Simon Beckett – Die Chemie des Todes

Das geschieht:

Einst war er einer der führenden forensischen Mediziner Englands: David Hunter hat sie alle übertroffen, wenn es galt, einem modernden Mordkadaver die Geheimnisse seines Todes zu entlocken. Dann kam seine Familie durch einen Unfall um, was Hunter beruflich und privat aus dem Gleis warf. Er floh aus der Großstadt und zog als einfacher Landarzt in dem kleinen Dorf Manham in der englischen Grafschaft Norfolk.

Die Tage des selbst gewählten Exils gehen zu Ende, als in einem Wäldchen die übel zugerichtete Leiche von Sally Palmer gefunden wird: traktiert mit scharfen Messern und mit Schwanenflügeln dort, wo eigentlich nur Schulterblätter sein sollten. Chief Inspector Mackenzie findet wenige Spuren aber David Hunter, der ihn bei seinen Ermittlungen unterstützen soll. Als dieser sich weigert, traktiert ihn der mürrische Polizist so lange, bis Hunter nachgibt.

Den Ausschlag dafür gibt das Verschwinden von Lyn Metcalf. Nicht nur Mackenzie fürchtet, dass der unbekannte Mörder die junge Frau in seine Gewalt gebracht hat. Ein Wettlauf auf Leben und Tod beginnt. Die Suche im dichten Wald um Manham ist gefährlich, denn der Kidnapper hat überall Schlingen aus- und Fallgruben angelegt. Im Dorf schwingt sich der fanatische Law-and-Order-Pfarrer Scarsdale zum Sprecher der Furchtsamen und Misstrauischen auf. Eine Bürgerwehr wird aufgestellt, die mehr Schaden anrichtet als zu schützen.

Für Dorffremde und Außenseiter wird das Leben in Manham ungemütlich, denn die braven Bürger suchen Sündenböcke. Alte Rechnungen werden bei dieser Gelegenheit gleich mit beglichen. Auch Hunter kommt ins Gerede, hält aber aus: Der Mörder hat sich ausgerechnet seine neue Freundin geschnappt, welcher das bekannte Ende droht, wenn es nicht endlich gelingt, die kärglichen Beweise so zu deuten, dass dem Täter Einhalt geboten werden kann …

Schon wieder der beste Thriller?

„Die Chemie des Todes“ ist als Roman nicht so interessant wie der Konflikt, der sich in der Kritik um ihn entzündet hat. Der nüchterne Tatbestand ist für den erfahrenen Krimileser rasch klar: Dies ist ein solider Thriller um bizarre Serienmorde und unterhaltsam dargebotene Ermittlungstechniken, der – verschnitten mit dem üblichen Quantum Seifenoper – dem Genre weder nützt noch schadet.

Ruhig und bei langsamem Aufbau der Spannung erzählt Autor Beckett eine Story, wie sie die Liebhaber klassischer britischer Krimis normalerweise lieben und die in jedem Jahr zu Dutzenden – meist als Taschenbuch mit gesichtