den Autoren erfährt man auf seiner Homepage: http://www.preussler.de.

http://www.thienemann.de/

Siehe auch:

[„Krabat“ 2446

Uhl, Alois – Sterben der Päpste, Das

Zwei Jahrtausende Sterben und Tod der Päpste werden kommentiert, die vielfältigen Todesursachen, die anschließenden Rituale und Verwicklungen, kuriose und interessante Begleitumstände.

Im Mittelalter waren turbulente Zustände an der Tagesordnung. Gregor VII., einst gefeiertes Idol, wurde von einem Gegenpapst verdrängt und starb im Exil. Die Leiche von Innozenz III. erfuhr eine Plünderung durch Unbekannte, der abgedankte Coelestin V. erlebte seine letzten Stunden eingesperrt hinter Burgmauern. Das nächste Kapitel widmet sich den Leibärzten der Päpste, ihren mitunter ausgefallenen Heilmethoden und ihrer lebensrettenden Einsatzbereitschaft. Es wird informiert über die Präparierung des Leichnams, die Überführung nach St. Peter und die typischen Darstellungen der Epoche wie den Totentanz in Verbindung mit dem Papsttum.

»Das Sterben der Päpste in der Renaissance und Barockzeitalter« berichtet von Mordanschlägen auf Alxeander VI. und Leo X. in den bewegten Zeiten der Borgia und Medici. Das nächste Kapitel widmet sich im Gegensatz dazu den Päpsten, die nach langer Krankheit und im hohen Alter dahinschieden. Es folgt eine Übersicht über diverse letzte Stunden der Päpste, über ihre Sterbezimmer und letzten Worte sowie über die Totenzeremonien und bemerkenswerte Reaktionen der Römer auf ihren verstorbenen Papst.

Der dritte Teil befasst sich mit den Gräbern der Päpste und ihre Legenden. Es beginnt mit dem Petrusgrab über die Bestattungen in der Calixtus-Katakombe, in San Giovanni in Laterano bis hin zu einem makaberen Transport päpstlicher Gebeine in einem Koffer per Eisenbahn. Das nächste Kapitel informiert über Papstgräber außerhalb von Rom, so unter anderem auch über letzte Ruhestätten in Deutschland und schließt mit einer Übersicht über die verschiedenen Grabmale, ihre Ausstattung und ihre Botschaften.

»Das Sterben der Päpste vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart« konzentriert sich auf Leben und Ableben der umstrittenen Päpste Pius VI., Pius VII. und Pius IX., auf den Übergang ins 20. Jahrhundert mit Leo XIII., hin zum viel diskutierten Pontifikats Pius XII., der während des Zweiten Weltkrieges amtierte und über dessen Ableben unsägliche, intime Details an die Öffentlichkeit traten. Mit Johannes XXIII. erlebte die Welt einen engagierten Sympathieträger als Papst, dessen Tod internationale Bestürzung hervorrief.

Das letzte Kapitel befasst sich mit Johannes Paul I. und Johannes Paul II. Der frühe und unerwartete Tod des 33-Tage-Papstes Johannes Paul I. sorgt bis heute für Debatten über einen möglichen Mordanschlag, auch wenn dies mittlerweile zurückgewiesen wird. Im Gegensatz dazu steht das zweitlängste Pontifikat in der Geschichte, das Johannes Paul II. ausübte, der Medienpapst, der trotz Attentat und einer Vielzahl von Krankheiten lange Zeit dem Tode trotzte, bis er am 2. April 2005 verstarb – ein von der Öffentlichkeit verfolgtes Sterben mit enormer Anteilnahme. Den Abschluss bilden zwei Kapitel über die Heiligsprechung der Päpste und den Bezug zum Jüngsten Gericht.

Bücher über Leben und Wirken der Päpste gibt es wie Sand am Meer – umso attraktiver ist da ein Werk, das den Fokus auf ihre letzten Stunden und die Zeit unmittelbar nach ihrem Tod legt. Der Autor Alois Uhl hat eine interessante Übersicht markanter Ereignisse zusammengestellt, die natürlich niemals vollständig sein kann, aber eine ausgewogene Mischung aus spektakulären Todesfällen und herkömmlichem Ableben darstellt.

|Bunte und informative Mischung|

Dabei arbeitet er sich chronologisch vor, vom frühen Mittelalter über das Renaissancezeitalter bis in die Gegenwart. Der Leser erfährt von Papstmördern und Schändungen nach dem Tod, von Konflikten mit Gegenpäpsten und einsamem Sterben in Gefängnissen. Auch wenn, gerade angesichts des Todes von Johannes Paul II., der dieses Thema wieder aktualisierte, inzwischen viele Details bekannt sind, ist es immer wieder interessant, über die zahlreichen Rituale und ihren Wandel im Verlauf der Zeit zu lesen.

So etwa die bis 1978 gültige Aufgabe des Camerlengos, des Kardinalkämmerers, der dreimal dem Verstorbenen mit einem Hämmerchen an die Stirn klopfte und ihn ansprach, um den Tod zu bestätigen, die Schriften des Zeremonienmeisters, die den Ablauf der Totenliturgie festlegen. Dabei kommen auch allerlei kuriose Vorfälle zur Sprache: Nach einer Tradition wurden nach dem Tod von Sixtus IV. seine persönlichen Gegenstände aus dem Sterbezimmer geräumt, mit der Folge, dass dem Zeremonienmeister kein Hemd zum Wechseln zur Verfügung stand, nicht einmal Tücher, um den gewaschenen Leichnam abzutrocknen. Noch härter traf es Alexander VI., gegen den der Zeremonienmeister einen persönlichen Groll hegte und der erst bestattet wurde, nachdem sein Körper bereits deutliche Verwesungsanzeichen aufwies.

|Respektvoll, aber nicht unkritisch|

Sehr angenehm liest sich der Tonfall, in dem das Werk verfasst ist. Der Autor befasst sich in respektvoller Weise, aber nicht unkritisch mit den Themen Kirche und Papsttum. Im Zentrum steht die Aussage, dass auch der Papst, »Seine Heiligkeit«, im Augenblick des Todes ein gewöhnlicher Mensch ist. So wie sich die Päpste menschliche Verfehlungen leisten, so bleiben sie auch nicht von menschlichen Leiden verschont. Sie erlebten schmerzhafte und einsame Tode, langwierige Krankheiten, lebensverlängernde Operationen, mühsame Genesungen, heimtückische Anschläge. Aufgeräumt wird mit dem Vorurteil des frommen und friedlichen Einschlafens, das längst kein Standard in der Geschichte des Paptstumes ist.

Und selbst wenn kein spektakulärer Tod hinter dem Ableben steht, kann der falsche Umgang des Vatikans damit zu großen Turbulenzen führen, etwa im berühmten Fall des »lächelnden Papstes« Johannes Paul I., der zwar ohne Leid und Schmerzen im Schlaf verstarb, über dessen mögliche Ermordung jedoch noch heute wild spekuliert wird – auch weil der Vatikan die Umstände, etwa die scheinbar skandalöse Auffindung durch eine Nonne, vertuschte, was den Gerüchten nur noch mehr Auftrieb verschaffte.

Obgleich der Autor Theologe ist, richtet sich das Werk in Inhalt und Tenor keinesfalls speziell an Christen und Kirchenanhänger. Sachkundig, neutral und mit einem Sinn für das Amüsante und Lächerliche wird hier mit Mythen aufgeräumt und ein Blick hinter die sonst so verschlossenen Kulissen des Vatikans geworfen. Keine Anbiederung schmälert diese Informationen, dafür aber wird der Leser mit allerlei interessanten und aufschlussreichen Details versorgt, die das Werk zu einem Sachbuch machen, das man gerne immer wieder aus dem Regal nimmt.

|Nur winzige Mängel|

Ein paar Bilder mehr hätten es ruhig sein dürfen, vor allem um den Anblick der lebenden Päpste nochmals ins Gedächtnis zurufen. Noch bedauerlicher allerdings ist das Fehlen eines Registers am Ende. Zwar verfügt das Werk über eine chronologische Struktur, doch da man bei der Vielzahl der Päpste eine spezielle Auswahl treffen musste, wäre ein Namensregister sehr angebracht gewesen. Entsprechendes gilt für ein Stichwortregister, etwa um Schlagwörter wie »Camerlengo« und andere Begriffe auf Anhieb zu finden.

_Als Fazit_ bleibt ein interessantes Sachbuch über die vielfältigen letzten Stunden der Päpste und die unmittelbare Zeit nach ihrem Tod, das mit Mythen abschließt und einen durchaus kritischen Blick hinter die Kulissen des Vatikans wirft. Den Leser erwartet eine informative Mischung aus kuriosen und alltäglichen Details aus zwei Jahrtausenden Geschichte des Papstums.

_Der Autor_ Alois Uhl, Jahrgang 1936, studierte Theologie, Philosophie und Pädagogik. Von ihm erschienen bereits die Sachbücher »Papstkinder« sowie »Die Päpste und die Frauen«.

http://www.patmos.de

Festa, Frank (Hrsg.) – Pflanzen des Dr. Cinderella, Die

25 Erzählungen der Schauerliteratur aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert geben sich in diesem Sammelband ein unheimliches Stelldichein.

»Das Haus in der Rue M. le Prince« erzählt von einem Spukhaus in Paris, in dem der Ich-Erzähler mit seinem Freund, dem Erben, und zwei weiteren Bekannten eine unheimliche Nacht verbringt. Anfangs sind die Besucher noch guter Dinge, doch schon bald zeigen sich Anzeichen dafür, dass das verfluchte Haus seinen Ruf nicht zu Unrecht trägt … Die erste von insgesamt fünf hier versammelten Reisegeschichten von _Ralph Adams Cram_, die alle aus der Sicht des gleichen Erzählers stammen, stellt einen gelungenen Einstieg in die Anthologie dar. Trotz des altbekannten Plots wird eine dichte unheilvolle Atmosphäre kreiert und zwischen den Zeilen offenbart sich ein leiser Humor, der für gute Unterhaltung sorgt.

In »Das Ding auf dem Dach« erhält der Ich-Erzähler Besuch von seinem alten Bekannten und Forscherkollegen Tussmann. Tussmann braucht seine Hilfe bei der Beschaffung eines Buches, das sich mit geheimnisvollen Kulten und Mysterien befasst. In einem Dschungeltempel soll sich ein sagenhafter Schatz verbergen und der Schlüssel dazu liegt in einem Juwel. Tussmanns Suche hat zwar Erfolg, bringt aber auch fatale Konsequenzen mit sich … Der „Conan“-Autor _Robert E. Howard_ legt hier eine solide Geschichte vor, die mit dunklen Kulten und geheimnisvollen Flüchen spielt. Die Vorhersehbarkeit nimmt der Handlung die Spannung, für Freunde des Themas ist es dennoch eine unterhaltsame Kurz-Erzählung.

»Die Pflanzen des Dr. Cinderella« erzählt von einem Ägyptologen, der einst im Wüstensand eine geheimnisvolle Statue ausgrub, die eine Hieroglyphe nachbildet. Seitdem verspürt er zunehmend Wahnvorstellungen, die ihn in einer planlosen Nacht in ein fremdes Haus treiben … _Gustav Meyrink_ gehört zu den bekanntesten Namen des Bandes, allerdings kann seine Geschichte nicht durchweg überzeugen. Das Zusammenfließen von Wahn und Wirklichkeit ist gut dargestellt, bleibt aber nicht länger im Gedächtnis haften, zumal der Gruselfaktor intensiver hätte sein können.

»Die Kirche von Zinsblech« ist der Ort, an dem sich ein verirrter Wanderer einen Schlafplatz sucht. Er erwacht, als eine merkwürdige Prozession durch den Gang zum Altar zieht, die ihn nicht wahrzunehmen scheint … Auch in dieser Erzählung klingt die antireligiöse Haltung an, die viele Werke von _Oskar Panizza_ durchzieht. Verwirrend-absurde Erlebnisse vermischen sich mit einer schauerlichen Atmosphäre und hinterlassen beim Leser den zwiespaltigen Eindruck einer interessanten, aber gleichzeitig befremdlichen Geschichte.

»Der australische Gast« handelt vom heimgekehrten Mister Rumbold, der nach London zurückkehrt, um dort seinen erworbenen Reichtum zu genießen. Doch ein seltsamer Mann folgt ihm bis in sein Hotel … Zum ersten Mal ist diese wunderbare Erzählung von _Leslie Poles Hartley_ auf Deutsch erschienen, die mit ihrer klaren, flüssigen Sprache, der sich bedrohlich-zuspitzenden Atmosphäre und dem gekonnten Schluss einen weiteren Höhepunkt in der Sammlung bildet.

»Gefangen auf Schloss Kropfsberg« erzählt die schauerliche Legende des bösartigen Grafen Albert, der einst alle Gäste durch ein Feuer auf seinem Schloss umkommen ließ und sich anschließend das Leben nahm. Zwei ungläubige Geisterforscher verbringen eine Nacht in der Ruine, in der es spuken soll … Im Gegensatz zum ersten geisterhaften Reisebericht von _Ralph Adams Cram_ ist der Ich-Erzähler – samt seinem Freund Tom Rendel – nur Teil der Rahmenhandlung, die sich etwas zu ausschweifend an den Anfang setzt. Danach jedoch überzeugt die Geschichte auf ganzer Linie, entwirft ein bedrückend-unheimliches Szenario, das nicht nur die Protagonisten, sondern auch den Leser beeindruckt.

»William Wilson« nennt sich der Ich-Erzähler, der zu Schulzeiten einen Mitschüler gleichen Namens hatte, der ihm sowohl äußerlich als auch charakterlich stark ähnelte und mit dem er von Beginn an rivalisierte. Auch nach Verlassen der Schule fühlt er sich, wohin er auch geht, von ihm verfolgt … Mit dieser stark autobiographisch gefärbten Geschichte von _Edgar Allan Poe_, die sich um das Doppelgänger-Motiv dreht, liegt die wohl bekannteste Erzählung des Bandes vor. Schein und Sein fließen stark ineinander, vor allem im symbolträchigen Schluss. Die Erwartungen, die an Poes Werke geknüpft sind, werden souverän erfüllt.

»Die weiße Villa« bietet dem Protagonisten und seinem Freund Tom Zuflucht für die Nacht, als sie auf einer Italienreise den Rückzug verpassen. Grauenvolle Dinge spielten sich hier vor vielen Jahren ab, welche die Gemäuer auch heute noch nicht verlassen haben … Das italienische Flair wird von _Ralph Adams Cram_ gut eingefangen, der Rest der Geschichte jedoch ist ausgesprochen konventionell und belanglos im Vergleich zu den meisten anderen Erzählungen.

»Der Flötenbläser« ist ein arabischer Mann, der dem jungen Ehepaar Ariadne und Erich auf deren Hochzeitsreise nach Ägypten auf dem Schiff begegnet. Sein trauriges Flötenspiel verwirrt Ariadnes Sinne. An Land trifft sie ihn bald darauf wieder … _Leonhard Stein_, von dessen Biographie man kaum mehr als seinen Namen kennt, hinterlässt eine Reisegeschichte mit Wüstenflair, die mit irrationalen Gefühlen und Suggestion spielt. Der detailverliebte Stil allerdings ist angesichts der recht dünnen Handlung zu überladen.

»Im Haus des Richters« erzählt vom angehenden Examenskandidaten Malcom Malcomson, der sich zum Lernen in eine kleine Stadt zurückzieht. Er quartiert sich im Haus eines verstorbenen Richters ein, in dem es nicht geheuer ist … Diese Geschichte beweist, dass _Bram Stoker_ zu Unrecht immer nur als „Dracula“-Autor gerühmt wird. In erfrischend klarer Sprache bietet sich eine wohlig-gruselige Geistergeschichte dar, die zwar konventionell ist, aber gut unterhält.

»Lemuren« setzt sich zusammen aus den hinterlassenen Tagebucheinträgen des ehemaligen Irrenstaltsinsassen Dr. Wijkander, der sich nach seiner Entlassung in die Wildnis zurückgezogen hat. Je weiter man liest, desto stärker wandeln sich die Einträge in die Worte eines Verfolgten – oder eines Wahnsinnigen … Diese Geschichte von _Willy Seidel_, dem Bruder der bekannten Schriftstellerin Ina Seidel, stellt zwar glaubwürdig die seelische Verfassung des Schreibers dar, gehört aber aufgrund des hektischen, stakkatohaften Stils und des eher unoriginellen Themas zu den schwächeren Texten des Bandes.

»Notre Dame des Eaux« heißt die uralte Kirche, die sich über den Meeresklippen erhebt, in deren Nähe die Familie de Bergerac eine Sommerresidenz einrichtet. Tochter Heloise schläft eines Abends beim Besuch in der Kirche ein und wird Zeugin einer fatalen Begegnung … In schwerfällig-blumiger Sprache wird eine Gruselgeschichte von _Ralph Adams Cram_ dargeboten, die zwar keinen großen Eindruck hinterlässt, aber solide unterhält.

»Wenn man des Nachts sein Spiegelbild anspricht« berichtet von der unglücklichen Liebe zwischen dem Ich-Erzähler und Yseult. Nach einem glücklichen gemeinsamen Sommer kehrt jeder in seine Stadt zurück. Ein Jahr darauf erhält er eine Einladung von ihr zu einem Treffen auf einem Maskenfest. Yseult ist inzwischen verheiratet, aber einmal noch wollen sie eine Nacht zusammen verleben. Dabei spielt der große Spiegel im Vorzimmer eine unheilvolle Rolle … _Max Brod_ ist nicht nur als Autor, sondern auch als enger Freund von Franz Kafka bekannt. Inhaltlich zwar interessant, hinterlässt der allzu überladene Stil aber einen negativen Beigeschmack, ebenso wie die moralisierende Pointe. Der Phantastikcharakter ist zwar gegeben, doch der Grusel- oder gar Horrorfaktor hält sich, im Gegensatz zu anderen Geschichten, stark zurück.

»Das tote Tal« durchqueren zwei Jungs bei Nacht, nachdem sie bei ihrem Ausflug die Zeit vergessen haben. Von Angstzuständen wie gelähmt, machen sie eine grauenvolle Erfahrung … Die Handlung wird von _Ralph Adams Cram_ unspektakulär in Szene gesetzt, besticht aber durch eine intensive Darstellung, die zu Recht von Großmeister Lovecraft gelobt wurde, auch wenn der Beginn sich ein wenig zu lang zieht.

In »Eine eigenartige Abendgesellschaft« gerät der Freund des Erzählers in einer verträumten Frühlingsnacht. Die Dame des Hauses lädt ihn in ihre pompöse Villa ein, in der gerade ein prunkvolles Fest gefeiert wird. Unsicher, aber doch neugierig, lässt er sich darauf ein und genießt die schmeichelnde Aufmerksamkeit. Doch trotz des eleganten Ambientes und der vornehmen Gäste liegt eine seltsame Stimmung in der Luft … Der Ukrainer _Orest M. Somow_, als Vorläufer des großen Nikolaj Gogol gepriesen, legt eine sehr atmosphärische Geschichte vor, die den Leser bis zum Schluss gebannt in Atem hält. Zu bedauern ist nur, dass die ersten Sätze schon einiges vom Ende vorwegnehmen. Wünschenswert wäre gewesen, den Ausgang zunächst völlig offen zu lassen.

Der Instrumentenmacher »Tobias Guarnerius« ist von der fixen Idee besessen, eine Stradivari nachzubauen. Um seinen Erfolg zu krönen, will er die Seele eines Menschen einfangen … Obwohl _Ignaz Franz Castelli_ kein Spezialist für Schauerliteratur war, entwickelt er hier auf der Basis einer Volkssage eine interessante Künstlergeschichte mit phantastischen Elementen, deren geschwollener und umständlicher Stil allerdings einiges an Konzentration vom Leser verlangt.

»Das gespenstische Gasthaus« erzählt von einer düsteren und gefährlichen Fahrt über die Kuhrische Nehrung nach Russland. Vor vielen Jahren nahm dort ein Gasthaus Reisende auf, bis ein Mord und einige unheimliche Begebenheiten Einzug hielten … Die Erzählkunst von _Alexander von Ungern-Sternberg_ ist unbestritten, leider schmälern die dominante Rahmenhandlung, die immer wieder die Handlung unterbricht, und der zu ausführliche Anfangsteil den Gesamteindruck. Amüsant dagegen ist der Abschluss, der trotz der gruseligen Stimmung einen Schuss Humor einfließen lässt.

»Das zweite Gesicht« ist eine Erzählung über morbide Visionen, die einen Baron beim Besuch eines alten Freundes befallen. Von der Schwermut befallen, sucht er beim Abbe Maucombe Ablenkung. Trotz des freundlichen Empfangs und der gemütlichen Ländlichkeit wird er von düsteren Halluzinationen ergriffen … Diese Geschichte stammt aus der Feder des verarmten Adligen _Jean-Marie Villiers de l’Isle-Adam_. Wie auch beim Rest seines Werks, dominiert hier die melancholische Stimmung, die sich vom Protagonisten auf den Leser überträgt. Trotzdem hinterlässt das Ende eher Nachdenklichkeit als Traurigkeit. Eine überzeugende Erzählung, die im Gedächtnis haften bleibt.

Von »Eine(r) Erscheinung« geisterhaften Ursprungs erzählt in gesellschaftlicher Runde der Marquis de la Tour-Samuel. Als junger Mann begegnet er einem Jugendfreund, der unter dem frühen Tod seiner Ehefrau leidet. Da er es nicht über sich bringt, das gemeinsame Schloss noch einmal zu betreten, bittet er seinen Freund, diesen Gang zu übernehmen und einige Papiere zu besorgen. Noch ahnt der Marquis nichts von seiner unheimlichen Begegnung auf dem Schloss … An seine Meisterwerke wie [»Der Horla« 584 oder »Wer weiß« kann diese Erzählung von _Guy de Maupassant_ nicht heranreichen. Der Anfang ist zu geschwätzig gestaltet, das Ende weiß nicht zu überraschen. Es bleibt eine durchschnittliche Geschichte, wenn man die besseren Texte des Autors im Hinterkopf hat.

»Severins Gang in die Finsternis« zeigt das trostlose Leben eines jungen Mannes, der seine Tage im Büro und seine Abende in den dunklen Gassen Prags verbringt. Neuen Auftrieb erhält er durch die Bekanntschaft mit dem Antiquar Lazarus Kain. Durch ihn begegnet er auch Susanna und Karla, die geheime Wünsche in ihm wecken, und nicht zuletzt dem mysteriösen Nikolaus … Dieser wiederentdeckte Kurzroman des zu Unrecht wenig beachteten Autors _Paul Leppin_ thematisiert Zerrissenheit und seelische Abgründe vor dem Hintergrund der Prager Bohème.

»Das Geheimnis in der Gerrard Street« ist die Geschichte des Kaufmanns Wiliam Furlong, der bei seinem geliebten Onkel Richard in Toronto aufwächst. Vor der Hochzeit mit seiner Cousine Alice geht er für ein paar Jahre nach Australien, um dort zu Geld zu kommen. Auf der Rückreise erhält er in Boston überraschend einen Brief seines Onkels der viele Fragen aufwirft … Mit dieser klassischen Geistergeschichte setzt _John Charles Dent_ einen weiteren Höhepunkt in die Sammlung. Sehr behutsam steigert sich die Spannung zu einer rundum überzeugenden Erzählung.

»Die verruchte Stimme« gehört dem berühmten Sänger Balthasar Cesari, genannt Zaffirino, der mit ihrer Hilfe zu töten wusste … _Vernon Lee_ ist das androgyne Pseudonym der vielseitig gebildeten Intellektuellen _Violet Paget_, die hier eine außergewöhnliche, aber auch anstregende Geschichte vorlegt, durchsetzt von inneren Monologen und sprunghaften Gedanken.

»Der Spuk auf der Jarvee« erzählt von einer Schiffreise, die der auf übersinnliche Begebenheiten spezialisierte Detektiv Carnacki unternommen hat. Sein Freund Captain Thompson ist überzeugt davon, dass es auf der Jarvee nicht mit rechten Dingen zugeht … _William Hope Hodgson_ gilt als Meister der unheimlichen Seegeschichten, und auch diese achte von insgesamt neun Erzählungen um die Hauptfigur Carnacki entfaltet eine intensive Atmosphäre, begleitet von wissenschaftlichem Einschlag.

»Die andere Seite« wird die gegenüberliegende Bachseite von den Dorfbewohnern argwöhnisch genannt. Der junge Gabriel begibt sich aus Neugierde hinüber und entdeckt eine Welt voller Abgründe und Geheimnisse … _Eric Count Stenbock_ stand zeitlebens im Schatten des großen Oscar Wilde. Seine morbide Geschichte steht ganz im Zeichen der Dekadenz-Epoche, ist mit seinen blumig-schwerfälligen Schilderungen aber auf sehr spezielle Geschmäcker zugeschnitten.

»Der Skelett-Tänzer« Mac Robert ist der Star der Varietés. Mit einem kunstvollen, leuchtendem Skelettanzug führt er vor dunklem Hintergrund einen unheimlichen Tanz auf, der ihn zu einer gefragten Berühmtheit macht. Eines Tages fordert ihn der undurchsichtige Herr Semert zu einer Partnerschaft auf, die den Ruhm beider noch vergrößert. Als Robert sich nach einer Weile von Semert trennt, ahnt er noch nichts von den katastrophalen Folgen … _Karl Hans Strobl_ setzt mit seiner Totentanz-Geschichte ein Glanzlicht an den Abschluss der Anthologie. Der Text besticht durch unheilvolle Andeutungen, einen unvorhersehbaren Verlauf und eine intensive Atmosphäre und gehört zweifelsfrei zu den Höhepunkten der Sammlung.

_Als Fazit_ bleibt eine äußerst lesenswerte Sammlung klassischer Horrorgeschichten aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Große Namen wie E. A. Poe und Guy de Maupassant wechseln sich mit viel zu früh vergessenen Literaten der Phantastik ab. Zwar sind auch einzelne schwächere Geschichten enthalten, doch es gibt keinen wirklich negativen Beitrag und der Großteil der Auswahl ist hervorragend gelungen. Die schöne Aufmachung und die jeweiligen Kurzinformationen zu den Autoren runden das positive Gesamtbild ab. Ein Muss für jeden Freund der unheimlichen Phantastik. Einziges Manko: Einige der Geschichten wurden bereits mehrfach in diversen Anthologien abgedruckt.

_Der Herausgeber_ Frank Festa wurde 1966 in Düsseldorf geboren. 1997 gründete er den Kleinverlag „Edition Metzengerstein“, 2001 schließlich den auf Horror und Dark Fantasy spezialisierten |Festa|-Verlag.

http://www.festa-verlag.de

Link, Charlotte – Echo der Schuld, Das

Das junge Aussteiger-Ehepaar aus Deutschland Livia und Nathan Moor hat zuhause alles verkauft und in ein Segelboot investiert. Doch der Traum von der Weltumsegelung platzt bald. Vor der schottischen Küste kollidieren sie mit einem Frachter. Mit letzter Kraft können Livia und Nathan ihr Leben retten. Das Segelboot sinkt und ihnen bleibt nichts als die Kleider, die sie tragen. Während Nathan das Schicksal mit Fassung trägt, bricht Livia völlig zusammen.

Der Unfall spricht sich im Dorf rasch herum. Auch die junge Engländerin Virginia Quentin, die mit ihrem Mann Frederic und ihrer kleinen Tochter Kim im Ferienhaus wohnt, hört davon. Kurz vor dem Unglück hatte Livia für sie im Garten gearbeitet und sich etwas Geld verdient. Virginia, die die junge Frau sympathisch fand, fühlt sich zur Hilfe verpflichtet. Gegen den Willen ihres Mannes gestattet sie den Moors, bis auf Weiteres in ihrem Ferienhaus zu leben. Dankbar nimmt das Ehepaar an, während die Quentins am nächsten Tag nach Hause nach Norfolk fahren.

Frederic, der politische Ambitionen verfolgt, reist beruflich nach London und Virginia bleibt mit Kim in Norfolk zurück. Überraschend steht auf einmal Nathan in der Tür. Seine Frau muss im Krankenhaus betreut werden und ist nicht transportfähig für die Rückreise nach Deutschland, er selber hat kein Geld, um sich im Ferienhaus zu versorgen. Widerwillig erlaubt Virginia dem mysteriösen Nathan, bei ihr zuhause unterzukommen. Einerseits fühlt sie sich von ihm bedrängt, andererseits kann sie sich seines Charismas nicht erwehren. Zur gleichen Zeit verschwinden zwei Mädchen in der Gegend und werden bald darauf ermordet aufgefunden. Virginia sorgt sich um ihre Tochter Kim. Hat etwa Nathan etwas mit den Vorfällen zu tun?

Charlotte-Link-Fans dürfen sich freuen: „Das Echo der Schuld“ ist nicht nur der aktuelle Roman der Autorin, sondern gehört auch mit zu ihren besten.

|Spannung in allen Handlungssträngen|

Gleich auf mehreren Ebenen wird eine Spannung entwickelt, die sich bis zum Ende des Buches zieht. Wie es für die Autorin typisch ist, verteilt sich die Handlung auf mehrere Stränge, die alle miteinander in Verbindung stehen. Die Haupthandlung konzentriert sich auf die beiden Ehepaare, das deutsche Paar Livia und Nathan Moor und ihre englischen Gastgeber Virginia und Frederic Quentin. Das Schiffsunglück bedeutet eine Zerreißprobe für die Moors, Livia erleidet einen körperlichen und seelischen Zusammenbruch, während ihr Ehemann die Dinge offenbar deutlich gelassener nimmt. Schon früh fragt man sich, was diese beiden grundverschiedenen Menschen eigentlich zu einer Ehe geführt hat und ob ihre Beziehung diese Katastrophe überstehen wird.

Ähnliches gilt für die beiden Engländer. Nicht genug damit, dass die Aufnahme der Moors für sie eine Belastung darstellt, auch zuvor deuten sich Spannungen an. Der bekannte Bankier Frederic sucht sein Heil in der Politik und drängt Virginia zu öffentlichen Auftritten an seiner Seite. Diese jedoch zieht sich lieber zurück und kümmert sich um Tochter Kim statt seine politischen Ambitionen zu unterstützen. Noch prekärer wird die Lage, als Frederic nach London reist und Nathan Moor sich bei Virginia einnistet. Trotz seiner leicht unheimlichen Aura fühlt sie sich zu diesem Fremden mehr und mehr hingezogen. Einerseits verunsichert durch seine aufdringliche und selbstbewusste Art, vertraut sie ihm in einer stillen Stunde Dinge aus ihrer Vergangenheit an, die selbst ihr Mann bislang nicht erfahren hat. Auch hier darf man gespannt sein, worauf diese Annäherung hinausläuft und inwieweit auch die Ehe von Frederic und Virginia zu zerbrechen droht.

Ein Nebenstrang führt in Virginias Vergangenheit. Sie erzählt Nathan von ihrem ehemaligen Lebensgefährten Michael, ihr bester Freund und Cousin aus Kindertagen, für den sie nie mehr als platonische Liebe empfinden konnte und mit dem sie ein schreckliches Geheimnis verbindet, das Virginia noch heute belastet. Neben diesen Rückblicken gleitet die Handlung letztlich auch zu den beiden Mädchen über, die zunächst spurlos verschwinden und später ermordet aufgefunden werden. Man gewinnt schmerzhaft realistische Einblicke in das Leid der zurückgelassenen Eltern, sodass man beinah dankbar ist, dass diese Handlung nicht so breit angelegt ist wie das Geschehen um die beiden Ehepaare. Als ein drittes Mädchen Gefahr läuft, in die gleiche Falle zu laufen, bleibt dem Leser nur ein banges Hoffen, dass wenigstens sie – wie auch die später verschwundene Kim – von diesem grausamen Schicksal verschont bleiben. Der Leser grübelt nicht nur über die Identität des Kindermörders nach, sondern auch über die zwischenmenschlichen Entwicklungen innerhalb der Beziehungen.

|Zwiespältige Charaktere|

Im Mittelpunkt steht Virginia, die sich im Verlauf der Handlung als vielschichtiger entpuppt als erwartet. Ihre bewegte Vergangenheit und das schreckliche Geheimnis, das sie mit Michael teilt und das „Echo der Schuld“, das sie seither mit sich herumträgt, sind der Grund für ihre in sich gekehrte Art und den Mangel an Ausgelassenheit. Ihre Hilfsbereitschaft gegenüber den Moors ist gut nachvollziehbar, während man ebenso die Abneigung von Frederic verstehen kann, der zu Recht befürchtet, dass sie sich auf eine große Belastung einlassen.

Der wohl interessanteste Charakter ist Nathan Moor. Seine Frau Livia, ein verstörtes, scheues Wesen, ist ein reiner Sympathieträger, während man für Nathan zunächst Abscheu empfindet. Sein gutes Aussehen und gewinnendes Auftreten können nicht über seine Unverschämtheit hinwegtäuschen. Empört verfolgt man, wie er Stellung in Virginias Haus bezieht und immer weiter in ihr Leben eindringt. Allerdings offenbart er auch eine sensible Seite und bringt Virginia dazu, ihr tiefstes Geheimnis zu offenbaren. Nach und nach begreift man, was für einen wichtigen Ausgleich der unbekümmerte Nathan im Gegensatz zum karriereorientierten Frederic für Virginia darstellt, sodass die anfangs rein negative Empfindung revidiert wird.

|Keine nennenswerten Schwächen|

Insgesamt ist „Das Echo der Schuld“ so grundsolide, dass man kaum etwas bemängeln kann. Etwas fragwürdig ist die Begründung, weshalb Virginia Nathan Moor tatsächlich bei sich zuhause einziehen lässt. Zwar ist ihr Ehemann Frederic für einige Tage verreist, doch es steht außer Frage, dass er über Tochter Kim früher oder später von dem unliebsamen Gast erfahren wird. Trotz allen rhetorischen Geschicks ist nicht ganz nachvollziehbar, warum Virginia Nathan so viele Freiheiten zugesteht und sich nicht überwindet, ihn an die deutsche Botschaft zu verweisen, zumal sich die Sympathie und Vertrautheit für ihn erst später ergibt.

Obwohl in leichtem Stil geschrieben, kann die Vielzahl der Handlungsstränge den Leser leicht überfordern. Mal geht es um Virginia und Frederic, dann um Nathan und Livia, dann um die ermordete Sarah und ihre Leidensgenossin Rachel, dann um die kleine Rachel, die Bekanntschaft mit dem Mörder schließt, und letztlich um Virginias Vergangenheit. Ein kleiner Kritikpunkt ist außerdem das Ende, das einen der Handlungsstränge offen lässt. Obwohl es kein zentraler Aspekt ist, wirkt dies beinah wie eine Aufforderung zu einer Fortsetzung.

_Unterm Strich_ liegt hier ein sehr unterhaltsamer und hochspannender Thriller vor, der nicht nur Fans von Charlotte Link ans Herz zu legen ist. Auf mehreren Ebenen entfaltet sich eine fesselnde Handlung, die sich um Ehedramen, Kindsmord und eine geheime Vergangenheit dreht. Die kleinen Kritikpunkte fallen dabei kaum ins Gewicht, sodass am Ende nur eine klare Empfehlung bleibt.

_Charlotte Link_, Jahrgang 1963, gehört zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen der Gegenwart. Fast alle ihre Bücher wurden zu Bestsellern. Ihre Spezialgebiete sind historische Romane sowie Psychothriller. Zu ihren bekanntesten Werken zählen: „Das Haus der Schwestern“, „Verbotene Wege“, „Die Sünde der Engel“ und die Sturmzeit-Trilogie („Sturmzeit“, „Wilde Lupinen“, „Die Stunde der Erben“). Mehrere ihrer Bücher wurden fürs Fernsehen verfilmt.

http://www.blanvalet.de

|Siehe ergänzend dazu:|

[„Am Ende des Schweigens“ 1606
[„Der fremde Gast“ 1080

Alvtegen, Karin – Seitensprung, Der

Eva ist eine berufliche erfolgreiche Frau und glückliche Mutter des fünfjährigen Axel. Die Ehe mit Henrik ist zwar nach 15 Jahren eingerostet, doch in Evas Augen ist sie dennoch stabil. Nach Monaten der Routine versucht sie, ihren Mann wieder einmal zu verführen. Entsetzt erfährt sie an diesem Abend, dass Henrik schon seit einem Jahr mit dem Gedanken an Trennung spielt. Nur seinem Sohn zuliebe hält er die Fassade aufrecht. Eva unterstellt ihrem Mann eine Geliebte, trotz dessen gegenteiligen Beteuerungen. Durch Zufall erfährt sie von heimlichen Telefonaten mit einer angeblichen guten Freundin namens Maria, die allerdings nicht existiert. Der Fund versteckter Ohrringe beweist Eva endgültig, dass eine andere Frau im Spiel ist.

Noch ehe sie ihren Mann zur Rede stellt, erfährt Eva, wer ihre Rivalin ist. Sie überwindet ihren Schock und beschließt, heimlich zurückzuschlagen. Sie spinnt Intrigen, verschickt Liebes-E-Mails unter falschem Absender und forscht in der Vergangenheit der anderen Frau nach dunklen Punkten, um sie anonym zu verleumden. Um sich ihre eigene Attraktivität zu bestätigen, geht sie einen One-Night-Stand mit dem deutlich jüngeren Jonas ein, den sie in einer Bar kennen lernt.

Nach der gemeinsamen Nacht streicht Eva ihren Liebhaber aus ihrem Leben und konzentriert sich auf die Zerstörung ihrer Rivalin. Doch sie ahnt nicht, dass sie bei Jonas an einen Psychopathen geraten ist, der in ihr seine große Liebe sieht. Während sich Eva mit ihren Verleumdungen in eine prekäre Lage bringt, macht sich der eifersüchtige Jonas auf die Suche nach ihr, um sie zurückzugewinnen …

„Eine verhängnisvolle Affäre“ lässt grüßen; insofern hat Karin Alvtegen ein bekanntes Motiv aus Thrillerfilm und -literatur aufgegriffen. Der besondere Kniff des Romans liegt jedoch darin, dass sie diesen Plot mit einem Psychodrama kombiniert.

|Spannung auf mehreren Ebenen|

Geschickt wird das Bildnis einer zerrütteten Ehe mit den dramatischen Folgen eines One-Night-Stands verbunden. So dreht sich das erste Drittel um die mittlerweile einjährige Affäre von Familienvater Henrik und Evas geschocktes Begreifen, dass ihr Mann sie, wenn ihr gemeinsamer Sohn nicht wäre, auf der Stelle verlassen würde. Zunächst versucht Eva mühsam, die Fassade aufrechtzuerhalten. Sie versucht, ihren Mann zu verführen und an schöne alte Zeiten zu erinnern, doch sie erntet nichts als Kälte. Durch Spionage findet Eva heraus, dass es eine konkrete andere Frau geben muss, und der Zufall verrät ihr schließlich, dass es sogar jemand aus ihrem Bekanntenkreis ist, den sie nie verdächtigt hätte. In diesen Bemühungen, ihre Rivalin psychisch und beruflich zu zerstören, spielt der One-Night-Stand mit dem jungen Jonas zunächst scheinbar kaum eine Rolle. Für Eva ist dieses Abenteuer bloß eine kurze Ablenkung und eine Bestätigung, dass wenigstens andere Männer sie noch als attraktive Frau wahrnehmen.

Schon am nächsten Morgen ist sie mit ihren Gedanken wieder vollends bei ihrer Noch-Ehe und plant die nächsten Schritte ihres Rachefeldzugs. Dieser allein böte schon Stoff genug für einen Roman, doch mit dem mysteriösen Jonas kommt eine zweite inhaltliche Ebene hinein. Das Psychodrama wird um Elemente eines Psychothrillers erweitert. Der Leser erfährt die gefährliche Vergangenheit von Jonas und verfolgt seinen Weg, um seine Geliebte wiederzufinden. Der Ausgang ist in jeder Hinsicht offen, daher ist der Leser bis zur letzten Seite gefesselt. Viele Fragen stellen sich während des Lesens: Wie weit wird Eva ihre Rache an ihrer Rivalin treiben? Gibt es noch eine Chance für ihre Ehe? Wird Jonas auf Evas Spur stoßen und ihr etwas antun?

|Interessante Charaktere|

Die Autorin kreiert trotz der nicht gerade ausufernden Länge des Romans vielschichtige Charaktere. Das gilt vor allem für Hauptperson Eva, die dem Leser mal als Identifikationsfigur dient und mal dunkle Schattenseiten zeigt. Zunächst fühlt man automatisch mit der armen Frau, deren Mann sie betrügt und jeden Versöhnungsversuch harsch zurückweist. Schmerzlich verfolgt man ihre Verzweiflung. Ihr Sohn darf nichts von ihrem Kummer ahnen, auch vor ihren Eltern soll die Fassade gewahrt bleiben, doch Eva erlebt immer wieder neue Demütigungen. Es ist der verzweifelte Kampf einer betrogenen Frau, deren Weltbild von einer Sekunde auf die anderen zerbrochen ist. Auch für die ersten Racheaktionen hat man Verständnis, vor allem angesichts der Tatsache, welche Person sich hinter der Affäre verbirgt. Doch Eva treibt ihre Rache zu weit. Gnadenlos geht sie vor und wird in ihrem Verhalten nach und nach noch kühler als ihr Noch-Mann Henrik.

Dieser gewinnt wiederum im Verlauf der Handlung an Sympathie. Anfangs ist man angewidert vom hinterhältigen Familienvater, der seiner Frau seine Verachtung demonstriert. Doch bei fortschreitender Entwicklung erkennt man, dass auch Henrik seine Zweifel besitzt. Ein geplanter Liebesurlaub mit seiner Affäre endet abrupt, und der Verdacht, dass auch seine Frau ihn betrogen haben könnte, ändert plötzlich seine Gefühle. Henrik liebt Eva zwar nicht mehr so wie früher, doch egal ist sie ihm trotzdem nicht. In ihm wird eine Eifersucht geweckt, von der niemals gedacht hätte, dass sie noch existiert.

In der Figur von Jonas liegen dagegen ein paar Schwächen. Der Hauptkritikpunkt begründet sich damit, dass er einem Klischee-Psychopathen entspricht. Seine verlorene Liebe liegt seit Jahren im Koma, die Chancen auf eine Genesung sind minimal. Der One-Night-Stand mit Eva löst in ihm die irrige Vorstellung aus, das Schicksal habe ihm hier seine neue Liebe gezeigt. Kleine Rückblicke in seine Kindheit und Jugend zeigen eine typische Mutter-Dominanz, die sein Frauenbild gravierend gestört hat.

|Kleine Schwächen|

Ein wenig schade ist, wie leicht es Jonas gemacht wird, Evas Fährte aufzunehmen. Immerhin hatte sie ihm sogar einen falschen Namen genannt, aber der Zufall hilft ihm bei der Suche entscheidend weiter. Ähnliches gilt für Evas Racheaktionen. Obwohl sie ursprünglich nur den Namen und Beruf ihrer Rivalin kennt, stößt sie ohne viel Aufwand auf ein brisantes Details aus deren Vergangenheit, das sie gegen sie verwenden kann und inszeniert eine Fälschungskampagne, bei der Eva viel Glück zur Seite steht. Dagegen geht sie bei einer Aktion ein völlig unnötiges Risiko ein, das auch prompt bestraft wird, sodass man sich über ihr Verhalten als Leser regelrecht ärgert.

Ein wenig gewöhnungsbedürftig sind darüberhinaus die ständigen Perspektivenwechsel. Der personale Erzähler berichtet mal über Evas, mal über Henriks und mal über Jonas‘ Sichtweise, sodass man parallel mehrere Handlungsstränge verfolgt. Verwirrung kommt nicht auf, da ja alle Stränge eng miteinander verknüpft sind, doch man bekommt keinen eindeutigen Hauptcharakter präsentiert. In manchen Fällen wird sogar eine Szene nacheinander aus zwei verschiedenen Sichtweisen erzählt. Dieser Stil sorgt dafür, dass dem Leser nicht viele Gedanken der Figuren vorenthalten werden und wenig Raum für eigene Spekulationen bleibt.

_Als Fazit_ bleibt ein bis zum Schluss spannender Roman, der Psychodrama mit Thriller vereint. In klarer, einfacher Sprache wird von einer zerrütteten Ehe, einem Seitensprung und den fatalen Folgen einer eifersüchtigen Rache erzählt, ohne dabei zu moralisieren. Kleine Schwächen trüben ein wenig den positiven Gesamteindruck, doch unterm Strich bleibt ein sehr lesenswertes Buch, insbesondere für weibliche Thrillerfreunde.

_Die Autorin_ Karin Alvtegen wurde 1965 geboren und lebt in Stockholm. Die Großnichte der bekannten Kinderbuchautorin Astrid Lindgren verfasste mit „Schuld“ ihren ersten Kriminalroman. Mit ihrem nachfolgenden Werk „Die Flüchtige“ gelang ihr der Durchbruch. Zuletzt ist „Scham“ auf Deutsch erschienen.

Mehr über sie auf http://www.karinalvtegen.com.

http://www.rowohlt.de

Ted Dekker, Frank Peretti – Das Haus

Jack und Stephanie, ein Schriftsteller und eine Countrysängerin, sind noch nicht lange verheiratet, doch der Unfalltod ihrer kleinen Tochter hat ihre Ehe zum Scheitern gebracht. Jack gibt seiner Noch-Frau die Schuld am Geschehen, was Stephanie ähnlich empfindet. Eine Eheberatung in Montgomery soll ihnen nochmal eine Chance geben. Auf dem Weg dorthin geraten sie mit dem Auto ins Hinterland von Alabama. Ein Sheriff bewegt sie zu einer Umleitung in eine einsame Gegend. Zu allem Überfluss geraten sie in eine Straßenfalle und haben eine Panne. Im nächstgelegenen Hotel, einem finsteren Gebäude namens „Wayside Inn“, suchen sie Zuflucht.

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Franz, Andreas – Unsichtbare Spuren

Norddeutschland, 1999: Nach einer verregneten Nacht wird die brutal zugerichtete Leiche der siebzehnjährigen Sabine gefunden, die per Anhalter zu einer Chatfreundin reisen wollte. Aufgrund von Spermaspuren stößt die Polizei sehr schnell auf den vorbestraften Georg Nissen. Nissen gesteht zwar, Sabine mitgenommen und einvernehmlichen Sex mit ihr gehabt zu haben, er beteuert jedoch, mit ihrem Tod nichts zu tun zu haben. Doch für Kommissar Sören Henning ist der Fall klar. Kurz nach der Verurteilung nimmt sich der vermeintliche Täter das Leben – zu spät erkennt Henning, dass er tatsächlich unschuldig war.

Fünf Jahre später: Kommissar Henning hat seinen fatalen Irrtum bis heute nicht verkraftet. Seine Ehe ist zerbrochen, seine Frau versucht den Kontakt zu den Kindern zu unterbinden, er selber hat sich auf Büroarbeit verlegt. Doch dann wird die Leiche einer jungen Frau gefunden, am gleichen Ort wie damals Sabine. Fast alles deutet darauf hin, dass der Täter wieder zugeschlagen hat. Henning recherchiert und erkennt, dass Dutzende Morde ähnlicher Art seit rund fünfzehn Jahren in ganz Deutschland verübt wurden. Trotz der Skepsis seiner Kollegen glaubt er an einen Serientäter, der schon zahlreiche Opfer auf dem Gewissen hat.

Ermuntert von seiner jungen, temperamentvollen Kollegin Lisa Santos, steigt Sören Henning wieder in die Ermittlungen ein. Er glaubt, dass der Mörder ein überdurchschnittlich intelligenter Mann ist, der mit seinen Verfolgern spielen will. Bald folgt die Bestätigung in Form eines Briefes an Henning. Der Mörder schickt Fotos seiner toten Opfer und fordert den Ermittler zur Suche heraus. Die Zeitspanne zwischen seinen Taten wird immer kürzer und Kommissar Henning befindet sich mitten in einem grausame Katz-und-Maus-Spiel …

Mit den Krimis um Julia Durant und Peter Brandt existieren bereits zwei Ermittlerreihen von Andreas Franz, doch mit Hauptkommissar Sören Henning gibt ein sehr menschlicher und sympathischer Ermittler sein Debüt, von dem man hoffentlich noch viele weitere Fälle lesen wird.

|Interessante Charaktere|

Hauptkommissar Henning ist Anfang vierzig und ein seelisch gebeutelter Mann. Nach dem fatalen Irrtum, der zum Tod des unschuldig verurteilten Georg Nissen führte, ging sein Leben stetig bergab. Um zu vermeiden, dass ihm jemals etwas Ähnliches nochmal passiert, hat er sich aufs Aktenbearbeiten verlegt, anstatt vor Ort zu ermitteln. Seine Ehe ist unter dieser Belastung zerbrochen, seine Frau verlangt horrenden Unterhalt, während sie sich weigert, arbeiten zu gehen. Seine Töchter vermissen ihn zwar, doch ihre Mutter unterbindet den Kontakt, wo immer es möglich ist. Eine der wenigen Stützen in seinem Leben ist seine langjährige Kollegin Lisa Santos. Die temperamentvolle Halb-Spanierin arbeitet zwar seit rund zehn Jahren mit ihm zusammen, doch erst jetzt lernt er ihre privaten Seiten kennen, die sie im Job erfolgreich verbirgt. Das schlimme Schicksal von Lisas Schwester hilft Henning aufzuwachen und die Resignation von sich abzuwerfen. Gemeinsam mit Santos macht er sich auf die Jagd nach dem brutalen Mörder, dem endlich das Handwerk gelegt werden muss.

Ebenso gut wie den Hauptkommissar lernt der Leser den mysteriösen Butcher kennen. Ein Mann mit biederer Fassade, verheiratet und Vater zweier Töchter, doch dahinter lauert ein Mörder, der Dutzende Opfer auf dem Gewissen hat. Zwar kommt natürlich weder Verständnis noch Mitleid für Butcher auf, aber man gewinnt zumindest Einblick in seine kaputte Psyche. Von klein auf wird er von seiner herrischen Mutter gedemütigt, zum Lernen getrimmt und von der Außenwelt ferngehalten. Freunde werden vergrault, körperliche Nähe gibt es nicht, jeder Fehler wird grausam bestraft. Die Ehe mit seiner Frau scheint ein Rettungsanker zu sein, doch stattdessen wird alles noch schlimmer. Seine Frau gleicht seiner Mutter charakterlich aufs Haar, die beiden Frauen verbünden sich, seine Mutter wohnt mit ihnen unter einem Dach.

So unbarmherzig Butcher mit seinen Opfern umgeht, so sehr schreckt er davor zurück, sich von Frau oder Mutter zu befreien. Die Demütigungen im eigenen Haus werden durch Sadismus sublimiert. Aber der Drang zu töten wird immer stärker, seine unterdrückte Wut lässt sich kaum noch kontrollieren. Für eine überraschende Seite in seinem Wesen sorgt das Zusammentreffen mit Carina, einer alleinerziehenden Mutter, die alles verkörpert, was sich Butcher insgeheim immer von einer Frau gewünscht hat: liebevolle Ausstrahlung, Rücksichtnahme, Güte und Herzlichkeit. Während die ahnungslose junge Frau sich eine Beziehung mit dem scheinbar so verständnisvollen Mann erhofft, reagiert Butcher verzweifelt. Für einen Neuanfang mit Carina ist es zu spät, es ist bereits schwer genug, sein Doppelleben als Mörder und Familienvater zu verbergen. Er ahnt, wie anders sein Leben hätte verlaufen können, wenn Carina ihm früher begegnet wäre, aber gleichzeitig weiß er, dass nichts davon jemals wahr werden kann.

|Fesselnd bis zum Schluss|

Ein weiterer Pluspunkt ist die Spannung, die den Leser von Anfang bis Ende durchgängig in den Bann zieht. Das ist vor allem bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass es hier nicht um einen Whodunit-Krimi handelt, sondern dass dem Leser die Identität des Täters früh bekannt ist. Abwechselnd wird aus dem Leben des Ermittlers und aus dem des Mörders erzählt, sodass man beide Figuren gleichermaßen kennen lernt. Lange bevor der erste Kontakt zwischen Täter und Verfolger zustande kommt, ist der Leser umfassend informiert über die Hintergründe der grausamen Taten und besitzt einen großen Wissensvorsprung gegenüber Hauptkommissar Henning. Trotzdem bleiben genug Fragen, die den Leser bis zum Schluss fesseln.

Zwar rechnet man nicht damit, dass Henning bei seinem Katz-und-Maus-Spiel das Leben verliert, doch seine Kollegen, insbesondere die ihm nahestehende Lisa Santos, sowie Hennings Familie können durchaus ins Blickfeld des Täters geraten. Sehr lange unklar bleibt auch, ob sich „Butcher“, so der Spitzname des Mörders, stellen wird, ob er sich womöglich umbringt oder ob die Polizei ihn fasst. Was geschieht mit seinen Angehörigen, seiner verhassten Mutter und der nicht weniger verhassten Frau? Wie viele Opfer müssen ihr Leben lassen, bis es zu einem Ende kommt? Welches Schicksal wartet auf Carina und ihre Tochter, die nichts vom wahren Wesen des netten Mannes ahnen, der in ihr Leben getreten ist? Bei Andreas Franz muss man damit rechnen, dass sich nicht alles in glückliches Wohlgefallen auflöst, sondern dass auch zum Schluss noch deprimierende Elemente übrig bleiben.

|Geringe Schwächen|

Es gibt nicht viele Punkte, die man dem Roman ankreiden kann. Die Entwicklung des Serienmörders erscheint ein wenig klischeehaft. Die dominante Mutter, die empfundene Hass-Liebe und das zerrüttete Verhältnis zu Frauen sind bekannte Begründungen aus Psychothrillern, spätestens seit dem populären „Psycho“ fast schon Standard in der Thriller- und Kriminalliteratur. Zudem fällt das Ende etwas zu knapp aus. Zwar werden die wichtigsten Fragen geklärt, aber gerade was Nebenfiguren angeht, etwa Butchers Familie sowie seine neue Freundin Carina, verrät der Roman nur sehr wenig über deren Schicksal, zu wenig angesichts der Neugierde, die zuvor geweckt wurde. Unter Umständen enttäuscht auch, dass Hauptkommissar Henning nicht viel Ermittlungsarbeit leisten muss, um an den Täter zu gelangen. Butcher hat Recht, wenn er behauptet, dass er der Polizei sehr entgegengekommen ist, indem er selber den Kontakt suchte und die Leichen teilweise extra so arrangierte, dass die Zusammenhänge zwischen den Morden offensichtlich wurden. So geschickt der Mörder bei allem vorgeht, etwas zu glatt laufen seine Taten dennoch ab. Es wäre wünschenswert gewesen, ihn nicht ganz so souverän zu gestalten, sondern auch hin und wieder in brenzliche Situationen zu bringen. Allerdings trüben diese Kritikpunkte den positiven Gesamteindruck nur wenig.

_Als Fazit_ bleibt ein durchgängig spannender Krimi über einen Serienmörder und einen Hauptkommissar, von dem man hoffentlich noch einige weitere Fälle lesen wird. Dem Autor ist eine überzeugende Ermittlerfigur gelungen, die man gerne begleitet. Von kleinen Schwächen abgesehen, liegt hier ein sehr unterhaltsamer Roman vor, der allen Krimilesern ans Herz zu legen ist.

_Der Autor_ Andreas Franz wurde 1956 in Quedlinburg geboren. Bevor er sich dem Schreiben widmete, arbeitete er unter anderem als Übersetzer, Schlagzeuger, LKW-Fahrer und kaufmännischer Angestellter. 1996 erschien sein erster Roman. Franz lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt, wo die meisten seiner Krimis spielen. Weitere Werke von ihm sind u. a.: „Jung, blond, tot“, „Das achte Opfer“, „Der Finger Gottes“, „Letale Dosis“, „Das Verlies“ und [„Teuflische Versprechen“. 1652

Mehr über ihn auf seiner Homepage: http://www.andreas-franz.org.

http://www.droemer-knaur.de

James, Peter – Stirb schön

Tom Bryce, Inhaber einer Marketingfirma, die gerade in finanziellen Schwierigkeiten steckt, nimmt im Zug eine CD-ROM mit, die ein Fahrgast vergessen hat. Als er zuhause aus Neugierde den Inhalt ansieht, stockt ihm der Atem: In einem kurzen Video wird gezeigt, wie eine junge, blonde Frau grausam erstochen wird. Zunächst hält er den Film für einen perversen Erotikstreifen. Doch am nächsten Tag ist seine Festplatte gelöscht. Sein Kollege vermutet einen Virus auf der mysteriösen CD-ROM und will sie untersuchen. Kurz darauf wird in dessen Haus eingebrochen und die CD-ROM gestohlen. Tom erhält erhält eine E-Mail, in der er davor gewarnt wird, die Polizei aufzusuchen, anderenfalls wird seine Familie ermordet werden.

Wenig später taucht die kopflose Frauenleiche des Opfers auf. Durch DNA-Tests wird sie als Janie Stretton identifiziert, eine junge Jura-Studentin aus reichem Haus, die ein heimliches Doppelleben als Prostituierte für einen Begleitservice führte. Detective Superintendent Roy Grace führt die Ermittlungen. Sein Ruf hat in der letzten Zeit gelitten, sein Privatleben ist seit dem spurlosen Verschwinden seiner Ehefrau Sandy vor acht Jahren nicht mehr stabil. Grace braucht dringend einen Erfolg, doch die Ermittlungen laufen schleppend.

Tom Bryce entscheiden sich nach Rücksprache mit seiner Frau, die Polizei einzuschalten. Doch trotz aller Diskretion sickert diese Information zu den Tätern durch und Tom und seine Familie schweben in höchster Gefahr. Für Roy Grace und sein Team beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, um die Mörder hinter dem grauenvollen Video zu finden …

Nach [„Stirb ewig“ 3268 darf sich der Ermittler Roy Grace nun ein zweites Mal einem Leserpublikum stellen und einen kaum weniger spektakulären Fall klären. Drehte es sich im Vorgänger um einen lebend Begrabenen, steht hier ein Snuff-Film im Mittelpunkt. Erfreulicherweise steht steht dieser Thriller „Stirb ewig“ nicht nur in nichts nach, sondern setzt für Neueinsteiger auch keine Vorkenntnis voraus.

|Spannung auf zwei Ebenen|

Sowohl Tom Bryce als auch Roy Grace können als Hauptfigur des Romans betrachtet werden. Tom gerät zufällig an die brisante CD-ROM, die ihn zum unfreiwilligen Zeugen eines Mordes macht, sodass er von nun an rund um die Uhr überwacht und schließlich gejagt wird. Sein Zwiespalt ist für den Leser gut nachvollziehbar: Einerseits drängt ihn sein Gerechtigkeitssinn dazu, der Polizei bei den Ermittlungen zu helfen. Als Vater zweier Kinder ahnt er, wie sehr der Vater des ermordeten Mädchens darauf hofft, dass die Mörder gefasst werden. Auf der anderen Seite will er um nichts in der Welt riskieren, dass seine eigene Familie in Gefahr gerät. Wie immer er sich entscheidet, die Konsequenzen werden nachhaltig sein, sodass man unweigerlich mit ihm fühlt. Auch davon abgesehen ist Tom ein Charakter, der sich in nichts vom Durchschnittsmenschen unterscheidet. Seine Firma läuft nicht gut, seine Frau Kellie gibt zu viel Geld bei eBay aus und greift heimlich zum Alkohol.

Ein problematisches Leben führt auch Roy Grace, der auch nach acht Jahren noch nicht mit dem Verschwinden seiner Frau Sandy abgeschlossen hat. Er lässt sich auf eine Verabredung mit der attraktiven Pathologin Cleo ein, die er schon lange bewundert, doch hier läuft nicht alles ohne Hindernisse ab. Trotz allem gibt er sein Bestes, um den Fall um die ermordete Studentin zu klären. Ihn berührt ihr Schicksal, er leidet mit ihrem alten Vater und gleichzeitig fühlt er sich dabei immer an seine eigene Frau erinnert, von der er nicht weiß, ob sie vielleicht etwas Ähnliches erlebt hat. Roy Grace ist ein sehr menschlicher Ermittler, der Schwächen besitzt, Fehler begeht, sich von seiner Vorgesetzten Ermahnungen einfängt und mehr als einmal an sich selber zweifelt, weit entfernt von einem perfekten Helden. Besonders liebenswert erscheint er an einer Stelle, an der er die Hündin der Familie Bryce streichelt und sich anschließend ihr gegenüber ebenso verpflichtet fühlt wie ihren Besitzern.

Eine Reihe von Nebenfiguren bevölkert die Handlung, so etwa Tom Ehefrau Kellie, die er für kaufsüchtig hält, die insgeheim aber ein viel größes Problem hat. Ihre eBay-Ersteigerungen sind nur Tarnung, um ihre hohen Alkohol-Ausgaben zu verschleiern. Im Umfeld von Roy Grace begegnet man einigen Personen, die schon im Vorgänger „Stirb ewig“ auftauchen, etwa der hübschen und schlagfertigen Pathologin Cleo, mit der sich Grace endlich auf ein Rendevouz einlässt, seinem Partner Glenn Branson, einem humorvollen Schwarzen, der bei jeder Gelegenheit Filmzitate einfließen lässt, der jungen und ehrgeizigen Kollegin Emma-Jane, die sich hier ein zweites Mal beweisen kann. Für Farbe im Team sorgt außerdem Norman Potting, ein Polizist der alten Schule kurz vor der Pensionierung. Seine politisch unkorrekten, oft auch derben Äußerungen sind berüchtigt, und niemand freut sich auf die Zusammenarbeit. Tatsächlich aber erweist sich Potting durchaus als brauchbarer Mitarbeiter.

|Sehr dezente Mystery|

Eine wichtige Eigenschaft von Roy Grace ist sein Hoffen auf Hellseherei als Unterstützung. Da er auf der Suche nach seiner Frau nach jedem Grashalm greift, konsultiert er auch regelmäßig Wahrsager, die in seiner Stadt auftreten. Über Sandy hat ihm bisher keiner davon etwas sagen können, doch in Ermittlungen konnte er schon Erfolge verzeichnen. Wie in „Stirb ewig“ bittet er auch hier um den Rat von Harry Frame, ein Medium, das ihm schon brauchbare Tips geliefert hat, jedoch auch nicht immer richtig liegt.

Autor Peter James kann seiner Vorliebe für Übersinnliches hier adäquat einbringen, denn auch wer selber diesem Gebiet eher abgeneigt gegenübersteht, wird einsehen, dass es in Graces Lage passt, sich diesen Dingen zuzuwenden. Roy Grace ist durchaus ein rationaler Mensch, doch er will nichts unversucht lassen, um eine Spur seiner Frau zu finden. In diesem Fall aber kann das Medium Harry Frame, ein emsiger kleiner alter Mann mit Ähnlichkeit mit einem Gartenzwerg, zunächst gar keinen Tipp liefern und Grace muss ohne seine Hilfe weiterermitteln. Später kommt eine Eingebung Frames zwar zum Tragen, aber erst, nachdem das Finale schon über die Bühne gegangen ist. Damit kommt der übersinnliche Aspekt auch den abgeneigten Lesern entgegen, da nichts davon handlungsentscheidend eingeflochten wird. Wen der Hintergrund um Graces Frau Sandy näher interessiert, der darf sich über die Ankündigung von Peter James freuen, dass der dritte Band, der zum Jahreswechsel erscheinen soll, ein wenig das Geheimnis um ihr Verschwinden lüften wird.

|Keine großen Schwächen|

Da sich die temporeiche Handlung auf nicht unbedingt epischen 380 Seiten drängt, ist es unvermeidlich, dass einige Charaktere und Aspekte etwas oberflächlich behandelt werden. Das Ende verläuft recht hastig, nach dem Actionfinale folgen nur noch knappe Informationen über den weiteren Verlauf. Auch der Vater des Opfers, Mr. Stretton, tritt nur einmal in Erscheinung, als ihm die Todesbotschaft überbracht wird, anstatt dass man ihn noch während der Ermittlungen begleitet. Gerade da Janies Mutter bereits verstorben ist und seine Tochter sein Ein und Alles war, wäre es schön gewesen, seinen Charakter noch etwas stärker einzubinden. Das gilt auch für das Opfer, schließlich ist es ungewöhnlich, dass eine finanziell unabhängige und scheinbar brave Studentin nebenbei als Sadomaso-Prostituierte arbeitet. Hier wären ein etwas weiter ausgearbeiteter Hintergrund wünschenswert gewesen.

Ein wenig unglaubwürdig wird die Stelle beschrieben, an der Tom und Kellie in höchster Gefahr schweben und ihre Situation kurzzeitig mit Humor zu ertragen versuchen. Noch unpassender ist Toms Gedanke, dass er seine morgige Präsentation in der Firma verpasst, was angesichts seines drohendes Todes unwichtig sein sollte.

_Als Fazit_ bleibt ein spannender und unterhaltsamer Roman über ein Snuff-Video mit einem sympathischen Ermittler. Der übersinnliche Aspekt, der Roy Grace immer begleitet, hält sich angenehm in Grenzen. Von kleinen Schwächen abgesehen, bietet sich dem Leser ein solider und temporeicher Thriller.

_Der Autor_ Peter James, Jahrgang 1948, liebt Autos, Sport und alles Paranormale. Er lebte jahrelang in den USA als Drehbuchautor und Filmproduzent, ehe er wieder nach England zurückkehrte. Zu seinen Werken zählen unter anderem „Ein guter Sohn“ (Neuauflage im Juni 2007 bei |Knaur|), „Die Prophezeihung“ und „Wie ein Hauch von Eis“. Zuletzt erschienen der Horror-Thriller [„Stirb ewig“ 3268 sowie „Sündenpakt“. Für den Jahreswechsel kündigt |Scherz| „Nicht tot genug“ als Hardcover an.

http://www.stirbschoen.de/
http://www.fischerverlage.de/

Barz, Paul – Gegenspieler, Die

Mitte des 12. Jahrhunderts: Es ist eine unruhige Zeit, die Bevölkerung lebt in Angst. Juden werden verfolgt, Zisterziensermönche bemühen sich um Schlichtung, der Kreuzzugsgedanke wird verherrlicht. Der junge Welfe Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen, und sein älterer Vetter Friedrich, Herzog von Schwaben, sind Freunde, trotz aller Gegensätze. Während Heinrich darunter leidet, dass sein Anspruch auf Bayern von König Konrad nicht anerkannt wird, glaubt Friedrich an die Einheitlich eines deutschen Reiches, im damaligen Sinne Karls des Großen. Heinrich, der als Kind dem Älteren die Treue geschworen hat, ist zu einem aufbrausenden jungen Mann geworden, der sich zuweilen am spöttischen Auftreten Friedrichs stört.

Im Jahr 1147 ruft König Konrad zu einem zweiten Kreuzzug in Jerusalem auf. Die Stadt Edessa soll von den Ungläubigen befreit werden, mehr als 20.000 Männer wollen teilnehmen. Doch statt wie Friedrich dem Zug zu folgen, kämpfen Heinrich und die Sachsen in einem parallelen Krieg gegen die Slawen zwischen Elbe und Oder und bekehren sie zum Christentum; der Kreuzzug in Jerusalem hingegen gerät zu einem Desaster. Nach seiner Rückkehr heiratet Heinrich Clementia von Zähringen, weitet mit dieser strategisch günstigen Ehe seinen Machtanspruch aus und behauptet sich gegen Angriffe Konrads, der bald darauf stirbt.

Friedrich wird zu seinem Nachfolger gewählt und zieht zur Kaiserkrönung nach Italien. Als Belohnung für seine Begleitung bekommt Heinrich von ihm endlich das lang ersehnte Bayern zugesprochen und Friedrich erhält seinen Beinamen „Barbarossa“. Noch immer unterstützen sie einander, aber sie spüren eine Entfremdung. Friedrich fürchtet, dass das neue Herzogtum die Einheit seines Reiches gefährdet. Heinrich beobachtet eifersüchtig, wie Erzbischof Rainald von Dassel zum engsten Vertrauten des Kaisers wird. Die spielerische Rivalität aus Jugendtagen wird immer ernster …

|Der Rotbart und der Löwe|

Es ist ein großes Unterfangen, das Autor Paul Barz sich vorgenommen hat. Mit Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen hat er sich zweier der schillerndsten und populärsten Gestalten des Mittelalters angenommen, von denen jeder ein eigenes Epos verdient hätte. Beiden Figuren wird etwa gleich viel Aufmerksamkeit gewidmet, was zwangsläufig dazu führt, dass ihre Darstellung etwas oberflächlich ausfallen muss. Unterm Strich ist es Heinrich der Löwe, der dem Leser deutlicher vor Augen erscheint.

Schon in der Jugend zeichnet sich ab, dass er der düstere Charakter von beiden ist. Zwar hat auch er seine unbeschwerten Momente, doch oft verfällt er in tiefes Grübeln. An ihm nagt der Schmerz, dass er viele Jahre kämpfen muss, ehe er endlich das lang ersehnte Bayern als Herzogtum anerkannt bekommt. Aber auch damit ist er nicht glücklich. Die Interessen des neuen Kaisers Barbarossa überschneiden sich immer weniger mit den seinen. Erschwerend kommen Augenblicke hinzu, in denen er die blutjunge Frau von Friedrich, Beatrix, begehrt.

Friedrich dagegen ist ein Träumer, humorvoller und jungenhafter, obgleich er der Ältere von beiden ist. Die Freundschaft zu Heinrich ist ihm wichtig, doch ebenso sind es seine Interessen als Kaiser, die er wahren und verteidigen muss. Heinrichs trotziges Verhalten führt schließlich zu einer Eskalation, welche die Ächtung als Folge mit sich bringt.

Immer wieder kreuzen sich die politischen und privaten Wege der beiden, die selbst im gesetzten Alter noch an ihre Jugendfreundschaft zurückdenken und trotz aller Widrigkeiten diese Zeit nicht vergessen haben.

|Buntes Mittelalterbild|

Deutschland steht im Mittelpunkt der Schauplätze, doch auch Italien, das Barbarossa so sehr liebt, wird mehrfach besucht. Dem geächteten Heinrich folgt der Leser nach England, an den Hof von Heinrich II., wo man unter anderem dem jungen Richard Löwenherz begegnet. In kurzen Szenen tauchen prominente Zeitgenossen wie Königin Eleonor von Aquitanien und der Zisterzienserprediger Bernhard von Clairvaux auf. Man erlebt Beratungsszenen, private Momente, aber auch blutige Schlachten, Folterungen und wüste Feiern.

Das Mittelalter wird in all seiner Derbheit präsentiert, vom einfachen Bauern bis zum hochangesehenen Adligen benutzen die Personen bisweilen eine primitive Sprache und lassen ihren sexuellen Gelüsten ungehemmt freien Lauf. Das mag manchen Leser irritieren und ist tatsächlich eine Spur zu dick aufgetragen, trägt aber auch zur Authentizität der Epoche bei. Ebenso wird bei den Schlachten nichts beschönigt; es kommen zwar keine ausführlichen Details zum Tragen, aber es wird gequält, verhöhnt, es werden Glieder ausgerissen und Kinder geschändet.

Es ist kein edles Bild, das hier vom Mittelalter gezeichnet wird, es ist finster, unverblümt, ausgelassen und auch das Denken und Handeln der beiden Hauptfiguren verzichtet auf idealisierte Züge. Hin und wieder wird die Atmosphäre durch kleine humorvolle Einlagen aufgelockert, etwa wenn die Figuren untereinander Scherze treiben und damit ein freundliches Licht in die angespannten Situationen bringen.

|Viele Karten und Zeittafeln, aber auch Ungenauigkeiten|

Bei der historischen Genauigkeit gibt es Licht und Schatten. Auf der einen Seite folgt jedem Abschnitt eine Zeittafel, die im Schnelldurchlauf die wichtigsten vorangegangenen Ereignisse in kürzester Form zusammenfasst, sodass man nicht Gefahr läuft, bei all den verschiedenen Schlachten und Schauplätzen den Überblick zu verlieren. Im Anhang befindet sich ein hilfreiches Register, das die vorkommenden Namen aufführt und die Seitenzahlen, auf denen sie auftauchen. Es gibt mehrere Karten, die die Aufteilungen des Reiches demonstrieren und Stammbäume der Welfen und der Staufer.

Das alles lässt auf pingelige Genauigkeit schließen. Dennoch weicht der Autor bei der Darstellung einer Nebenfigur, Heinrichs Onkel Welf VI., von den populären Ansichten ab. Im Roman wird Welf als Todfeind präsentiert. Selbst in seiner Hochzeitsnacht hängt Heinrich dunklen Gedanken über ihn nach, er wird als „schlimmster Feind von allen“ bezeichnet und betont, dass Heinrich ihn nie gemocht hat. In der einschlägigen Literatur wird jedoch darauf hingewiesen, dass Welf sich durchaus für die Rückgabe Bayerns an Heinrich einsetzte und von einer immerwährenden Feindschaft nicht die Rede sein kann. Eventuell wurde das Verhältnis aus dramaturgischen Gründen schlechter dargestellt als nötig, was ungünstig ist für Leser, die kein Hintergrundwissen besitzen.

An anderer Stelle wiederum wird es mit der historischen Korrektheit zu Ungunsten der Spannung übertrieben. Gleich mehrfach wird bei diversen Charakteren ihr Schicksal bereits vorausgenommen. Bei Friedrichs erstem Sohn etwa wird auf der Zwischen-Zeittafel nicht nur seine Geburt, sondern auch sein früher Tod in den kommenden Jahren vermerkt und der Handlung vorweggenommen. Auch bei Heinrichs erster Frau Clementia wird kurz nach der Scheidung verraten, dass sie danach nur noch wenige Jahre zu leben hatte. So geschieht es mit mehreren Figuren, was in einem rein informativen Sachbuch angebracht wäre, nicht aber in einem Roman.

_Als Fazit_ bleibt ein anschaulicher und nicht zu komplizierter historischer Roman über zwei bedeutende Figuren des Mittelalters und ihr spannungsgeladenes Verhältnis zueinander. Viele Schaubilder und Zeittafeln untermauern das Geschehen, allerdings ersetzt der Roman kein Sachbuch, da nicht alle Details bis ins Letzte stimmig sind. Als alleiniges Informationswerk über Friedrich Barbarossa und Heinrich den Löwen zu oberflächlich, für Mittelalterinteressierte aber eine unterhaltsame Ergänzung.

_Der Autor_ Paul Barz, Jahrgang 1943, arbeitete nach dem Abitur als Redakteur, seit 1981 auch als freier Schriftsteller. Zunächst veröffentlichte er Sachbücher und Biographien, später wurde auch als Bühnen- und Romanautor aktiv. Werke von ihm sind unter anderem: „Heinrich der Löwe“, „Christoph Columbus“, „Theodor Storm“ und „Mozart“.

Mehr über ihn auf seiner Homepage: http://www.paul-barz.de.

http://www.bastei-luebbe.de

Laymon, Richard – Spiel, Das

Jane Kerry ist eine junge Bibliothekarin, die ein geordnetes Single-Leben führt. Eines Tages entdeckt sie auf ihrem Arbeitsplatz einen Briefumschlag mit ihrem Namen darauf. Er enthält einen Fünfzigdollarschein und die Aufforderung zu einem Spiel. Der Absender nennt sich „Master of Games“, kurz „MOG“. Er hinterlässt einen Hinweis auf den Roman „Schau heimwärts, Engel“, in dem Jane einen weiteren Brief findet, diesmal mit hundert Dollar und wiederum einem neuen Hinweis.

Jane ist einerseits erfreut über das Geld, das sie gut gebrauchen kann, andererseits aber auch beunruhigt über den mysteriösen „MOG“. Beim Stöbern in der Bibliothek lernt sie den sympathischen Uni-Dozenten Brace Paxton kennen, der sie beim Briefe-Fund beobachtet. Mit seiner Hilfe entschlüsselt sie das nächste Rätsel und der hilfsbereite Brace begleitet sie zum Hinweisort. Was als verrücktes Spiel beginnt, nimmt immer beängstigendere Formen an. Der Unbekannte hinterlässt in Janes Wohnung Hinweise und scheint sie ständig zu beobachten. Doch auch das Geld verdoppelt sich mit jedem Brief – Janes Aufgaben, die sie dafür erledigen muss, werden zunehmend gewagter, aber in ernsthafte Gefahr gerät sie nie. Brace, mit dem sie sich auf eine Liaison einlässt, bittet sie eindringlich, dieses Spiel zu beenden.

Aber Jane verstrickt sich immer tiefer in das undurchschaubare Verhältnis zu „MOG“. Sie brennt darauf, seine Identität zu lüften und fühlt sich auf perverse Art durch sein Interesse geschmeichelt. Gleichzeitig zweifelt sie an Braces Absichten: Ist er wirklich so harmlos, wie er vorgibt? Oder hat er sogar etwas mit dem Spiel zu tun? Allmählich kommt Jane an einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Und erst jetzt ahnt sie, mit welch gefährlichem Gegner sie es zu tun hat …

Es ist der dritte Band von Richard Laymon, der innerhalb der |Heyne-Hardcore|-Reihe erscheint, und die Messlatten liegen mit den Bestseller-Vorgängern [„Rache“ 2507 und „Die Insel“ hoch. Erfreulicherweise lässt sich jedoch ohne Zweifel sagen, dass „Das Spiel“ den vorangegangenen Romanen nicht nachsteht, sie sogar noch übertrifft.

|Spannung auf höchster Stufe|

Der Plot ist einfach, geradezu simpel und auch nicht wirklich neu. Trotzdem gelingt es Laymon, eine zeitweise beinah unerträgliche Spannung aufzubauen, die den Leser von Beginn bis Ende fesselt. Es ist die alte Geschichte vom Katz-und-Maus-Spiel zwischen einem mysteriösen Unbekannten mit perversen Vorlieben und einem unschuldigen Protagonisten, hier einer jungen, unbedarften Frau. Es beginnt harmlos, klingt wie ein seltsamer Scherz und von einer Bedrohung kann beim ersten Brief noch keine Rede sein. Ein Bekannter mit eigenartigem Humor, ein heimlicher Verehrer – es gibt viele Möglichkeiten, wer hinter dieser Nachricht stecken könnte, sodass sich Jane zunächst keine Sorgen macht.

Die Steigerung erfolgt schleichend. Janes erste Aufgaben sind vergleichsweise unspektakulär, sie gerät dabei nicht in Gefahr und kommt an leicht verdientes Geld. Zudem reizt es sie, dass der Unbekannte ausgerechnet sie für sein Spiel ausgewählt hat und ihre Neugierde ist geweckt. Erst nach und nach wird offensichtlich, dass sich hinter „Mog“ mehr verbirgt als ein verschrobener Spaßmacher. Janes Belohnungen erhöhen sich rasant, doch auch der geforderte Einsatz nimmt immer waghalsigere Formen an. Ehe sie sich versieht, steckt Jane mittendrin in einem Spiel, das sich ihrer Kontrolle entzogen hat.

„Mog“ scheint sie ständig zu beobachten und findet Mittel, in ihre Wohnung einzusteigen. Gleichzeitig aber fühlt sich Jane zunächst nicht bedroht durch ihn, und bis auf seine Nachrichten hinterlässt er keine Spuren. Der Wunsch nach Antworten und die Freude über das Geld sind stärker als ihre Vernunft, bis sie plötzlich registrieren muss, dass sie es mit einem scheinbar übermächtigen Gegner zu tun hat. Widersetzt sie sich den Regeln, riskiert sie „Mogs“ Rache. Jane hat keine Chance, die Polizei einzuschalten, zu viel hat sie sich nach einigen Aufgaben selber zuschulden kommen lassen, und es ist sehr fraglich, ob man ihr Glauben schenkt – eher würde man sie für eine Spinnerin halten, die sich in etwas hineingesteigert hat.

Die Intensität der Spannung wird zusätzlich durch Braces Anwesenheit erhöht. Der sympathische Englisch-Dozent taucht kurz nach Beginn des Spiels auf und steht Jane hilfreich zur Seite. Aber obwohl sie sich rasch zu seinem Charme und seinem guten Aussehen hingezogen fühlt, bleibt sie misstrauisch. Steckt Brace eventuell mit „Mog“ unter einer Decke? Ist er selber der unheimliche Drahtzieher? Kann sie ihm trauen oder bedeutet er eine Bedrohung …?

|Sympathische Hauptfigur|

Im Mittelpunkt steht eine unspektakuläre und gerade deswegen sympathische Frau, die schnell zur Identifikationsfigur wird. Jane Kerry ist Mitte zwanzig, glücklich in ihrem routinierten und nicht besonders aufregenden Bibliotheksjob und neigt wegen ihrer leicht molligen Figur zur Schüchternheit. Das undefinierbare Interesse von „Mog“ verwirrt sie und erst recht die Bekanntschaft mit Brace. Ihre letzten Beziehungen nahmen unglückliche Enden; umso schwieriger ist es für Jane zu glauben, dass sich ausgerechnet ein begehrter Uni-Dozent für sie interessiert. Ihre Selbstironie, etwa wenn sie sich nackt vor dem Spiegel betrachtet und ihr kritische Gedanken zu ihrer Figur einfallen, lockern die angespannte Atmosphäre immer wieder angenehm auf.

Ausführlich wird man in ihr Seelenleben eingeführt, man freut sich, leidet und hofft mit ihr. Gut nachvollziehbar sind ihre ersten Reaktionen auf das „Spiel“, ihre Neugierde, ihre Faszination und natürlich ihre Begeisterung über den unverhofften Geldsegen. Parallel dazu teilt man ihr Misstrauen über Brace. Nicht nur ihre früheren schlechten Erfahrungen mit Männern, sondern auch sein gleichzeitiges Auftauchen mit „Mogs“ erster Nachricht sind dafür die Auslöser. Einerseits empfindet auch der Leser Brace Paxton als charmanten Mann, andererseits mehren sich mit der Zeit die Indizien dafür, dass er nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Lange Zeit bleibt seine Rolle unklar, und so wie Jane schwankt man in der Beurteilung immer wieder hin und her.

|Mehr Psychoterror statt Gewalt|

Die Bücher der |Heyne-Hardcore|-Reihe zeichnen sich durch überdurchschnittliche Härte aus, die sich im Horror- und Thrillergenre meist in Gewalt widerspiegelt. Sowohl bei „Rache“ als auch bei „Die Insel“ waren brutale Einlagen keine Seltenheit, sodass die Erwartungen hier ähnlich liegen. Tatsächlich aber hält sich Laymon diesmal angenehm zurück mit exzessiven Details. Erst jenseits von Seite 300 wird der Leser mit einer grausamen Schilderung geschockt. Hier stößt man gemeinsam mit Jane auf splattergespickte Szenen, die für Zartbesaitete sicher schwer erträglich sind. Allerdings sind es nur wenige Sätze und kurze Beschreibungen, und diese sind wiederum schon fast satirisch zu sehen, so überzeichnet wird die Gewalt.

Abgesehen von ein paar Seiten liegt der Fokus des Romans eindeutig auf psychischem Horror statt auf Darstellung von Gemetzel, und das ist eine seiner großen Stärken. In einer Manier, die ganz an die Filme von Hitchcock erinnert, gerät die Protagonistin in eine schier unausweichliche Lage, in der es kein Zurück mehr gibt und sie zum Spielball eines finsteren Unbekannten wird. Wer Laymon kennt, der weiß, dass es hier keine Garantie für ein glückliches Ende gibt und er nicht vor gemeinen Wendungen zurückschreckt. Das macht den Ausgang und die gesamte Handlung so aufregend unberechenbar.

Mit großer Eindringlichkeit beschreibt Laymon die Mutproben, die Jane zu bestehen hat, und die sie nachts an unheimliche Orte führen: auf einen Friedhof, in eine zweifelhafte Bar oder in ein verfallenes Haus. Jedes Mal, wenn Jane glaubt, dass „Mog“ sich wohl kaum eine Steigerung einfallen lassen wird, kommt es eine Spur härter. Auch sein Tonfall wird aufdringlicher, büßt immer mehr von seinem eloquenten Charme ein, klingt zunehmend lüstern und unverschämt, und als Jane spürt, dass sie in der Falle sitzt, ist es zu spät um auszusteigen …

|Leichte Schwächen|

Kleine Mankos liegen in der Glaubwürdigkeit, was das Verhalten von Jane Kerry angeht. Zwar hat sich Laymon hier im Vergleich zu „Rache“ und „Die Insel“ gesteigert, vor allem, was Sexgedanken in den unpassendsten Gefahrenmomenten angeht, denn davon ist hier kaum etwas zu merken. Trotzdem ist es manchmal zweifelhaft, wie bereitwillig sich Jane auf das Spiel einlässt und den Anweisungen von „Mog“ folgt. Das gilt nicht für den Beginn, denn da erscheint alles noch harmlos, und auch nicht für das Ende, denn da muss sie schon aus Angst vor Rache gehorchen. Aber in der Mitte gibt es mehrere Stellen, an denen man sich unweigerlich fragt, warum sie sich nicht mehr fürchtet vor diesem Fremden, der in ihre Wohnung einsteigt. Stattdessen sehnt sie sich sogar phasenweise neue Zeichen von ihm herbei und verfolgt seine Anweisungen ohne großes Zögern.

Gegen Ende stört ein paar Mal, dass Jane in Extremsituationen zu locker bleibt und humorvolle Sprüche auf Lager hat und sie gewisse grauenvolle Dinge, die sie sehen musste, scheinbar ohne größere Traumata verkraftet. Für eine junge, zurückhaltende Bibliothekarin, die in Bars noch ihren Ausweis zur Volljährigkeitsbeglaubigung vorzeigen muss, erscheint die Wandlung zur energischen Gegenspielerin, die den Kampf mit „Mog“ aufnimmt, etwas zu übertrieben. Rückblickend betrachtet, erscheint es außerdem als zu konstruiert, dass Jane zu Beginn des Spiels bei manchen Rätseln zufällig an Hilfestellungen kommt, ohne die sie „Mogs“ Hinweise wohl kaum entschlüsselt hätte. Der Gesamteindruck wird von diesen Schwächen aber glücklicherweise kaum getrübt.

_Insgesamt_ liegt hier ein hochspannender Psychothriller vor, der einen neuen Höhepunkt innerhalb von Laymons in Deutschland veröffentlichem Schaffen bildet. Wem die Vorgänger „Rache“ und [„Die Insel“ 2720 bereits gefielen, der dürfte von diesem Werk begeistert sein. Das Hauptaugenmerk liegt auf Psychoterror statt auf blutigem Gemetzel, abgesehen von sehr kurzen Splattereinlagen. Von kleinen Unglaubwürdigkeiten abgesehen, überzeugt dieser Roman auf ganzer Linie und bietet fesselnde Unterhaltung für alle Thrillerfans.

_Der Autor_ Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und ist einer der meistverkauften Horrorautoren der USA. Er studierte englische Literatur und arbeitete unter anderem als Lehrer und Bibliothekar, ehe er sich dem Schreiben widmete. Im Jahr 2001 verstarb er überraschend früh und hinterließ eine Reihe von Romanen, die vor allem wegen ihrer schnörkellosen Brutalität von sich Reden machten. Nur ein kleiner Teil davon ist bislang auf Deutsch erhältlich. Zu seinen weiteren Werken zählen u. a. „Rache“, „Parasit“, „Im Zeichen des Bösen“ und [„Vampirjäger“. 1138
Mehr über ihn gibt es auf seiner offiziellen [Homepage]http://www.ains.net.au/~gerlach/rlaymon2.htm nachzulesen.

http://www.heyne-hardcore.de

Kitty Fitzgerald – Pigtopia

Jack Plum wird mit einer Entstellung geboren, die ihn ähnlich aussehen lässt wie ein Schwein. Sein Kopf ist deformiert, er hat Sprachschwierigkeiten und für seine Mutter, die nach der schweren Geburt bleibende Schäden zurückbehielt und inzwischen im Rollstuhl sitzt, ist er ein Monster. Jacks Vater, ein Metzger, schützt seinen Sohn dagegen und weiht ihn in die Grundlagen der Schweinezüchtung ein. Doch nach Jacks zwölften Geburtstag verschwindet Daniel Plum spurlos und kehrt nicht zurück. Von nun an lebt Jack allein mit seiner depressiven Mutter, abgesperrt von der Außenwelt.

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Dardenne, Sabine – Ihm in die Augen sehen

Belgien, 28. Mai 1996: Die zwölfjährige Sabine fährt wie jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Schule. Sie ist früher dran, die Straßen sind noch leer. Plötzlich hält ein Lieferwagen neben ihr und ein Mann zerrt sie und das Rad hinein. Alles geht so schnell, das sich das kleine, schmächtige Mädchen kaum wehren kann. Während ein Mann fährt, verabreicht der andere dem Kind Medikamente, um es zu betäuben. Sabine wird nach zwei Stunden Fahrt in ein unordentliches Haus gebracht und in ein Kellerverlies gesperrt.

Ihr Entführer ist der wegen Vergewaltigung vorbestrafte Marc Dutroux, ein Kinderschänder und Mörder, der bereits vier Mädchen vor ihr dort gefangen gehalten und bis zu deren Tod missbraucht hat. Sabine ist sein neues Opfer. Achtzig Tage lang wird sie im Keller gefangen gehalten. Sie darf sich kaum waschen, erhält oft ungenießbares Essen und wird jeden zweiten Tag missbraucht und vergewaltigt. Ihr Peiniger behauptet, ein gefährlicher „Chef“ habe eine Rechnung mit ihrem Vater offen und wollte sie entführen. Dutroux habe sie angeblich vor ihm gerettet und sie müsse nun bei ihm bleiben, damit er nicht erfährt, dass sie noch am Leben ist. Immer wieder erzählt er dem verängstigten Kind, dass er sie schützen wolle und der „Chef“ sie noch viel schlimmer behandeln würde.

Trotz ihres Misstrauens schenkt Sabine ihm Glauben. Sie hasst und beschimpft ihn zwar für den Missbrauch, den er ihr antut, doch sie glaubt, dass er ihre Eltern wie behauptet informiert hat und diese ihr übermitteln, dass sie ihm gehorchen soll. Sabine ahnt nicht, dass ganz Belgien verzweifelt nach ihr sucht und Dutroux alles nur erfunden hat, um sie zu beruhigen. Stattdessen verfasst sie traurige Briefe an ihre Eltern, die sie nie erreichen. Nach über siebzig Tagen Gefangenschaft bringt Dutroux ein zweites Mädchen in ihr Verließ: Die vierzehnjährige Laetitia soll ihre neue Freundin werden. Sie erleidet das gleiche Schicksal wie Sabine. Nach achtzig Tagen gelingt den Behörden endlich die Festnahme von Dutroux und die Befreiung der beiden Mädchen. Doch das Leiden ist nicht vorbei. Es kommt zu einem Aufsehen erregenden Prozess, der international Schlagzeilen macht …

Wohl kaum jemand ist Ende der Neunzigerjahre am Fall Marc Dutroux vorbeigekommen. Die spektakulären Entführungen und die Bergung der beiden letzten lebenden Opfer gingen um die Welt. Fast zehn Jahre nach ihrer Entführung hat Sabine Dardenne ein Buch über ihr Schicksal verfasst, das nicht nur die Erlebnisse während der Gefangenschaft, sondern auch noch den Prozess und die Verurteilung im Jahr 2004 schildert.

|Mitgefühl und Bewunderung|

Sie will kein Mitleid, sagt Sabine spät im Buch, doch als Leser kann man nicht anders, wenn man ihre ergreifende Geschichte liest. Der rasche Einstieg lässt die Entführung auf offener Straße miterleben, ebenso das Martyrium im Keller, die unhygienischen Umstände und den Missbrauch. Sabine ist ein ganz normales Mädchen, als sie in den Fängen von Dutroux landet.

Sie ist klein und schmal für ihr Alter, aber sie ist ein trotziges, energisches Kind, das bis zum Schluss nicht aufhört, sich zu wehren. Sie ist weder eine Musterschülerin noch ist sie immer artig. Im Gegenteil, sie streitet sich oft mit ihren Eltern und ihren Schwestern, sodass nach ihrem Verschwinden zunächst die Vermutung aufkam, sie sei einfach davongelaufen. In Wahrheit erlebt sie achtzig grausame Tage, die sie nur mit eisernem Willen durchsteht.

Dutroux schlägt sie nicht, doch das ist auch schon das Einzige, was man ihm zugute halten kann. Ihr Verlies ist dreckig, die Schlafmatratze mit Insekten übersäht, statt einer Toilette gibt es nur einen Eimer, einmal die Woche wird sie von Dutroux gewaschen. Wochenlang trägt sie die gleiche Unterhose, ihre Kleidung starrt vor Dreck. Zu essen gibt es oft nur verschimmeltes Brot und kalte Konserven. Sabine schlägt die Zeit mit Briefeschreiben, mit Zählen und Malen tot. Ein winziges Dachfenster ist der einzige Kontakt zur Außenwelt.

Etwa jeden zweiten Tag nimmt Dutroux sie in sein Schlafzimmer, wo er Pornofilme laufen lässt und das Kind missbraucht. Schließlich vergewaltigt er sie und Sabine muss nicht nur starke Schmerzen, sondern auch tagelange Blutungen erleiden. Immer wieder bettelt sie um Freilassung, doch er wiederholt unermüdlich die erfundene Geschichte, die ihn als Retter darstellt. In all der Zeit weiß Sabine nur, dass sie durchhalten wird und leben will. Auch wenn sie kaum noch Hoffnung hat, ihre Familie wiederzusehen, ergibt sie sich nicht in ihr Schicksal. Sie beschimpft ihren Peiniger und wehrt sich, so gut es ein zierliches Kind eben kann, um sich den Stolz zu bewahren.

|Von Schuld und Sühne|

Eine besondere Perversion im Fall Dutroux liegt darin, dass nicht der Entführer und Kinderschänder, sondern sein Opfer bis heute mit Schuldgefühlen kämpfen muss. Je länger ihre Gefangenschaft dauert, desto einsamer fühlt sich Sabine. Daher bettelt sie immer wieder um eine Spielkameradin, um Besuch von Freundinnen. Da sie nicht ahnt, dass Dutroux sie bei weitem vor niemandem schützt, sondern sie gezielt entführt hat, glaubt sie, es sei nicht ausgeschlossen, dass ein gleichaltriges Mädchen ihr Gesellschaft leisten kann, ohne ihr Schicksal zu teilen.

Tatsächlich bringt Dutroux siebzig Tage nach ihrer Entführung die vierzehnjährige Laetitia mit; wie sie am helllichten Tag gefangen genommen. Er betäubt und missbraucht auch sie und steckt sie in das dreckige Verlies. Zwar weiß Sabine heute, dass sie keine Schuld an Laetitias Entführung trägt. Vielmehr hatte Dutroux bereits früher paarweise Mädchen gefangen gehalten, so die achtjährigen Melissa und Julie sowie die siebzehn- und neunzehnjährige An und Eefje. Während Melissa und Julie zur Zeit einer Haftstrafe, die er verbüßen musste, im Kerker verhungerten, wurden An und Eefje betäubt und anschließend lebend begraben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich ein zweites Mädchen zu Sabine holen würde, doch bis heute nagt der Gedanke an der jungen Frau, dass ihr Wunsch nach einer Freundin auf so perverse Weise erfüllt wurde und ein weiteres Leben zerstörte.

|In seine Augen sehen|

Im Jahr 2004 war es soweit, dass Sabine Dardenne als Zeugin beim Prozess auftrat und mehrmals Gelegenheit hatte, Marc Dutroux gegenüberzutreten. Sabine nutzt diese Möglichkeiten, sie spricht ihn offen im Gericht an, konfrontiert ihn mit Vorwürfen, lehnt seine halbherzige Entschuldigung ab. Noch ein weiteres Mal begegnet sie ihm, bei der Besichtigung ihres einstigen Verlieses, bei der auch Laetitia und die Geschworenen teilnehmen. Beide jungen Frauen machen keinen Hehl aus ihrer Verachtung gegenüber dem Mann, der ihnen ihre Unschuld geraubt hat, in jeglicher Hinsicht.

Trotz der Erleichterung über diese Konfrontation, bei der sie ihren Gefühlen Luft machen kann, bringt der Prozess gleichzeitig auch große Belastung mit sich. Sabine muss sich mit Zweiflern auseinandersetzen, die glauben, dass ihre Aussagen unzuverlässig sind, weil sie vermuten, dass Dutroux das Kind unter Drogen setzte. Schon im Vorfeld herrschte großer Tumult um die Verhandlung, da etliche Zeugen unerwartet verstarben. Die Angeklagten, neben Dutroux seine Frau und weitere Komplizen, beschuldigen sich gegenseitig und der erste Untersuchungsrichter wurde wegen angeblicher Befangenheit abgesetzt. Die Vorwürfe mehren sich, dass hohe Beamten- und Regierungskreise in die Affäre verstrickt sind, das Misstrauen der Bevölkerung wächst zunehmend. Zu allem Überfluss vertritt das zweite überlebende Opfer Laetitia die Ansicht, dass Dutroux nur ein Täter einer großen Kette von Kinderschändern war, während Sabine ihn für einen Einzeltäter hält.

|Eindrucksvolles Portät|

Dem betroffenen Leser bietet sich die Darstellung einer beeindruckenden jungen Frau dar, die gelernt hat, mit ihrem schweren Schicksal umzugehen und dabei teilweise recht ungewöhnliche Wege gewählt hat. Sabine verzichtete auf psychologische Hilfe, sie ist trotz ihres Traumas in der Lage, Beziehungen zu führen und hat die Medien seit jeher gemieden. Bereits kurz nach ihrer Befreiung überraschte sie die Polizeibeamten durch ihre körperliche wie seelische Stärke und ebenso ihre Familie. Es ist irritierend aber auch bemerkenswert zugleich, dass sie auch weiterhin ihrem sturen und eigensinnigen Charakter treu bleibt. Die Gefangenschaft hat sie nicht gebrochen.

Auch nach ihrer Rückkehr in den Schoß der geliebten Familie gibt es dort die gleichen Konflikte wie vor ihrer Entführung über Schule, Hilfe im Haushalt, Bevorzugung der älteren Schwestern. Das mag verwundern, zeigt aber andererseits, dass Sabine sich nicht auf eine lange Schonzeit berufen hat, sondern sich bemühte, so rasch wie möglich wieder am normalen Leben teilzunehmen.

Ihre einfache, direkte Sprache lädt dazu ein, das Buch in einem Rutsch zu verschlingen, eine Mischung aus Entsetzen und Respekt hervorrufend. Für besondere Betroffenheit sorgen die Auszüge aus den intimen Briefen, die sie im Verlies an ihre Eltern schrieb und die als wichtiges Beweismaterial im Prozess dienten. Es sind die Worte eines gequälten Kindes, das sich trotz allen Leids noch an seinen einstigen Alltag klammert, nach Geschenken der Schwestern und ihren Haustieren fragt, im nächsten Satz darum bittet, Dutroux dazu zu bringen, mit seinen Taten aufzuhören und den Leser damit mitten ins Herz trifft. Im Grunde gibt es nur einen Kritikpunkt, nämlich das Fehlen jeglicher Bilder. Nicht umsonst mussten die Geschworenen das Haus und den Kerker vor Ort besichtigen, um sich eine annähernde Vorstellung zu machen. Auch für den Leser wäre es gut gewesen, ein paar der Fotos, die durch die Medien gingen, hier vorzufinden.

_Als Fazit_ bleibt ein intensives Buch über die Erlebnisse eines Entführungs- und Missbrauchsopfers und einen Fall, der weltweit Schlagzeilen machte. Sabine Dardenne präsentiert sich als bewundernswerte und starke junge Frau, deren Schicksal berührt, bewegt und aufrüttelt, angenehmerweise ohne dabei unnötig auf die Tränendrüse zu drücken. Schade ist lediglich, dass auf Fotos verzichtet wurde.

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Grimm, Jacob und Wilhelm / Jürgensmeier, Günter (Hg.) / Dematons, Charlotte (Ill.) – Grimms Märchen

Von den über 200 enthaltenen Märchen seien an dieser Stelle einige der bekanntesten unter ihnen vorgestellt:

Im „Froschkönig“ erhält eine junge Königstochter ihre verlorene Goldkugel von einem Frosch zurück. Als Dank soll sie ihn bei sich aufziehen, doch sie weist das Tier angeekelt zurück.

Das „Marienkind“ erzählt von einem Mädchen, das von der Jungfrau Maria aufgenommen wird und im Himmel lebt. Dort soll es auf keinen Fall die dreizehnte Tür öffnen, doch das Mädchen ist neugierig …

Im „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ macht sich ein junger, naiver Mann auf, die Furcht kennen zu lernen, denn alle Welt scheint sich gruseln können, nur er nicht. Drei Nächte in einem Geisterschloss warten als Herausforderung auf ihn.

„Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ erzählt davon, wie ein hungriger Wolf mit einer List versucht, die jungen Geißlein, die allein zuhause geblieben sind, zu fressen.

„Brüderchen und Schwesterchen“ ist eine Verwandlungsgeschichte, in der ein Mädchen und sein als Reh verzauberter Bruder durch einen Wald irren.

„Rapunzel“ ist das Märchen vom gefangenen Mädchen, das in einen Turm eingesperrt ist.

„Hänsel und Gretel“ sind ein Geschwisterpaar, das im Wald ausgesetzt wird und im Haus einer bösen Hexe landet.

„Aschenputtel“ erzählt die Geschichte eines schönen, klugen Mädchens, das von seiner bösen Stiefmutter und deren garstigen Töchtern wie eine Putzmagd behandelt wird – bis sich eines Tages die Gelegenheit ergibt, auf den Ball des Prinzen zu gehen.

In „Frau Holle“ kommen zwei grundverschiedene Schwestern zu einer alten Frau, die aus ihren Federbetten den Schnee auf der Erde macht.

„Die sieben Raben“ sind verzauberte Brüder. Als ihre jüngere Schwester von ihrem Schicksal erfährt, macht sie sich auf, sie zu erlösen.

„Rotkäppchen“ ist das kleine Mädchen, das seiner kranken Großmutter Verpflegung bringen möchte und dabei im Wald einem Wolf begegnet.

„Tischchendeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ sind die magischen Dinge, die drei Brüder am Ende ihrer Lehre erhalten, und die zweien von ihnen zunächst nur Unglück bringen.

„Dornröschen“ ist die Geschichte von der schlafenden Prinzessin, über deren Schloss ein Fluch liegt.

In „König Drosselbart“ wird eine wählerische Königstochter, die ihre Freier verspottet, mit einem scheinbar armen Mann verheiratet.

Das „Schneewittchen“ ist ein schönes Mädchen, dessen eifersüchtige Stiefmutter ihm den Tod wünscht. Was für ein Glück, dass es die sieben guten Zwerge gibt, die sich ihrer annehmen.

„Der goldene Vogel“ stiehlt regelmäßig die goldenen Äpfel eines Baumes. Der Besitzer des Gartens schickt seine drei Söhne auf die gefahrenvolle Reise, den Vogel zu fangen.

Im „Allerleihrau“ flieht eine Tochter vor ihrem Vater und zieht sich, mit einem Fell berkleidet, in den Wald zurück, bis sie die Jäger des benachbarten Königs aufgreifen.

„Der Arme und der Reiche“ zeigt den lieben Gott als Wanderer, der Wünsche gewährt, die nicht immer klug genutzt werden.

„Schneeweißchen und Rosenrot“ sind zwei gutherzige Schwestern, die Freundschaft mit einem Bären schließen.

„Der gestiefelte Kater“ ist das scheinbar wertlose Erbe, das der jüngste Sohn von seinem Vater erhält, der ihm aber noch viel Glück bringen wird.

Insgesamt 207 Märchen versammeln sich in diesem Band, der die Ausgabe letzter Hand von 1857 noch um ein paar weitere Märchen aus früheren Ausgaben erweitert und mit zahlreichen Illustrationen versehen ist. Fast in jedem Haushalt befindet sich zumindest eine gekürzte Ausgabe dieser weltbekannten Märchen, die aus der deutschen Literatur nicht mehr wegzudenken sind.

Es war zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit ihrer Sammlung mündlich überlieferter Märchen begannen und sie anschließend bearbeiteten. Bei der Bearbeitung wurde vor allem auf gesellschaftliche Vorstellung und eine kindgerechte Darstellung Wert gelegt. Die Rezeption der Kinder- und Hausmärchen ist bis heute ungebrochen. Es existieren nicht nur zahlreiche Verfilmungen und Parodien, auch etliche Forscher haben sich nicht nur mit den literarischen, sondern auch mit den psychologischen Aspekten der Märchen befasst.

„Kinder brauchen Märchen“ lautet der Titel eines Werkes des Pädagogen Bruno Bettelheim, der damit in den Siebziger Jahre für den Märchenkonsum plädierte, da Märchen die Phantasie der Kinder anregen, Möglichkeiten zur Problemlösung aufzeigen, ihre Bedürfnisse ansprechen und durch einen glücklichen Ausgang versöhnen und ermutigen. Während andere Märchen, etwa die des kaum weniger bekannten Hans Christian Andersen, manchmal melancholisch enden, kann man bei den Gebrüdern Grimm auf einen positiven Schluss vertrauen, der den Schrecken, der zuvor ausgelöst worden sein mag, wieder zurücknimmt.

|Grundlegende Motive|

Kennzeichnend für alle Märchen dieser Ausgabe ist eine geradlinige, meist episodenhaft verlaufende Handlung mit vielen sich wiederholenden Motiven, dem Gebrauch starker Gegensätze, lehrreicher Aussagen und einem glücklichen Ausgang. Da die Gebrüder Grimm nicht als Erfinder fungierten, sondern auf bereits vorhandene Erzählungen zurückgriffen, tauchen viele bekannte Motive und Figuren aus älteren Werken und Kulturen wieder auf.

Den „gestiefelten Kater“ kennt man in der französischen Version von Charles Perrault, die Gestalt der „Frau Holle“ orientiert sich mutmaßlich an einer vorchristlichen Gottheit, „Der Arme und der Reiche“ greift eine Grundsituation aus Ovids Erzählung von „Philemon und Baucis“ auf, und die oft auftretenden sprechenden Tiere erinnern an die Fabel, die bereits die alten Römer kannten.

In vielen Märchen spielen die Religion und die Frömmigkeit eine große Rolle. Ganz offensichtlich wird das im „Marienkind“, das von der Mutter Gottes persönlich adoptiert und in den Himmel geholt wird, wo es mit den Englein spielen darf. Doch auch hier herrschen Gebote vor, die dem Mädchen untersagen, eine bestimmte Tür zu öffnen. Natürlich ist das Kind zu neugierig, schaut hinter die Tür und erblickt die Dreieinigkeit im Feuer – eine schwere Sünde, die sich noch verstärkt, da das Marienkind anschließend die Tat mehrmals leugnet. „Der Arme und der Reiche“ begegnen Gott selber, der, ebenfalls ein uraltes Motiv, als Wanderer auf Erden wandelt und die Gastfreundschaft der Menschen testet. Der hartherzige Reiche wird bestraft, der gutherzige Arme dagegen, der seine karge Habe mit dem scheinbar noch ärmeren Wanderer teilt, wird reich belohnt. Reich belohnt wird auch das Mädchen im Märchen von den „Sterntaler(n)“. Das Waisenkind gibt bereitwillig sein Essen und seine Kleidung weg, um anschließend dafür vergolten zu werden.

Eine große Rolle spielen Familienbande in den Märchen. Oft hat man es mit ausgesetzten oder flüchtenden Kindern zu tun. „Hänsel und Gretel“ werden ihrem Schicksal im Wald überlassen, „Brüderchen und Schwesterchen“ fliehen in einen ebensolchen, „Allerleihrau“ muss sich vor ihrem Vater dorthin retten. Das Motiv der bösen Stiefmutter ist eines der volkstümlich bekanntesten überhaupt. Interessanterweise wurde dieser Part in der ersten Version von „Schneewittchen“ mit ihrer leiblichen Mutter besetzt, doch es erschien gesellschaftlich versöhnlicher, dafür eine Stiefmutter zu wählen. Auch bei „Brüderchen und Schwesterchen“ taucht sie auf und nicht weniger missgünstig bei „Aschenputtel“, bei „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ und im „Fundevogel“. Im Märchen von den „zwölf Brüder(n)“, den „sieben Raben“ und den „sechs Schwäne(n)“ sind starke Parallelen zu finden, sodass die Geschichten als Variationen voneinander gelten. Zentral ist hier vor allem das Motiv der einzigen Tochter, die ihre älteren Brüder erlöst. Aber auch Feindseligkeit unter Geschwister wird mehrfach thematisiert, etwa in „Der goldene Vogel“, „Der singende Knochen“, „Die drei Federn“, „Die Bienenkönigin“ und „Die Krähen“. „Der singende Knochen“ ist dabei eines der gewalttätigsten Märchen der Sammlung, da dort, ganz in biblischer Kain-und-Abel-Manier, der neidische Bruder den anderen erschlägt.

Sehr populär sind sprechende Tiere, die mal als Freund und Helfer und mal als böser Gegenpart auftreten können. Als Erstes kommt da vermutlich der Wolf in den Sinn, der „Rotkäppchen“ und die Großmutter fressen will und es in „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ auf die Tierkinder abgesehen hat. In „Der goldene Vogel“ dagegen ist der Fuchs ein weiser Ratgeber, der einem etwas einfältigen jungen Mann immer wieder den Weg weist; „Die Gänsemagd“ erhält Unterstützung von ihrem Pferd Fallada und „Der Fischer und seine Frau“ bekommen vom gefangenen Butt Wünsche gewährt. Manche der Tiere sind verzaubert und verwandeln sich am Ende wieder in Menschen zurück, etwa im „Froschkönig“, in „Brüderchen und Schwesterchen“ oder in „Die sieben Raben“. Andere Geschichten sind Tiermärchen, die sich an Fabeln orientieren und in denen die Charakteristika der Tiere beleuchtet werden.

Eigen ist allen Märchen ein auffallender Dualismus, der mal stärker und mal schwächer zutage tritt. Die Figuren sind charakterlich gewöhnlich eindimensional und dabei überzeichnet. Kinder und junge Frauen werden gerne idealisiert; sie sind rein und voller Güte, die in ihrer Unschuld mit den bösen Gestalten kontrastieren. Die hinterlistigen Charaktere greifen nicht selten zum Äußersten und sind bereit zum Mord, um sich Vorteile zu sichern. Häufig wird auch mit farblichen Gegensätzen gespielt – der weiße Schnee, die schwarzen Raben, das rote Blut, die weißen Lilien treffen aufeinander. Vor allem in der neueren Forschung wird ein Fokus auf psychologische Deutungen gelegt. Auch wenn viele Ansichten stark überzeichnet scheinen, wird dadurch manchmal offenkundig, wie spielerisch und harmlos hier gravierende Konflikte eingeflochten werden.

Das trifft etwa auf „Allerleihrau“ zu, die fliehen muss, weil ihr verwitweter Vater in ihr das Ebenbild seiner verstorbenen Frau sieht und seine Tochter daher heiraten will. Die Inzestproblematik wird teilweise auch in „Brüderchen und Schwesterchen“ hineingelesen, da die tiefe Verbundenheit zwischen den beiden immer wieder betont wird. Überhaupt befassen sich zahlreiche Interpretationen mit sexuellen Ansätzen, beispielsweise mit der Begründung eines Elektrakomplexes in „Schneewittchen“, wo das Mädchen emotional stark an den Vater gebunden ist, die sexuelle Heranreifung eines jungen Mädchens im „Froschkönig“, in der die Königstochter den verzauberten Prinzen mit ins Bett nehmen soll, was sie zunächst verschreckt, die Angst vor Sexualität in „Jorinde und Joringel“, wo die böse Hexe die Jungfrau Jorinde in eine Nachtigall verwandelt und ihren Freund Joringel in einen gelähmten Zustand versetzt. Märchen mit jungen Frauen im Mittelpunkt werden nicht selten emanzipatorisch gedeutet, etwa Allerleihraus Flucht und Erhebung aus der Demütigung und die Reifung des Mädchens in „Brüderchen und Schwesterchen“ vom kindlichen Wesen zur verheirateten Frau. Die Passivität eines schlafenden Dornröschens dagegen wird als Symbol für die nötigen Ruhe- und Rückzugsphasen während der Pubertät gesehen.

|Behutsame Modernisierung|

Bei der Modernisierung der Sprache dieser Ausgabe wurde sehr zurückhaltend vorgegangen, sodass man nicht befürchten muss, einen unpassenden Stil vorzufinden. Im Gegenteil, bei vielen Märchen dürfte dem Leser gar nicht auffallen, dass er eine erneuerte Ausgabe vor sich liegen hat. Der typische Märchenton der Gebrüder Grimm wurde beibehalten. Auffallend ist nur, dass die Dialektmärchen ins Hochdeutsche übersetzt wurden, um die Verständlichkeit zu verbessern.

Da viele der altertümlichen Ausdrücke erstens den Charme der Erzählungen ausmachen und zweitens teilweise gar keine moderne Entgegnung kennen, existiert im Anhang ein Register, das gleichzeitig Lexikon und Wörterbuch darstellt. Hier sind in Blau motivische Stichworte aufgeführt, die man in den jeweiligen Märchen findet, etwa Zahlen, Eigenschaften von Figuren oder Tiere. Sucht man nun ein Märchen über einen „Bettler“ oder eines, in dem ein „Fuchs“ auftaucht, kann man einfach nachschlagen und wird sofort fündig. In manchen Fällen sind auch Erklärungen beigefügt, etwa beim Stichwort „Kobalt“, das als „Erz, das beim Schmelzen kein Metall liefert“ definiert wird. In Grün sind die Titel der Märchen markiert und in Rot schließlich sind altmodische Ausdrücke und Wendungen geschrieben, die man beibehalten hat. Dazu gehört beispielsweise der Ausruf „Hott und har!“, mit dem man Pferde antrieb, der Kinder verwirren könnte.

Wie in allen anderen Märchenausgaben auch ist der Stil einfach und klar gehalten. Es kommen kaum lange Sätze vor, die Struktur ist überschaubar gestaltet und der Wortschatz ist in etwa dem eines Kindes angepasst. Viele formelhafte Wendungen wiederholen sich, etwa die Anfänge wie „Es war einmal …“ oder „In den alten Zeiten …“

|Schöne Illustrationen|

Die gelungene Bebilderung bildet das i-Tüpfelchen auf dieser Ausgabe. Über 400 Illustrationen der Künstlerin Charlotte Dematons schmücken die gut 500 Seiten in zarten Aquarellfarben in beeindruckendem Abwechslungsreichtum. Manchmal sind ganze Doppelseiten komplett mit Farben ausgefüllt und zeigen ein Gemälde, etwa eine stimmungsvoll ins Abendrot getauchte Waldlandschaft. Dabei sind die Farben jedoch immer zart genug, um den Text ohne Probleme lesbar zu lassen. An anderen Stellen finden sich ganzseitige Bilder ohne Text und wieder anderswo sind kleine Bilder, die ein paar Zentimeter Raum einnehmen, neben die Buchstaben gesetzt. Dabei wurde besonderen Wert darauf gelegt, dass die Illustrationen niemals den Ausgang der Geschichte vorwegnehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Darstellung der fliehenden Räuber in den „Bremer Stadtmusikanten“, wo darauf verzichtet wurde, die Tiere selber zu malen, wie sie die Räuber vertreiben.

|Kaum Schwächen|

Will man überhaupt etwas an diesem Werk kritisieren, fallen nur zwei Dinge ein: Zum einen ähneln sich die Märchen teilweise so stark, dass ein Übermaß an Konsum rasch zur Langeweile führen kann. Wer kein ausgesprochener Märchenfreund ist, tut gut daran, sich nur höchstens ein paar der Texte pro Tag zu Gemüte zu führen. Ansonsten läuft man Gefahr, sich an den immer wiederkehrenden Formulierungen und Ausgangssitationen und den klischeehaft-vereinfachten Darstellungen zu übersättigen.

Der andere Punkt betrifft speziell diese Ausgabe, die leider auf Informationen zu den Autoren verzichtet. Auch wenn fast jedem ihr Aussehen und ihre ungefähren Lebensdaten geläufig sind, wäre es schön gewesen, auf einer halben bis einer ganzen Seite ihre Biographie zusammenzufassen.

_Unterm Strich_ bleibt auf jeden Fall eine wunderbare Ausgabe der Grimm’schen Märchen mit hervorragenden Illustrationen und einem sehr hilfreichen Stichwort-Register zu einem günstigen Preis, der in jedem Haushalt einen Platz finden sollte. Wer schon immer mal eine Ausgabe kaufen wollte und sich nicht entscheiden konnte, findet hier eine sehr empfehlenswerte Version, die für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen gut geeignet ist.

_Die Autoren_ Jacob und Wilhelm Grimm wurden 1785 und 1786 in Hanau geboren und lebten bis 1863 und 1859. Sie gehören zu den Begründern der deutschen Philologie und sind vor allem bekannt für ihre Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen sowieso für das Wörterbuch der „Deutschen Grammatik“, in dem Jacob Grimm den Grundstein für die moderne Etymologie legte.

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Pullman, Philip – Graf Karlstein

Das Bergdorf Karlstein in der Schweiz zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die 14-jährige Hildi arbeitet als Dienstmädchen im Schloss des finsteren Grafen Karlstein. Sie nutzt jede sich bietende Gelegenheit, um ihre Mutter, die den nahe gelegenen Gasthof führt, zu besuchen. Der einzige Trost auf dem düsteren Anwesen mit seinem unsympathischen Herrn sind die Nichten des Grafen. Die 10-jährige Charlotte und die 13-jährige Lucy sind Waisen, die vor einem Jahr vom Grafen notgedrungen aufgenommen wurden. Hildi versteht sich gut mit den jungen Fräuleins, die am liebsten zu später Stunde Gruselgeschichten lesen.

Eines Abends belauscht Hildi zufällig ein Gespräch des Grafen. Der Inhalt ist furchtbar: Der Graf hat vor zehn Jahren einen Pakt mit dem Höllenfürsten Samiel geschlossen, der ihm zu Reichtum und Macht verhalf. In wenigen Tagen, in der Nacht vor Allerseelen, verlangt Samiel seine Bezahlung in Form einer Menschenseele. Der Graf plant, ihm seine beiden ahnungslosen Nichten in einer Jagdhütte auszuliefern. Hildi warnt die Fräuleins und verhilft ihnen zur Flucht, hinaus in die eisige Kälte des Waldes.

Von jetzt an schweben die drei Mädchen in großer Gefahr. Der Graf nimmt sofort die Suche auf, denn wenn er die Mädchen nicht rechtzeitig findet, wird Samiel ihn selber als Opfer holen. Während Hildi scheinbar ahnungslos zurückkehrt und insgeheim fieberhaft nach einem Ausweg sucht, kommen noch weitere Personen ins Spiel: Der verwegene Zauberer Doktor Cadaverezzi hält im Gasthof seine Vorstellung ab und wird in die Flucht der Mädchen verwickelt, ebenso wie Hildis Bruder Peter, der aus dem Gefängnis geflohen ist. Können die Mädchem dem windigen Zauberkünstler vertrauen? Schaffen sie es, dem Grafen zu entkommen? Und wessen Seele wird sich Samiel mit seiner Wilden Jagd holen …?

Ein Schauerroman für Kinder, an dem auch junggebliebene Erwachsene ihre Freude haben – mit diesen Worten lässt sich Philip Pullmans Frühwerk auf den Punkt bringen. Dieser kleine aber feine Roman verdankt seine Entstehung einem Theaterstück, das der Autor, damals noch als Lehrer tätig, mit sichtlichem Vergnügen für seine Schulgruppe schrieb und aufführen ließ.

|Zwischen Grusel und Parodie|

Es sind gar schaurige Elementen, die Philip Pullman auf den Plan ruft. Ein düsteres Schloss mit einem noch düstereren Hausherrn sorgt für eine unheilvolle Atmosphäre. Es ist ein kalter Oktober, Allerseelen steht vor der Tür und die abergläubische Bevölkerung fürchtet sich vor der Wilden Jagd des höllischen Samiel. Auch flüchtige Verbrecher, windige Scharlatane, kriecherische Diener, Gefangenschaft und Identitätsverwechslungen dürfen nicht fehlen, gehören sie doch in das typische Schema eines altmodischen Schauerromans. Dass junge Leser sich trotzdem nicht zu Tode gruseln und Erwachsene ihre hintergründige Freude erleben können, liegt an dem satirischen Einsatz all dieser Mittel. Fast jede Figur, insbesondere die Bösewichte, ist bis zur Karikatur überzeichnet und fordert den Leser zum Amüsieren heraus, allein schon durch die meist bewusst lächerlichen Namen. Da sind der abstoßende Graf, der in seiner ständigen Nervosität an den Fingernägeln knabbert, der unterwürfige Handlanger Schniefelwurst, der gleich mehrmals unerfreuliche Bekanntschaft mit eiskaltem Flusswasser machen muss, der tollpatschige Wachtmeister Snitch und sein nicht weniger ungeschickter Kollege Gendarm Winkelburg und die garstige Dienerin Frau Müller. Für frischen Wind sorgt der charismatische, wortgewandte und durch und durch zweifelhafte Schausteller Doktor Cadaverezzi, der nicht nur durch seinen komplizierten Namen, sondern auch durch seine fabelhaften Ausreden und seine Wendigkeit die Polizisten zur Verzweiflung bringt; sein gutmütiger und einfach gestrickter Gehilfe Max, der nur Augen für seine Dauerverlobte Eliza besitzt, und die energische Lehrerin Miss Augusta Davenport, die auch in den heikelsten Situationen die Handschrift ihres Zöglings Fräulein Lucy rügt.

Abwechslung bringt auch die Erzählform hinein, da zwar hauptsächlich aus Hildis Perspektive berichet wird, zwischendurch aber auch andere Personen zu Wort kommen, wobei natürlich jedes Kapitel im Tonfall genau auf seinen Sprecher abgestimmt ist – etwa wenn der wenig schreibkundige Max seinen Bericht seiner Verlobten diktiert, die ihn offenbar währenddessen immer wieder von Abschweifungen abhalten muss. Gegen Ende spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu, und auch wenn man niemals einen schlimmen Ausgang befürchten muss, sorgt das Erscheinen des dämonischen Samiel dennoch für eine effektvolle Gänsehaut.

Es sind zwar junge Leser im Jugendalter, für die der Roman in erster Linie geschrieben ist, doch auch Erwachsene mit Sinn für Humor können die Geschichte mit bestem Gewissen genießen. Die Legenden der Wilden Jagd und vor allem der Freischütz und Samiel sind Kindern und Jugendlichen nicht unbedingt bekannt, sodass vorhandenes Hintergrundwissen belohnt wird und jeder Gruselfreund zumindest einen Blick in das Werk werfen sollte. Philip Pullman gelingt ein wunderbarer Ausgleich zwischen Spannung und Humor. Seine Figuren müssen schwierigste Hindernisse überwinden und geraten immer wieder in Lebensgefahr, doch auf fast jeder Seite wird der Leser gleichzeitig zum Amüsieren angeregt. Die Personen handeln teilweise mit einer hinreißenden Umständlichkeit oder denken in den unmöglichsten Situationen an unwichtige Dinge wie die Etikette. Manche Stellen sind von einer so niedlichen Naivität, dass man kaum weiß, ob man lachen oder den Kopf schütteln soll ob der Verhaltensweisen – und entscheidet sich meist für beides, etwa wenn die gefangene Charlotte in ihrem Zimmer aus lauter Einsamkeit Freundschaft schließt mit einem Perückenkopf aus Holz, dem sie ihr ganzes Leid erzählt. „Herr Holzkopf“, wie sie ihren neuen „Freund“ von nun an nennt, hört ihr „mit bewundernswerter Geduld zu“ und darf daher auch auf der Flucht natürlich nicht fehlen, auch wenn sich seine Mitnahme umständlich gestaltet.

|Bunte Vielfalt an Charakteren|

Der größte Sympathie- und Identifikationsträger ist natürlich die Haupterzählerin Hildi. Das junge Mädchen, das so harte Arbeit verrichten muss, schließt man bereits nach den ersten Seiten ins Herz. Auch die beiden Fräuleins Lucy und Charlotte entpuppen sich als liebenswerte Mädchen, wie Hildi nicht makellos, sondern eher bodenständig und emotional. Die Mädchen erlauben sich auf ihrer Flucht Schwächen und zeigen ihre Ängste, geraten in Fallen und machen Fehler – sie sind keine perfekten Heldinnen, sondern normale, verängstigte Mädchen, die mit allen Mitteln ihrem grausamen Onkel entkommen müssen und dabei teilweise an ihre Grenzen stoßen. Ein interessanter Charakter ist Hildis Bruder Peter. Der Achtzehnjährige ist ein begabter Schütze, der wegen Wilderei ins Gefängnis gesperrt wurde und nach seiner Flucht im Keller des Gasthofes untergetaucht ist. Hier wartet er auf das kommende Wettschießen, dessen Sieg ihm ein neues Leben einbringen könnte. Obwohl Peter die meiste Zeit der Handlung über nicht auf der Bildfläche präsent ist, bildet sein Schicksal unterschwellig eine weitere Spannungskomponente. Der Leser fragt sich automatisch nicht nur nach dem Ausgang des dramatischen Samiel-Paktes, sondern erhofft sich auch für Hildis Bruder eine positive Wendung. Für das liebenswerte Pärchen Max und Eliza drückt man die Daumen, dass es endlich mit der ersehnten Hochzeit klappen möge, und beim windigen Doktor Cadaverezzi ahnt man bereits sehr früh, dass er am Ende eine bedeutendere Rolle spielen wird als nur die des amüsanten Schaustellers.

|Keine echten Schwächen|

Auch bei strenger Betrachtung lassen sich nur wenige Aspekte des Romans bemängeln. Im parodistischen Sinne passend, aber für erfahrene Leser vielleicht etwas unbefriedigend ist der Schluss, der sehr viele Fäden zusammenlaufen lässt und wie in einem Märchen einen erhellenden Sinn ergibt. Dabei spielt der Zufall keine geringe Rolle und man fühlt sich an Trivialromane erinnert, in denen jeder Hauptcharakter mit einem persönlichen Happy-End belohnt wird. Da das Werk jedoch gerade auch dieses Genre aufs Korn nimmt, sind diese Entwicklungen nachvollziehbar und sollten mit einem Augenzwinkern gelesen werden. Ein wenig schade ist dagegen die knappe Abhandlung des Endes. Auf den letzten beiden Seiten werden die weiteren Verläufe der Schicksale zusammengefasst; dabei wird leider nicht auf Peter eingegangen, obwohl er keine geringe Rolle in der Handlung einnimmt und man gerne noch mehr über ihn erfahren hätte. Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch die Zusammenstellung der verschiedenen Perspektiven. Es gelingt dem Autor zwar geschickt, sich der passenden Tonfälle zu bedienen, doch es fordert jeweils eine kleine Einlesezeit, bis man sich an den neuen Erzähler gewöhnt hat. Ein wenig zu effekthaschend erscheint auch der übertriebene Gebrauch von Cliffhangern – kaum dass ein Charakter sich in einer heiklen Lage befindet, wird zum nächsten Kapitel übergeblendet oder sogar von einer anderen Person weiterberichtet. Für den geringen Umfang von nicht einmal 250 Seiten ist das Buch überladen mit Motiven, Handlungssträngen und immer neuen Einfällen, die gut und gerne ein Epos füllen könnten und die auf dem gedrängten Raum das Wohlwollen des Lesers fordern. Dank der humorvollen und sich selbst nicht wirklich ernst nehmenden Umsetzung aber ist man bereit, dieses Übermaß zu akzeptieren und den Klamauk mit Vergnügen zu verfolgen.

_Als Fazit_ bleibt ein wunderbarer Kinder- und Jugendroman in der Tradition alter Schauerromane, der auch für Erwachsene perfekte Unterhaltung bietet. Auf gelungene Weise verbindet das Werk Humor mit Grusel, parodiert bekannte traditionelle Elemente des Schauerromans und hält die unheimlichen Elemente in einem kindgerechten Rahmen. Wer Spaß an märchenhaften Romanen hat und sich für romantisch-unheimliche Sagen interessiert, sollte an diesem Frühwerk des heutigen Bestseller-Autors auf keinen Fall vorübergehen.

_Der Autor_ Philip Pullman, geboren 1946 in Großbritannien, reiste in seiner Kindheit durch Simbabwe, Australien, London und Wales, studierte später Anglistik in Oxford und arbeitete als Lehrer. Der Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm mit seiner Trilogie „His Dark Materials“ (Der Goldene Kompass, Das Magische Messer, Das Bernsteinteleskop), einer Jugend-Fantasyreihe. Daneben verfasst er auch Kinder- und Bilderbücher und doziert nebenbei am Westminster College in Oxford. Weitere Werke von ihm sind u. a.: die Sally-Lockhart-Reihe, „Lila lässt die Funken fliegen“, „Ich war eine Ratte“ und „Das Eiserne Herz“.

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Vantrease, Brenda – Illuminator, Der

England um 1380: Das Land befindet sich in großer Unruhe. Nach dem Tod Edward III. folgt ihm sein erst zehnjähriger Enkel Richard II. auf den Thron, eine umstrittene Nachfolge, die für Trubel im Königshaus sorgt. Das Volk ist der Herrschaft von Adel und Klerus ausgeliefert. Aber nicht nur die armen Leute, auch die Höhergestellten leiden unter der Härte und der Willkür der Gesetze. Zu ihnen gehört Lady Kathryn, die Herrin von Blackingham Manor. Vor einem Jahr verstarb ihr ungeliebter Mann Sir Roderick. Seitdem bemüht sie sich, ihren beiden knapp sechzehnjährigen Söhnen Alfred und Colin ein angemessenes Leben zu bieten, obwohl ihre einst reichhaltigen Mittel immer bescheidener werden. Während der selbstbewusste und launische Alfred seinem Vater nachschlägt, handelt es sich bei Colin um einen stillen, verträumten Jungen, der am liebsten auf seiner Laute spielt.

In dieser Zeit des Umbruchs erhält Lady Kathryn einen Auftrag vom Vorsteher der Abtei Broomholm. Der Illuminator Finn wird eine Ausgabe des Johannes-Evangeliums kunstvoll illustrieren. In dieser Zeit soll er im Kloster wohnen, doch der verwitwete Mann will sich nicht von seiner jungen Tochter Rose trennen. Daher soll Lady Kathryn ihnen gegen Bezahlung seitens der Abtei für einige Monate Unterkunft gewähren. Angesichts ihrer schwierigen finanziellen Lage willigt Lady Kathryn ein, ohne zu ahnen, welche Komplikationen damit auf sie zukommen. Zwischen ihr und dem intelligenten Illuminator entwickelt sich nach zögerlichem Beginn eine geheime Liebesbeziehung. Seine Tochter Rose wiederum verliebt sich in den scheuen Colin, während der eifersüchtige Alfred für Zwietracht sorgt.

Doch das ist noch nicht alles: Finn arbeitet insgeheim für den scharf umstrittenen Kirchenkritiker John Wycliff, der die Bibel ins Englische übersetzt, damit auch das einfache lateinunkundige Volk endlich die Heilige Schrift lesen kann. Jedes Bekenntnis für Wycliff wird als Verrat betrachtet und eine Entdeckung von Finns Diensten als Illuminator für ihn wären eine Katastrophe. Als auch noch ein Priester der Abtei nach seinem Besuch auf Blackingham ermordet aufgefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse. Lady Kathryn und ihre Söhne schweben genauso in Gefahr wie der Buchmaler Finn und seine Tochter …

In ihrem Debütroman befasst sich Brenda Vantrease mit einem bunten und gefährlichen Zeitalter. Vor dem Hintergrund der beginnenden englischen Reformation und der Bauernaufstände gelingt ihr die Schilderung einer fesselnden Geschichte voller interessanter Schicksale.

|Überwiegend interessante Charaktere|

Im Mittelpunkt stehen sowohl der titelgebende Illuminator Finn als auch die vornehme Lady Kathryn. Lady Kathryn präsentiert sich als starke Frau, die mit allen Kräften bemüht ist, ihren geliebten Söhnen das Erbe zu sichern. Ungern erinnert sie sich an die unglückliche Zwangsehe mit ihrem verstorbenen Mann zurück, sieht ihre Söhne aber als großes Geschenk. Die Einkünfte werden mit der Zeit immer geringer, der hinterhältige Ernteaufseher Simpson scheint sie zu betrügen und es wird immer schwieriger, den einstigen Status aufrechtzuerhalten. Auch wenn es stets für gute Kleidung und genügend Essen reicht, sorgt sich Lady Kathryn mit Recht um die Zukunft des Anwesens. Als Herrin über Blackingham kann sie sich nur wenige Schwachheiten erlauben. Dem ruhigen und intelligenten Illustrator gelingt es zwar, ihr Herz zu gewinnen – doch er bemerkt bald, dass sie sich bei aller Liebe nicht überwinden kann, gewisse Prinzipien zu brechen.

Nur wenige Charaktere sind eindeutig bei Schwarz oder Weiß einzuordnen. Lady Kathryn ist eine sympathische Identifikationsfigur, aber wegen ihrer Liebe zu ihren Söhnen schlägt sie auch opportunistische Wege ein. Der Illuminator wiederum erscheint glatter, idealistischer, durch seine zurückhaltende und nachdenkliche Art dem Leser aber nicht weniger sympathisch. Automatisch bangt man um sein Leben und spürt seine Verzweiflung, als nach und nach die Schwierigkeiten über ihn hereinbrechen: Die Sorge um seine Tochter, die Bedrohung durch die Kirche, Missverständnisse mit Kathryn. Der Mann, der bereits seine geliebte Frau nach der Geburt der Tochter verlor, muss viele Niederlagen einstecken, und es gelingt der Autorin gut, den Leser in seine Lage hineinzuversetzen.

Ein sehr zwiespältiger Charakter ist Kathryns Sohn Alfred. Zweifellos gleicht er seinem dominanten und herrschsüchtigen Vater, doch der Einfluss seiner gütigeren Mutter ist nicht ohne Folgen geblieben. Immer wieder schwankt der junge Mann zwischen seiner Bewunderung für den Vater und seiner Zuneigung für die tapfere Mutter. Einerseits ist er ein Hallodri, der auch die schöne Rose gerne in seinem Besitz hätte und im Gegenzug den sanften Bruder Colin verachtet. Andererseits gelingt es Kathryn in wichtigen Situationen durchaus, ihn an seine kindliche Liebe zu ihr zu erinnern und das fast verschüttete liebevolle Wesen in ihm zum Vorschein zu bringen. Daher bleibt bis zum Schluss offen, welchen Weg der junge Alfred tatsächlich einschlagen wird.

In der alten Köchin Agnes, dem Dienstmädchen Magda und dem Zwerg Halb-Tom finden sich drei ausgesprochen vielschichtige Nebencharaktere, die beim Lesen viel Freude bereiten und fast zu kleinen Hauptfiguren avancieren. Halb-Tom ist ein kleinwüchsiger Mann, der in den Sümpfen lebt und trotz seiner widrigen Lage als Außenseiter den Ärmeren hilft. Seine Verbindung zu Blackingham besteht hauptsächlich in Botengängen, doch darüber hinaus fasst er auch große Zuneigung zu der heranwachsenden Magda. Das aus ärmsten Verhältnissen stammende Mädchen wird wegen seiner Schweigsamkeit lange Zeit für zurückgeblieben gehalten, aber es kristallisiert sich heraus, dass man sein liebes, naturverbundenes Wesen damit gründlich unterschätzt. Die aufkeimende Zuneigung zwischen dem Zwerg und dem kindlichen Mädchen bildet einen kleinen aber feinen Nebenstrang, den man gerne verfolgt. Für humorvolle Szenen sorgt vor allem die alte Agnes, die nicht nur gegenüber Kathryn eine vertraute und fast mütterliche Stellung einnimmt, sondern auch gelegentlich deftige Bemerkungen von sich gibt. Ihre brummelige und oft derbe Art sorgt bei Kathryn zwar zeitweilig für Verstimmung, beim Leser jedoch für Erheiterung.

Rose Finn, die Tochter des Illuminators, ist genau wie Colin über weite Strecken zu glatt und zu harmlos geraten. Gottesfürchtig, demütig und scheu, wie sie sind, verhalten sie sich insgesamt zu vorhersehbar und langweilig. Ebenfalls ausnehmend gut, aber viel interessanter ist die Figur der Einsiedlerin Julian, die ebenfalls in die Fronten zwischen Kirche und Volk gerät. Die gütige Frau mit dem tiefen Glauben wird trotz oder gerade wegen ihrer Hingabe für das einfache Volk von der Kirche misstrauisch beäugt und schwebt kaum weniger in Gefahr als Lady Kathryn und Finn.

|Spannung in mehrfacher Hinsicht|

Spannung erfüllt die Geschichte gleich auf mehreren Ebenen: Zum einen verfolgt man natürlich mit großem Interesse die schwankende Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen Lady Kathryn und Finn. Lady Kathryn befindet sich im ersten Witwenjahr, sollte also nach Ansicht der Außenwelt angemessen um ihren Ehemann trauern, sodass eine neue Beziehung gesellschaftlich undenkbar wäre. Dazu kommt die für damalige Verhältnisse erschreckende Enthüllung, dass Finns verstorbene Frau eine Jüdin war. In einer Zeit, in der die Juden für alles denkbare Übel inklusive der Pest verantwortlich gemacht wurden, tut der Illustrator gut daran, dieses Detail seiner Vergangenheit geheim zu halten. Selbst die gütige Lady Kathryn empfindet diese Tatsache als Schock, der ein dunkles Licht auf ihr Verhältnis wirft. Als wären dies nicht bereits Schwierigkeiten genug, bedeutet auch der Standesunterschied zwischen dem bürgerlichen Finn und der adligen Frau ein Gegenargument zu ihrer Verbindung.

Zu diesen äußeren Komplikationen gesellt sich auch die Angst vor den Reaktionen sowohl seitens des eifersüchtigen Alfreds, der das Ansehen seines Vaters verteidigt, als auch des schmierigen Sheriffs Sir Guy, der Heiratsabsichten mit Kathryn hegt. Die möglichen politischen und persönlichen Konsequenzen schweben folglich wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen und halten die Spannung aufrecht. Das gilt, wenn auch in abgeschwächter Form, ebenfalls für das nicht minder intime und geheime Verhältnis zwischen Colin und Rose. Die beiden haben zwar nicht so schlimme Konsequenzen zu befürchten, doch Finn vertraut auf die Tugend der beiden, während Lady Kathryn eher von Alfred fürchtet, dass er Rose zu nahe tritt.

Ein wenig Krimiflair erhält die Handlung durch den Mord an dem Priester. Bei den ersten Ermittlungen verneint Lady Kathryn vorsichtshalber, den Priester am fraglichen Tag gesehenen zu haben, doch ihre Lüge wird entlarvt und lenkt den Verdacht auf Blackinghams Bewohner. Bis zum Schluss muss der Leser fürchten, dass ein Unschuldiger für die Tat büßt, während man Lady Kathryns grausamen Zwiespalt verfolgt, sich zwischen Finn und einem ihrer Söhne entscheiden zu müssen.

|Viele historische Details|

Eine Vielzahl von historischen Personen lässt die Historienfreunde voll auf ihre Kosten kommen. Die sanfte Einsiedlerin Julian von Norwich hat es ebenso gegeben wie den Kirchenkritiker John Wycliff und den despotischen Bischof Henry Despenser, ganz zu schweigen natürlich von den Mitgliedern des Königshauses. Der Illuminator ist zwar fiktiv, doch die Autorin verwebt seine Geschichte geschickt mit der realen Existenz einer Paneele mit der Passion Christi, deren Künstler bis heute unbekannt ist. Auch bei der Figur von Julian von Norwich, über die man nur sehr wenige Zeugnisse besitzt, musste mit viel Phantasie ausgeschmückt werden, und das geschieht so überzeugend, dass man gerne gewillt ist, sich die Einsiedlerin so vorzustellen, wie Brenda Vantrease sie dargestellt hat.

Darüber hinaus besticht der Roman durch Sachkenntnis und realistische Details aus der damaligen Zeit, bei denen wenig beschönigt wird. Das Elend der armen Leute wird dem Leser deutlich vor Augen geführt, aber auch die Konflikte und Schwierigkeiten von scheinbar Begünstigteren wie Lady Kathryn, die ebenfalls unter den Bedingungen leiden. Allerdings bleiben vor allem die herrschaftlichen Hintergründe etwas im Dunkel. Der Leser erfährt nicht viele Angaben zum regierenden Richard II. und seinen Vorgänger. Daher empfiehlt es sich, parallel zum Roman auch ein paar Blicke in Geschichtsbücher zu werfen, um sich mit der politischen Situation vertraut zu machen. Für das Verständnis des Inhalts ist es nicht notwendig, aber zur besseren Gesamtbeurteilung der Epoche anzuraten, wenn keine Vorkenntnisse vorhanden sind. Etwas schade ist außerdem die negative Darstellung von John of Gaunt, des Herzogs von Lancester, der nicht eigenständig in Erscheinung tritt, aber oft von Beteiligten erwähnt wird. Der Sohn von Edward III. fungierte als Berater seines Neffen, des kindlichen König Richard II., und unterstützte den aufrührerischen John Wycliff. Doch nicht nur Johns Gegner, auch Wycliff selber sieht im Roman vor allem den Eigennutz von John of Gaunt, der durchweg negativ beschrieben wird. Tatsächlich war der historische John of Gaunt beim Volk unbeliebt, doch im Ausland und in der heutigen Forschung bewundert man ihn eher für seine Reformen und seine politische Weitsicht, die zu seiner Zeit verkannt wurde.

Die edle Aufmachung der deutschen Ausgabe passt exzellent zur thematisierten Buchkunst und dürfte Bibliophilen das Herz höher schlagen lassen. Im Gegensatz zu manch anderen Historienromanen verwendet die Autorin hier zudem angenehmerweise keine allzu geschwollene Sprache, sondern benutzt einen sehr gut lesbaren Stil, der nicht anspruchslos, aber unschwer zu verfolgen ist.

_Als Fazit_ bleibt zu sagen, dass der von den Medien herangezogenen Vergleich mit Umberto Ecos Meisterwerk „Der Name der Rose“ übertrieben ist, aber dennoch können Freunde von historischen Romanen hier bedenkenlos zugreifen. Das Werk besticht durch eine spannende Handlung, berührende Schicksale, interessante Charaktere und detaillierte Sachkenntnis. Die wenigen Schwächen haben keinen großen Einfluss auf den positiven Gesamteindruck dieses gelungenen Erstlings.

_Die Autorin_ Brenda Vantrease, Jahrgang 1945, studierte und promovierte in Tennessee in englischer Literatur. Anschließend arbeitete sie als Englischlehrerin und Bibliothekarin. Auf ausgiebigen Reisen nach Großbritannien und Irland erkundete sie die Schauplätze der Geschichte und verfasste zahlreiche Essays und Kurzgeschichten. „Der Illuminator“ ist ihr Romandebüt. Gegenwärtig arbeitete die Autorin an ihrem nächsten historischen Werk.

|Originaltitel: The Illuminator
Originalverlag: St. Martin’s Press 2005
Aus dem Amerikanischen von Gloria Ernst
Taschenbuch, 576 Seiten, 12,5 x 18,3 cm|
http://www.blanvalet.de

Holtkötter, Stefan – Geheimnis von Vennhues, Das

Vennhues im Münsterland, 1982. Beim Spielen im Moor findet ein Junge die grausam zugerichtete Leiche eines Kindes. Schnell hat man einen Hauptverdächtigen gefasst, den knapp achtzehnjährigen Peter Bodenstein. Peter beteuert seine Unschuld, doch die Dorfbewohner sind davon überzeugt, dass er der Mörder ist. Kurz vor der Tat hat er sich mit dem Opfer zerstritten, die Tatwaffe stammt aus seinem Haus und er hat kein Alibi. Sogar seine Eltern zweifeln. Peter wird aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Aus Angst vor Rache verlässt er den Ort und meldet sich zur See.

Mehr als zwanzig Jahre danach kehrt Peter Bodenstein zurück auf den Hof seines Vaters. Er will endlich seine Unschuld beweisen, aber er wird kalt empfangen. Bis auf seinen Vater halten nur wenige Dorfbewohner zu ihm, der Rest sieht in ihm nach wie vor den Mörder, zumal es nie einen weiteren Verdächtigen gab. Bald darauf geschieht die Katastrophe: Wieder findet man die Leiche eines Jungen im Moor und wieder gerät Peter Bodenstein in Verdacht. Die aufgebrachten Dorfbewohner wollen Peter lynchen, der im letzten Moment flüchten kann.

Hauptkommisar Bernhard Hambrock aus Münster, der in Vennhues aufgewachsen ist, übernimmt den Fall. Vor zwanzig Jahren war er mit Peter befreundet und er hält seine Unschuld für möglich. Bei seinen Ermittlungen rollt er auch den alten Mordfall wieder auf. Doch obwohl er selber aus dem Dorf stammt, erhält er bei seinen Nachforschungen kaum Unterstützung. Die eingesessenen Dorfbewohner betrachten den Großstädter als Fremdling, der nicht mehr zu ihnen gehört, und verweigern die Zusammenarbeit. Doch Hambrock gibt nicht auf. Bei seinen Untersuchungen stößt er auf düstere Geheimnisse und kämpft darum, die Wahrheit ans Licht zu holen. Die Spur führt schließlich ins Moor …

Ein kleines Dorf, ein düsteres Moor, eine verschworene Gesellschaft und grausige Morde … Aus bewährten Zutaten zaubert Stefan Holtkötter einen Krimi der Extraklasse, den sich kein Spannungsfreund entgehen lassen sollte.

|Überzeugende Charaktere|

Einen großen Anteil daran haben die Charaktere, die von Beginn an überzeugen können und dem Leser plastisch vor Augen treten. Da ist der Mordverdächtige Peter Bodenstein, damals ein halber Junge, der gerade das Erwachsenenalter erreicht hatte und seitdem auf den Schiffen um die halbe Welt gereist ist. Mit Anfang vierzig kehrt er nun zurück in seine alte Heimat, um den zweimonatigen Landurlaub bei seinem alten Vater zu verbringen. Mit Peter Bodenstein ist dem Autor eine zwiespältige und gerade deshalb hochinteressante Figur geglückt, die einerseits das Misstrauen des Lesers weckt, da man nicht zu hundert Prozent von seiner Unschuld überzeugt ist. Andererseits empfindet man tiefes Mitgefühl für diesen Mann, der sein halbes Leben auf der Flucht verbringen musste. Nicht einmal sein Vater kann sagen, dass er ihn für unschuldig hält, obwohl er trotzdem zu seinem Sohn steht und ihn liebt. Peters Mutter ist vor ein paar Jahren verstorben, ohne ihren Sohn noch einmal wiedergesehen zu haben. Auch wenn nicht sehr viele Worte gebraucht werden, um Peters Schicksal zu beschreiben, spürt man die Hoffnungslosigkeit, die über seinem Leben schwebt, das an jenem Tag zerbrach, an dem die Leiche von Willem van der Kraacht gefunden wurde.

Unauffälliger aber nicht weniger interessant ist die Gestalt von Hauptkommissar Bernhard Hambrock, der ihn, nur wenige Jahre jünger als Peter, in Jugendtagen einst bewunderte und fest an seine Unschuld glaubte. Zwei Jahrzehnte und viele Berufserfahrungen später weiß Hambrock, dass es kein Indiz für Peters Unschuld gibt, dass sich Mörder hinter den unwahrscheinlichsten Masken verbergen. Hambrock steckt in einem Dilemma: Die Dorfbewohner kritisieren seine Ermittlungen und fordern eine schnelle Vertreibung von Peter Bodenstein aus Vennhues; der um Neutralität bemühte Hambrock ist für sie ein Verräter, der einen Mörder schützt. Umgekehrt sieht Peter Bodenstein in dem alten Freund nur noch den Gesetzeshüter, der seine Schritte überwacht. Zu allem Überfluss war Hambrocks ehemaliger Vorgesetzter, auf dessen Urteil er große Stücke hält, der damals leitende Ermittler, der nach wie vor von Bodensteins Schuld überzeugt ist. Bernhard Hambrock präsentiert sich als tüchtiger und gewissenhafter Ermittler, dessen private Persönlichkeit nie in den Vordergrund gedrängt wird. Immer wieder gibt es kleine Episoden aus seinem Ehe- und Familienleben, vor allem wegen der wenigen Zeit, die er seiner Gattin widmen kann, nette Anspielungen auf seine Zwangsdiät – aber der Roman dreht sich nicht um ihn als Hauptfigur, sondern um die Aufklärung zweier Verbrechen und die Schuldfrage eines verjagten Verdächtigen und ehemaligen Freundes. Auch die restlichen Nebenfiguren wissen zu überzeugen. Der Leser begegnet im Dorf den verstockten Altbewohnern, die am liebsten Selbstjustiz verüben würden, den zurückhaltenden Vernünftigen, die sich um Neutralität bemühen und den wenigen Menschen, die zu Peter halten und seinen Aussagen Glauben schenken oder es zumindest versuchen. Für kleine Auflockerungen sorgt Hambrocks Assistent Phillip, ein junger, impulsiver Polizeipraktikant, der den Hauptkommissar mit seiner fehlenden Besonnenheit manchmal fast zur Verzweiflung treibt.

|Dramatik bis zum Schluss|

Von Beginn an liegt Spannung in der Luft: Der Prolog führt zurück ins Jahr 1982, als der junge Frank im Moor über die Leiche des erstochenen Willem van der Kraacht stößt. Das dörfliche Vennhues mit seinen alteingesessenen Bewohnern, die zusammenhalten und gegen jeden Außenstehenden misstrauisch reagieren, wird anschaulich und atmosphärisch dicht geschildert. Schon bald ist der Leser mittendrin in dieser Gemeinschaft, spürt den Hass, der gegen Peter Bodenstein in der Luft liegt und die Zerrissenheit von Bernhard Hambrock, der sich von seiner Subjektivität gegenüber Peter befreien muss. Rasch ahnt man, dass die Mordfälle viel komplexer sind, als die Bewohner angenommen haben, und dass es düstere Geheimnisse unter ihnen gibt. Nach und nach kristallisiert sich bei Hambrocks Ermittlungen heraus, dass es neben Peter noch andere Dorfbewohner gibt, die Motiv und Gelegenheit zu den Morden gehabt hätten. Doch zwanzig Jahre nach einem Verbrechen ist es schwer, glaubhafte Indizien zu finden und die Nachforschungen der Polizei kommen nur langsam voran. Die Spannung liegt nicht nur in der Mördersuche, sondern auch in der Frage, was mit Peter am Ende geschehen wird – hat er Schuld an den Morden, und wenn nicht, wird er rehabilitiert? Verübt einer der Bewohner zuvor Selbstjustiz an ihm? Ist seine Flucht nach dem zweiten Mord erfolgreich, wird er gefasst oder wird er sich sogar stellen? Alles scheint möglich, und je mehr Einwohner in den Fall verwickelt werden, desto unvorhersehbarer wird das Finale. Der Leser erhält nicht nur Anteil an einer bis zuletzt abwechslungsreichen Mörderjagd, sondern wird auch ein wenig nachdenklich bei dieser Suche nach Schuld und Sühne und der Darstellung dessen, was Vorverurteilungen aus einem Menschenleben machen können. Zusammen mit dem stets gegenwärtigen Ortshintergrund des bedrohlichen Moors ergibt sich eine unheilvolle Atmosphäre, die für wohlige Schauer sorgt.

|Minimale Mankos|

Schwächen gibt es kaum in diesem durchgehend überzeugenden Krimi. Routinierte Genreleser mögen jedoch vielleicht bemängeln, dass das Setting der dörflichen Gemeinschaft, die gegen Fremde erbarmungslos zusammenhält, mittlerweile sehr bekannt ist. Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch das Ende, bei dem der Autor darauf verzichtet, sämtliche Fäden sauber zu verknüpfen und einen kleinen Raum für Spekulationen lässt, wenn auch nicht in den wesentlichen Fragen. Dass er kein reines Happy-End liefert, verstärkt allerdings den Authentizitätscharakter der Geschichte, da auch in der Realität selten alles einen uneingeschränkt guten Schluss findet.

_Unterm Strich_ erwartet den Leser ein hervorragender Krimi aus deutschen Landen mit viel Lokalkolorit. Schnörkellos und klar geschrieben, lässt sich der kompakte Roman locker und leicht lesen. Die Spannung wird bis zum Schluss aufrechterhalten und unterhaltsames Mörderraten ist garantiert. Ein Muss für alle Freunde von Lokalkrimis.

_Der Autor_ Stefan Holtkötter wurde 1973 im Münsterland geboren. Er absolvierte unter anderem eine Ausbildung als Sozialpädagoge und arbeitet heute neben seiner Autorentätigkeit in Berlin als Motivationstrainer und Berater für Arbeitslose. 2005 erschien sein erster Roman, der Berlin-Krimi „Fundort Jannowitzbrücke“. Mehr über ihn auf seiner Homepage http://www.stefan-holtkoetter.de.

Haubold, Frank W. (Hrsg.) – Jenseitsapotheke, Die (Jahresanthologie 2006)

„Die Jenseitsapotheke“ ist die Jahresanthologie 2006 und gleichzeitig die Jubiläumsausgabe 200 des Magazins |Fantasia|, das vom Ersten Deutschen Fantasy Club e. V. herausgegeben wird. 25 Geschichten von 25 Autoren aus allen Bereichen der Phantastik wurden hier von Frank W. Haubold zusammengestellt und von Gabriele Behrend mit zwölf ganzseitigen Schwarzweiß-Illustrationen versehen.

Nähere Informationen unter:
http://www.edfc.de
http://www.frank-haubold.de

|“Die Rückkehr“| (Michael Siefener): Mehr als zehn Jahre ist es her, dass der Ich-Erzähler seine Eltern zuletzt gesehen hat. Nie wieder wollte er den düsteren Waldturm seiner Kindheit betreten. Doch ein drängender Anruf seines Vaters bringt ihn dazu, nach Hause zurückzukehren. Seine Eltern liegen im Sterben, ein fremder Mann hält sich bei ihnen auf. Noch ehe der Sohn klären kann, um wen es sich bei dem Fremden handelt, sterben seine Eltern. Und der Fremde hat merkwürdige Vorstellungen von der Beerdigung …

|“Sturmreiter“| (Armin Rößler): Die Freunde Mercand, Bottrill und Dyn bilden ein eingeschworenes Team von Sturmreitern. Auf ihren Sagyen fliegen sie durch die Lüfte und machen Jagd auf Toncerleys. Bei einem ihrer Ritte taucht ein riesenhafter Vogel auf, der eine Katastrophe auslöst. Die Freundschaft der drei wird bald nie mehr so sein wie früher …

|“Eine Viertelstunde Sonne“| (Heidrun Jänchen): Die einsame Sanne hat eine Erscheinung im morgendlichen Sonnenlicht auf ihrem Balkon: Ein seltsames Wesen, das in allen möglichen Farben schillert, stattet ihr kurze Besuche ab. Sanne ist überzeugt davon, dass es sich um einen Engel handelt. Mit jedem weiteren Mal fasziniert sie das fremde Wesen mehr und Sanne möchte am liebsten, dass es sie nie mehr verlässt …

|“Die Chronistin von Chateauroux“| (Anke Laufer): Im Jahr 2121 reist die junge Chronistin Moira Mongulu mit einem zwanzigköpfigen Trupp als Beauftragte für die Neubelebung vergessener Güter im Namen des Revolutionsrates zum Schlosshotel Chateauroux. Die Welt hat sich stark verändert: Dank moderner Reproduktionstechnik sind Eltern überflüssig geworden, alternde Menschen gibt es nicht mehr und Moira ist mit ihren sechzehn Jahren bereits eine der ältesten der Truppe. Auf Chateauroux werden die Kinder mit unheimlichen Vorgängen konfrontiert …

|“Der Wolkentreiber“| (Dimitrij Makarow und Erik Simon): Es ist Sommer und alle von Tims Freunden sind mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren. An einem Tag schlendert der Junge von zuhause los, ohne bestimmtes Ziel. Unterwegs trifft er auf einen alten Mann, der ihn in ein seltsames Gespräch verwickelt …

|“Jackson-Gate“| (Christian Schmitz): Leon Binzenberger tritt seinen neuen Job als Moral-Assistent beim ZDF an. Um Skandale bei Live-Sendungen zu vermeiden, werden alle Übertragungen mit zehnsekündiger Verspätung gezeigt, damit sie gegebenenfalls rechtzeitig unterbrochen werden können. Gleich an seinem ersten Arbeitstag gerät Leon in eine prekäre Lage während einer Debatte der beiden Kanzlerkandidaten …

|“Die Jenseitsapotheke“| (Hartmut Kasper): Ullrich wird als Kind von einem Auto angefahren und trägt schwere Verletzungen davon. Einige Wochen später erzählt er seinem Klassenkameraden von der Jenseitsapotheke. Eines Abends machen sich die beiden Jungen auf den Weg dorthin …

|“Der Schattenprinz“| (Jasmin Carow): Nach und nach zieht sich eine Frau aus der Öffentlichkeit zurück. Was bleibt, ist der Kontakt zu einem Internetfreund …

|“In der Dunkelheit Edens“| (Jennifer Schreiner): Kurz nach der Erschaffung des Paradieses und der ersten Menschen streiten sich die Engel über Jahves Schöpfung. Während die Erzengel Michael, Gabriel und Raffael die Menschen verteidigen, lehnt sich der gefallene Engel Samiel auf …

|“An der Großen Marina“| (Matthias Falke): Eine Gruppe von Freunden postiert sich vor der gewaltigen Festung eines Oberförsters, der Atomgranaten verschießt. Mit Rockmusik beschallen die Rebellen das Gebiet. Eines Tages schlagen ihre Gegner zurück. Nach vergeblicher Flucht werden die Freunde gefangen, in Zellen gesperrt und sehen einem ungewissen Schicksal entgegen …

|“Mein lieber Rene“| (Stephan Peters): Rene und Viktoria sind ein junges Pärchen, das erstmals eine räumliche Trennung erlebt. Während Viktoria in Wilhelmshaven ihr gebrochenes Bein pflegt, richtet Rene bei Oldenburg ihr zukünftiges gemeinsames Haus ein. Um die Sehnsucht erträglich zu machen, schreiben sich die beiden regelmäßige Briefe. Nach und nach kristallisiert sich bei Rene ein Trauma aus der Vergangenheit heraus, das sich in der Moorgegend noch weiter verstärkt …

|“Das Großvater-Parodoxon“| (Wilko Müller jr.): Da die Handlungen eines Zeitreisenden katastrophale Folgen haben könnten, ist der Bau von Zeitmaschinen verboten. Nicht zum ersten Mal hört Student Kevin in einer Vorlesung die Theorie vom Großvater-Paradoxon. Im Gegensatz zu seinem Dozenten glaubt Kevin allerdings, dass man das Paradoxon umgehen könnte. Nicht nur das: Er hat sich in den Kopf gesetzt, seinen Großvater per Zeitreise ausfindig zu machen …

|“Das Jesus-Attentat“| (Achim Stößer): Ben erhält überraschend Besuch von seinem alten Highschool-Freund Tony. Tony hat ein verrücktes Vorhaben: Er will in die Zeit zurückreisen, um die Ermordung Jesu Christi zu verhindern. Ben wird gezwungen, ihn zu begleiten. Die Folgen dieser Reise sind ganz anders als erwartet …

|“Erbsünden“| (Silke Rosenbüchler): Eine Selbsthilfegruppe von Jugendlichen bespricht ihre elterlichen Probleme, die sie mittels versteckter Kamera aufzeichnen und untereinander präsentieren. Studentin Marian erklärt ihnen die Verhaltensmuster ihrer Eltern. Zum Agressionsabbau dient die Stimulationskammer, in der sich die Teenager im Scheinkampf gegen ihre Eltern wehren können. Aufgrund einiger unglücklicher Vorfälle sind diese Kammern jedoch inzwischen offiziell verboten, sodass die Gruppe heimlich eine Testkammer nutzt …

|“Eva“| (Alexander Amberg): Ein Journalist kämpft mit seiner Alkoholsucht, mit beruflichen Problemen, mit kriminellen Verfolgern und mit dem Verlust seiner verstorbenen Frau. Doch auch wenn Eva tot ist, heißt das nicht, dass er sie nicht mehr sieht …

|“Die Stadt der Träume“| (Christel Scheja): Der kleine Tom ist ein Junge aus ärmsten Verhältnissen, der sich seinen Hungerlohn in den Kohlegruben verdient. In seinen Träumen flüchtet er sich in die märchenhafte Stadt Er’Ylin, von der ihm früher seine Großmutter erzählt hat. Dort sollen alle Menschen glücklich sein und in Wohlstand leben. Aber existiert die Stadt wirklich nur in seinem Traum …?

|“Eros hinter dem Vorhang“| (Natalia Andreeva): Emilia und German sind ein ungleiches Geschwisterpaar. Emilias Vater kommt kurz vor ihrer Geburt durch einen Unfall ums Leben, und kaum ist das Mädchen auf der Welt, verstirbt auch ihre Mutter. Emilia wächst bei ihrem deutlich älteren Bruder auf. Schon in jungen Jahren wird Emilia von Männern umschwärmt und der Eros bestimmt ihr Leben – was ihrem Bruder ganz und gar nicht gefällt …

|“Um Kopf und Kragen“| (Charlotte Engmann): Der Student Martin hat widerwillig einen Kater in Pflege genommen. Am Morgen überrascht ihn das Tier mit einem toten Papagei, den es gerissen hat. Kurz darauf findet Martin auch die Überreste von einem Fisch und Chinchillas, alles Haustiere aus der Nachbarschaft. Als der Kater auch noch ein Chaos in der Bibliothek anrichtet, ahnt Martin, dass er es mit keinem gewöhnlichen Tier zu tun hat …

|“Audio!“| (Volker Groß): Filmore Mayers arbeitete an einer Biographie über den genialen Arthur William Blown, den Meister des Obskuren. Obwohl seit einer Ewigkeit niemand Blown mehr zu Gesicht bekommen hat, ist Filmore überzeugt davon, dass der geheimnisvolle Mann noch lebt. Um seine Biographie zu vervollständigen, besucht er Blown in seinem verfallenen Haus und macht eine folgenschwere Entdeckung …

|“Der Tausendäugige“| (Frank W. Haubold): Ein Erkundungstrupp untersucht einen Raumsektor, der vor mehr als 200 Standardjahren gesperrt wurde. Offizielle Begründungen wurden nicht bekannt. Während Kommandant Nik Thornton die Expedition bedenkenlos einleitet, ahnt die Pilotin Liza Santini, dass ihnen ein Unheil droht. Je weiter die Gruppe in die verlassene Stadt vordringt, desto stärker werden Lizas Befürchtungen …

|“Das Fest der Einzelteile“| (Stefan Pfister): Die Transplantationsmedizin hat ihre Grenzen mittlerweile ausgeweitet. Nicht nur Organe, auch Körperteile werden verpflanzt. Die staatliche Kommission für Sterilität und Hygiene untersucht jedoch einige mysteriöse Vorfälle, bei denen die behandelten Patientin sich die Körperteile selbst entreißen und teils schwer verletzt überleben, teils dabei sterben. Ein rotes Auge erteilt angeblich die Befehle, gegen die die Betroffenen sich nicht wehren können …

|“Ein kurzer Zwischenbericht der Evolution“| (Wolfgang G. Fienhold): Das Neandertalervolk der Nandis sieht sich vom Stamm der Cro bedroht, die andere Denkweisen vertreten. Bei einer launigen Tavernensitzung diskutiert man mögliche Lösungsansätze …

|“Der Spielmann“| (Sabine Mehlhaff): Eine Rattenplage liegt über der Stadt und kein Mittel scheint zu helfen. Bis eines Tages ein Fremder mit einer Flöte vortritt und verspricht, innerhalb einer Nacht die Ratten zu verjagen. Als Lohn fordert er, dass er ein paar Kinder mit sich nehmen darf, um sie das Spielmannshandwerk zu lehren. Der Meister der Stadt willigt ein und tatsächlich ist die Stadt am nächsten Tag von der Plage befreit. Doch der Preis dafür ist hoch …

|“Verbrechen aus Leidenschaft“| (Malte S. Sembten): Ein Liebespaar plant in einer Vollmondnacht einen kaltblütigen Mord an jemandem, der zwischen ihnen steht – doch der Schein trügt …

|“Sternzerstörer“| (Niklas Peinecke): Irgendwann in einer hochmodernen Zukunft: Sinan erhält den Auftrag, eine spezielle Waffe zu besorgen. Gemeinsam mit zwei Kollegen lässt er sich auf ein gefährliches Unternehmen ein, um an die gewünschte Anti-Helikopter-Waffe zu kommen. Seine Auftraggeberin Nika hat damit einen besonderen Plan …

Die Jubiläumsausgabe 200 des Magazins |Fantasia| vereint 25 Geschichten aus dem Bereich der Phantastik, wobei die Untergebiete Horror, Fantasy und Science-Fiction quantitativ etwa zu gleichen Teilen bedacht werden. Diese bunte Mischung verspricht Abwechslung und hält mit Sicherheit für jeden Phantastik-Leser einen Favoriten parat.

Die Auftaktgeschichte „Die Rückkehr“ besinnt sich auf traditionelle Horrorelemente. Ein einsamer Turm am Meer, ein düsterer Wald, eine dunkle Vergangenheit und ein mysteriöser Fremder lassen ein typisch unheimliches Setting entstehen, das nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Leser in einen geheimnisvollen Bann zieht. Die dichte, beklemmende Atmosphäre hält sich von Beginn bis Ende und dürfte vor allem den Freunden altmodischer Schauergeschichten im Stil von H. P. Lovecraft gefallen, auch wenn der Schluss etwas uninspiriert wirkt.

Armin Rößlers „Sturmreiter“-Geschichte spielt in einer fremden Welt mit fremden Wesen und überzeugt durch flüssigen Stil, eine spannende Handlung und einen leicht nachdenklich stimmenden Schluss. Auf wenigen Seiten gelingt es dem Autor, seinen Charakteren Lebendigkeit einzuhauchen und den Leser in ihr Schicksal einzufangen. Dabei ist lediglich schade, dass die fremdartigen Gestalten der Sagyen und Toncerleys zu blass bleiben und man gezwungen ist, sich eine sehr eigene Vorstellung von den Wesen zu erschaffen. Ein paar weitere kleine Hinweise über ihr Aussehen hätten dem Text gut getan, der nichtsdestotrotz zu den besten der Sammlung gehört.

Heidrun Jänchen bietet mit ihrer kleinen aber feinen Geschichte ein weiteres Highlight der Anthologie. „Eine Viertelstunde Sonne“ ist ein poetisches Kleinod, das auf nicht einmal sechs Seiten eine melancholisch-phantasievolle Atmosphäre verbreitet, die den Leser auf Anhieb berührt. In ruhigen Worten offenbart sich hier das Leben einer einsamen Frau, die Trost und Hoffnung in einer Engelsgestalt findet, die sie mit jeder Begegnung mehr in den Bann zieht. Einzig der vorhersehbare Verlauf der Geschichte trübt das Gesamtbild ein wenig – dennoch bleibt eine schöne Erzählung, die auch nach dem Lesen noch lange im Gedächtnis verweilt.

„Die Chronistin von Chateauroux“ braucht eine kleine Anlaufzeit, ehe man sich als Leser eingewöhnt und einen Überblick über die Ausgangslage gewonnen hat. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist man jedoch gefesselt und verfolgt gespannt, wie sich die Ereignisse zuspitzen und die unheilvolle Stimmung auf den Höhepunkt zustrebt. Die Geschichte erhält gegen Ende einen leichten Horroreinschlag, der für eine intensive Nachwirkung sorgt. Insgesamt ist Anke Laufer hiermit eine bedrückende und überzeugende Erzählung über eine deprimierende Zukunft gelungen.

Melancholisch-nachdenklich ist auch der Tenor der Geschichte von Dimitrij Makarow und Erik Simon, die uns in die Zeit der Kindheit zurückversetzt. Erinnerungen werden wach an Sommertage, wie sie der Protagonist erlebt; stille Ferientage, die Freude im Urlaub, die Eltern auf der Arbeit, die Straßen leer und der Kopf voller seltsamer Gedanken. Es ist eine unspektakuläre, aber nachhaltige Begegnung, die der Junge mit dem „Wolkentreiber“ macht. Die Geschichte überzeugt durch die Atmosphäre, die sie transportiert, auch wenn die Handlung auf ein Minimum beschränkt ist.

Christian Schmitz entführt den Leser mit seiner Mediensatire „Jackson-Gate“ in eine ferne oder vielleicht doch nicht allzu ferne Zukunft, die ein unterhaltsames Lesevergnügen bietet. Allein die Namen der Kanzlerkandidaten, Oleg Müntefering und Monika Strauß-Berlusconi, laden zum Schmunzeln ein und es gelingt recht gut, sich mit dem Protagonisten und seinen Sorgen bezüglich des neuen Jobs zu identifizieren. Überraschende Wendungen garantieren, dass keine Langeweile aufkommt, und eine nette Pointe rundet den positiven Gesamteindruck ab. Negativ zu vermerken ist nur, dass der Protagonist sehr häufig mit sich selber spricht, was eine sehr unelegante Art ist, den Leser über seine Gedanken zu informieren.

Die Titelgeschichte von Hartmut Kasper reiht sich in die melancholisch orientierten Werke der Anthologie ein. Richtiger Horror will nicht aufkommen, dafür aber eine bizarre Atmosphäre mit kafkaesken Anleihen, die an einen fiebrigen Traum erinnern und für subtilen Grusel stehen.

Die Geschichte „Der Schattenprinz“ der leider bereits verstorbenen Autorin Jasmin Carow fällt in eine ähnliche Sparte wie Heidrun Jänchens „Eine Viertelstunde Sonne“. Der Text ist kurz gehalten und wird mit poetischen Worten erzählt. Der sanfte, schöne Stil entschädigt für die etwas dünn geratene Handlung, die man noch intensiver hätte gestalten können. Was bleibt, ist eine Erzählung mit wehmütiger Atmosphäre, die man gerne gelesen hat. Sehr schön ist das sehr persönlich gehaltene Nachwort, das sich ausführlich der Autorin widmet.

„In der Dunkelheit Edens“ schildert die Beziehung zwischen dem Engel Samiel und Adams erster Frau Lilith sowie seinen dämonischen Fall. Ohne religiöse und mythologische Vorkenntnisse sorgt die Geschichte vermutlich vor allem für Verwirrung. Mit der entsprechenden Kenntnis liest sie sich unterhaltsam, vor allem durch die recht menschliche Darstellung der Engel und ihrem Verhalten untereinander. Die uralte Thematik ist allerdings eher für Liebhaber von Engels- und Mythengeschichten geeignet und lässt für Nichteingeweihte ein gewisses Flair vermissen.

„An der Großen Marina“ gehört zu den actionlastigen Geschichten des Bandes. Nur wenige Atempausen gönnt Matthias Falke seinen Lesern und ebenso seinen Charakteren in einer expressionistisch-kafkaesk anmutenden Erzählung, die etwas mehr Geradlinigkeit verdient hätte.

Viel Licht und viel Schatten bietet die aus Briefen bestehende Geschichte „Mein lieber Rene“ von Stephan Peters. Der Beginn ist verheißungsvoll, die Charaktere der beiden Hauptfiguren erscheinen lebendig durch ihre eigenen Schreibstile. Ein junges Paar, das eine räumliche Trennung durchmacht und sich schon sehr aufs Wiedersehen freut, scheint der positive Ausgangspunkt zu sein – doch nach und nach zeigt sich, dass der idyllische Schein bloß ein Trugbild ist. Bis dahin überzeugt die Geschichte, aber leider nimmt die Handlung einen sehr vorhersehbaren Lauf, der sich früh abzeichnet. Zu allem Überfluss wird der Leser gegen Ende beständig durch einen detaillierten Monolog Viktorias informiert, der leider komplett konstruiert wirkt und glaubwürdiges Verhalten vermissen lässt.

Auch wer nicht zu den regelmäßigen Science-Fiction-Lesern gehört, dürfte dem Großvater-Paradoxon, mit dem sich Wilko Müllers gleichnamige Geschichte befasst, bereits begegnet sein. Weitere Vorkenntnisse sind nicht notwendig, um der Handlung zu folgen; auf Fachchinesisch wird angenehmerweise verzichtet und der Plot verläuft in einem kompakten Rahmen. Der Schluss bringt zwar keine große Überraschung mit sich, aber solide Unterhaltung ist garantiert.

Die zweite Zeitreisegeschichte in diesem Band bietet ein weiteres Highlight. Sehr vergnüglich und kurzweilig wird mit einem eigentlich altbekannten Thema umgegangen. Hin und wieder übertreibt es der Autor Achim Stößer mit den humorvollen Einlagen, sodass die Geschichte einen satirischen Unterton erhält, etwa wenn der Protagonist in jeder noch so prekären Lage einen flotten Spruch auf den Lippen hat. Dennoch überzeugt die Story im Ganzen und bietet dem Leser gute Unterhaltung, auch für Nicht-Kenner der Science-Fiction. Etwas unglücklich ist die direkte Anordnung von zwei Zeitreisegeschichten hintereinander.

„Erbsünden“ von Silke Rosenbüchler entwirft eine technisch ausgefeilte, aber emotional kalte Zukunftswelt. Nach verwirrendem Einstieg braucht es knapp zwei Seiten, bis der Leser sich über die Situation im Klaren ist. Inhaltlich wie stilistisch wird solide Unterhaltung geboten, die leider nicht wie erwartet mit einer überraschenden Pointe endet, sodass ein Rest Unzufriedenheit zurückbleibt.

In „Eva“ präsentiert Alexander Amberg das Bild eines zerrütteten Protagonisten, ein Journalist mit Konflikten in allen Lebensbereichen, der sich schon bald von gefährlichen Kriminellen verfolgt sieht. Für die Kürze des Textes ist die Handlung recht überladen und raubt dem Leser die Konzentration auf einen Schwerpunkt. Durch das rasante Tempo, das die Geschichte anschlägt, lässt sich die Story rasch lesen; unterm Strich hätte sie jedoch etwas mehr Stringenz und Klarheit vertragen können.

„Die Stadt der Träume“ entführt in das Reich der Fantasy. Die Geschichte besticht durch eine originelle Idee, die auf ein ungewisses Ende hinsteuert und den Leser dadurch bis zum Schluss fesselt. Anklänge an „Die unendliche Geschichte“ werden wach, wenn sich zwei Welten miteinander vermischen und ein kleiner Junge dabei eine große Rolle spielt. Während die Handlung überzeugt, sind vor allem die Stellen, die in der Stadt Er’Ylin spielen, übertrieben schwülstig geschrieben, sodass der Stil einer Eingewöhnung bedarf.

Der „Eros hinter dem Vorhang“ von Natalia Andreeva ist eine anspruchsvolle Geschichte über das außergewöhnliche und letztlich auch fatale Verhältnis einer Bruder-Schwester-Beziehung. Nach einer kurzen Orientierungsphase werden die grundverschiedenen Charaktere der beiden Geschwister vor den Augen des Lesers lebendig und man nimmt Anteil an der Gedankenwelt der Ich-Erzählerin und ihrem von Hassliebe geprägten Leben. Freunde von wortgewaltigen und poetischen Texten kommen dabei auf ihre Kosten, während der Rest sich von der Komplexität von Inhalt und Stil überladen fühlen könnte.

In Charlottes Engmanns Geschichte geht es im wahrsten Sinn „Um Kopf und Kragen“, denn was als skurrile Handlung beginnt, nimmt bald böse Formen an. Die Story besticht durch eine gelungene Mischung aus Humor und fieser Pointe, lässt sich leicht herunterlesen und setzt den vielen melancholisch gehaltenen Geschichten mal eine andere Grundstimmung entgegen.

Horrorfreunde werden in „Audio!“ gut unterhalten. Die unheilvolle Stimmung begleitet den Leser bis zum konsequenten Ende hin. Die Geschichte ist eine Mischung aus bewährten Gruselelementen und Wissenschaftshorror, dabei solide und flüssig geschrieben.

Mit „Der Tausendäugige“ von Herausgeber Frank W. Haubold, dem amerikanischen SF-Autor A. E. van Vogt gewidmet, hält eine Hard-Science-Fiction-Geschichte Einzug, die für unerfahrene Leser des Genres sicher keine leichte Kost ist. Dennoch lohnt es, sich auf den komplexen Text einzulassen, der von Beginn an ein unterschwellig bedrohliches Flair aufbaut, das sich für Charaktere ebenso wie für den Leser im weiteren Verlauf intensiviert. Kleine persönliche Spitzen zwischen Liza und Nik sorgen für subtile Auflockerungen, die die Erzählung davor bewahren, aufgrund der vielen wissenschaftlichen Details zu trocken zu geraten.

„Das Fest der Einzelteile“ von Stefan E. Pfister zeigt erneut eine hochtechnologisierte Zukunft, die von grausigen Hintergründen überschattet wird. Die morbiden Schilderungen geben der Geschichte ihren grotesken Charakter, der einerseits blutige Details enthält und andererseits satirisch überhöht ist. Der makabere Unterton versteht zu unterhalten, die Pointe allerdings hinterlässt einen eher blassen Eindruck.

Der „Kurze(r) Zwischenbericht zur Evolution“ von Wolfgang G. Fienhold entpuppt sich als prägnante und sehr humorvolle Geschichte über das Leben der Neandertaler, der man die routinierte Erfahrung ihres vielveröffentlichten Autors anmerkt. Die kurze Erzählung, die sich nicht zu ernst nimmt, ist mit viel Wortwitz gespickt, wenn auch die modern-satirischen Anklänge teilweise übertrieben werden und manche Zote zu bemüht wirkt. Eine nette Pointe rundet das kleine Werk ab, das den Leser auf amüsante Weise gut unterhält.

Malte S. Sempten liefert mit seiner zweiseitigen Vignette die kürzeste Geschichte des Bandes und zugleich eines seiner Frühwerke ab. Der Text wird flott erzählt, ist aber ganz auf die Pointe ausgerichtet, die zwar nicht schlecht ist, aber keinen bleibenden Eindruck hinterlässt. Aufgrund der Kürze erwartet der Leser allerdings wohl auch kaum ein nachhaltiges Machwerk, sodass man von einem kurzen, wenn auch nicht weiter beeindruckenden Zeitvertreib sprechen kann.

Sabine Mehlhaffs „Spielmann“ ist eine flüssig erzählte und atmosphärisch dichte Variante der bekannten Rattenfänger-Sage. Auch wenn der Grundplot altbekannt ist, liest sich die Erzählung unterhaltsam und bleibt bis zum Schluss spannend, da die Autorin es versteht, die berühmte Geschichte mit eigenen Elementen zu füllen.

Niklas Peineckes „Sternenzerstörer“ bildet den düsteren Abschluss der Anthologie und steht somit sinnbildlich für die beklemmende Stimmung, die den Großteil der Erzählungen ausmacht. Auch wenn die Charaktere etwas an Intensität vermissen lassen, besitzt der Inhalt viel Potenzial, um den Leser zu beschäftigen und nachdenklich werden zu lassen.

_Unterm Strich_ bietet die Anthologie ein enorm breites Spektrum der Phantastik, die wie alle Geschichtensammlungen Höhen und Tiefen bereithält, insgesamt aber für alle Freunde der phantastischen Literatur zu empfehlen ist. Die Mischung setzt sich aus jungen Talenten und erfahrenen Autoren zusammen, die verschiedene Thematiken und Stile aufbieten können. Eine wirklich schlechte Geschichte ist nicht vertreten, dafür aber einige Höhepunkte, die sich durch originelle Umsetzungen, ansprechenden Stil und intensive Atmosphäre auszeichnen. Von Humor bis zur Melancholie und purem Horror sind alle Stimmungen vertreten, sodass Abwechslung garantiert wird. Zwar sind in fast jeder Geschichte ein paar Tippfehler vorhanden, die sich aber lediglich auf Satzzeichen beziehen und daher beim Lesen so gut wie gar nicht auffallen. Erfreulicherweise setzen die Science-Fiction-lastigen Geschichten überwiegend keine große Sachkenntnis auf diesem Gebiet voraus, auch Einsteiger werden also ihre Freude daran haben. Die Schwarzweiß-Illustrationen von Gabriele Behrend erinnern durch ihren expressionistisch-surrealistisch anmutenden Stil meist an Traumsequenzen und unterstreichen den phantastischen Gehalt der Geschichten.

_Der Herausgeber_ Frank W. Haubold, Jahrgang 1955, studierte Informatik und Biophysik. Seit 1989 veröffentlicht er in unterschiedlichen Genres. 1997 erschien sein Episodenroman „Am Ufer der Nacht“. Weitere Werke sind u. a. die Geschichtensammlungen „Der Tag des silbernen Tieres“ (mit Eddie M. Angerhuber), „Das Tor der Träume“ und „Das Geschenk der Nacht“. Parallel dazu gab er mehrere Anthologien heraus.

Pears, Iain – Urteil am Kreuzweg, Das

England, 1663, zur Zeit der Restauration. Oliver Cromwell ist tot, Charles II., Sohn des von Cromwell geköpften Charles I., ist an der Macht. Der Friede ist nur oberflächlich, noch immer herrscht großes Misstrauen zwischen Puritanern und Royalisten, zwischen Katholiken und Anglikanern. Marco da Cola ist ein junger Gentleman und Kaufmannssohn aus Venedig, der Arzt werden will und zunächst in den Niederlanden und anschließend in Oxford studiert. Ein Empfehlungsschreiben bringt ihn zum bekannten Progfessor Boyle, und der junge Mediziner Richard Lower wird bald zu da Colas engstem Vertrauten in England. Sein erster Patient ist eine alte Frau von ärmlicher Herkunft, die sich ein Bein gebrochen hat. Ihre Tochter Sarah wird wenig später als Mörderin verhaftet. Sie soll den Arzt Dr. Grove, Mitglied des ehrenwerten New College, vergiftet haben und wird dafür gehenkt. Obwohl da Cola das Mädchen für seinen Mut und Eigensinn zeitweilig bewunderte, schließt er seinen Reisebericht mit der Überzeugung, dass sie den Mord tatsächlich begangen hat.

Doch es gibt auch gegenteilige Ansichten. Jack Prescott, der mit de Cola Bekanntschaft schloss, sieht die Dinge ganz anders. Sein verschwundener Vater gilt als Verschwörer, der die Royalisten an Cromwell verraten haben soll. Prescott glaubt an seine Unschuld und die Suche nach der Wahrheit brachte ihn sogar zeitweilig ins Gefängnis, aus dem er mit einer List entfliehen konnte. Er findet Marco de Cola zwar recht sympathisch, schenkt seinem Bericht aber keinen Glauben und legt stattdessen seine Sicht der Ereignisse um den Mord an Dr. Grove und die Hinrichtung von Sarah Blundy schriftlich dar.

John Wallis liefert den dritten Bericht ab, der wieder eine andere Sicht offenbart. Wallis ist ein großer Mathematiker, Professor an Oxford und Spezialist für Geheimschriften. Früher arbeitete er als Kryptograph für Oliver Cromwell, heute steht er im Dienst des Königs. Mit großer Verachtung für Marco da Cola, den er eines Komplotts beschuldigt, schreibt er über die politischen und gesellschaftlichen Verstrickungen, die in Verschwörung und Verrat münden. Der vierte Bericht stammt vom Archivar Anthony Wood, ein kauziger Junggeselle, der für eine überraschende Wendung sorgt, die den Kreis um die widersprüchlichen Darlegungen schließt …

_Vier Ansichten und ein Todesfall_

Ian Pears entführt den Leser in eine turbulente Epoche. England befindet sich im Um- und Aufbruch, politische Verschwörungen und Ränkeschmiede bestimmen das Bild, Fremde misstrauen einander und der allmähliche Einzug der Aufklärung prallt gegen traditionelle und von Aberglauben beherrschte Denkweisen.

|Vier Erzähler, vier Wahrheiten|

Der besondere Clou dieses Mammutwälzers von über 900 Seiten liegt in der Präsentation vierer Sichtweisen, die den gleiche Vorfall behandeln und doch unterschiedlicher kaum sein könnten, was auch für die Charaktere der Berichterstatter gilt. Den Anfang macht Marco da Cola, der auch gleich den amüsantesten Bericht abliefert. Marco da Cola ist ein Fremder in England, ein Italiener, der mit viel Staunen und Befremden die Gepflogenheiten der Engländer kennen lernt. Mit Schaudern beschreibt er die Essensgewohnheiten des Landes, die ihm ein ums andere Mal Magenschmerzen verursachen, mit Kopfschütteln kommentiert er die Angewohnheiten und Bräuche seiner Gastgeber, verfolgt fassungslos ein Theaterstück, das jeder seiner Vorstellungen von Kultur widerspricht, und wird nicht müde, die Gepflogenheiten Englands mit denen seiner Heimat zu vergleichen. Der distanzierte Leser schmunzelt öfters über diese Ansichten und die Missverständnisse, die sich aus den verschiedenen Mentalitäten ergeben; nicht zuletzt auch über Nebencharaktere wie John Lower, der ständig eifrig bemüht ist, an Leichen für seine medizinischen Untersuchungen zu gelangen und dabei wenig feinfühlig vorgeht. Da Cola versteht es trotz seiner Fremdheit, sich in seinem Umfeld Sympathien zu verschaffen und sich einigermaßen zu etablieren. Dem Leser erscheint er in seinem Bericht als humorvoller und durchaus glaubwürdiger Erzähler, wenn man auch manchmal ein wenig spöttisch über seine gezierte Art lächeln muss. Gut nachvollziehbar ist sein zwiespältiges Verhältnis zu Sarah Blundy, die ihn einerseits beleidigt und die andererseits nicht nur da Cola durch ihren Stolz, ihre Intelligenz und ihre Willenskraft beeindruckt.

Der zunächst plausible Bericht da Colas wird erheblich geschwächt durch die folgenden Sichtweisen. Sowohl Prescott als auch John Wallis und Anthony Wood bezweifeln einige seiner Aussagen und stellen die Ereignisse jeder in ein anderes Licht. Prescott bezichtigt Sarah Blundy der Hexerei und lässt seinen fast wahnhaften Vorstellungen, die von der verzweifelten Suche nach der Wahrheit über seinen Vater verstärkt werden, freien Lauf. Der geniale wie hinterhältige John Wallis macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber da Cola und hebt die Geschichte in den Stand eines großangelegten Komplotts, das sich um höchste politische Kreise dreht. Als Leser rätselt man hin und her, welchem der Erzähler man am besten Glauben schenken soll, denn jeder von ihnen bringt Argumente vor, doch scheinen all die Berichte nicht in Einklang zu bringen zu sein. Erst durch die abschließende Darlegung von Anthony Wood, den zurückhaltenden Archivar, gelangt Licht in die Angelegenheit – und den Leser erwartet nicht nur Klärung, sondern auch eine große Überraschung. Auch für erfahrene Leser von Krimis und ähnlich knifflig angelegten Werken, die zum Mitdenken auffordern, werden die finalen Enthüllungen sicherlich Verblüffung in mehrfacher Hinsicht mit sich bringen, wenn sich gewisse Dinge als völlig anders als zunächst dargestellt präsentieren, und letztlich auch Erleichterung, dass sich der Kreis endlich schließt.

|Bunter Detailreichtum|

Über den Plot hinaus präsentiert sich dem Leser ein ungemein detailgenaues Sittengemälde der Restaurationszeit mit all seinen positiven wie negativen Facetten. Die angespannte politische Lage, die Vorgeschichte um Cromwell und die Folgen seiner Regierung werden ebenso aufgezeigt wie das Leben der verschiedenen Stände, von den adligen Kreisen bis hin zu den Ärmsten der Armen, zu denen die Blundys zählen. Der epische Umfang des Buches ergibt sich nicht nur aus den präzisen Darstellungen der zentralen Ereignisse, sondern auch aus den Schilderungen des alltäglichen Lebens, inklusive Exkurse in die Bereiche der Philosophie oder der Medizin. Vor allem beim geschwätzigen Marco da Cola erfährt der Leser über etliche Seiten hinweg genaue Informationen zum Stand der damaligen Wissenschaft. Mal mit Abscheu und mal mit Faszination verfolgt man die teils abergläubischen und teils gewagt fortschrittlichen Ansichten und Experimente. Einerseits glauben selbst gelehrte Bürger noch an Tierexkremete als Salbenersatz, andererseits wagen Marco da Cola und sein Freund und Kollege John Lower ohne Kenntnisse über Blutgruppen in einer Zeit, in der der Aderlass noch populär war, Experimente mit Bluttransfusionen. Zartbesaitete Leser müssen sich darauf gefasst machen, dass hier nicht mit sinnlichen Eindrücken gegeizt wird, etwa bei medizinischen Behandlungen oder auch bei Details zum Sezieren von Leichen. An anderer Stelle wird man wiederum zu einem passiven Teilnehmer an spitzfindigen, seitenlangen Diskussionen über philosophische, religiöse und medizinische Aspekte, die das Denken der damaligen Zeit auf den Punkt bringen. Ein besonderes Schmankerl bilden die zahlreichen historischen Personen, die in die Handlung eingeflochten werden. Im Anhang nimmt der Autor sich die Zeit, zu den wichtigsten Figuren ein paar Sätze zu schreiben, die dem Leser sagen, ob sie fiktiv oder historisch sind. Neben den einst realen Ich-Erzählern John Wallis und Anthony Wood begegnen wir unter anderem dem Theologen Thomas Ken, dem „Vater der Chemie“ Robert Boyle und dem Philosophen John Locke. Sarah Blundy und Jack Prescott dagegen sind zwar fiktive Gestalten, besitzen jedoch historische Vorbilder, an deren Schicksal sich ihre Charaktere anlehnen.

|Langatmige Stellen|

Allerdings sind ein langer Atem und viel Geduld die Voraussetzungen, damit man dieses Epos nicht vorzeitig zur Seite legt. So interessant und vielfältig die Geschehnisse auch sind, der übermäßige Detailreichtum übertreibt es mitunter. Die Sprache der Erzähler ist gestelzt, es werden altmodische und ausschweifende Formulierungen verwendet. Viele der Nebenschauplätze sind unangemessen ausführlich gestaltet, doch ein Überfliegen wäre riskant, da man sonst Gefahr läuft, wesentliche Aspekte zu überlesen. Schwierig mag es auch sein, ganz ohne Vorkenntnisse der Epoche an den Roman heranzutreten. Die Anhangsinformationen über die zentralen politischen Gestalten reichen beileibe nicht aus, um sich klar zu werden über die Situation in England und Europa. Grundlegende Hintergründe zu Stichworten wie Oliver Cromwell, englischer Bürgerkrieg, die Konfrontationen zwischen König und Unterhaus sowie zwischen Katholiken, Presbyterianern, Puritanern und Anglikanern sollten bekannt sein, da das Lesevergnügen sonst getrübt wird. Mit jedem weiteren Erzähler ist es zudem schwierig, den Überblick zu behalten über Lüge und Wahrheit. „Das Urteil am Kreuzweg“ ist definitiv kein Buch, das man nebenbei im Urlaub lesen kann, sondern es gehört zu den Werken, die den Leser fordern und die die eine oder andere kleine Durststrecke mit sich bringen.

_Als Fazit_ bleibt ein sehr vielschichtiger Historienkrimi aus dem 17. Jahrhundert, der durch detailgenaue Anschaulichkeit und gekonnte Verstrickungen bis zum überraschenden Schluss besticht. Vier verschiedene Erzählperspektiven garantieren Abwechslungen, fordern aber auch Geduld vom Leser ab, ebenso wie der ausgeschmückte Stil und die zahlreichen Abschweifungen. Sehr gekonnt werden viele historische Persönlichkeiten in die Handlung eingebunden. Trotz eines kleinen Anhangs mit Erläuterungen sind Vorkenntnisse zur Epoche jedoch fast unabdinglich für das Lesevergnügen.

_Der Autor_ Iain Pears, Jahrgang 1955, studierte in Oxford und arbeitete anschließend als Journalist, Kunsthistoriker und Schriftsteller. Sein Spezialgebiet sind historische Kriminalromane. Weitere Werke sind unter anderem „Scipios Traum“ und „Die makellose Täuschung“.

http://www.heyne.de

|Originaltitel: An instance of the fingerpost
Originalverlag: Diana HC
Aus dem Englischen von Edith Walter, Friedrich Mader
Taschenbuch, 928 Seiten, 12,0 x 18,7 cm|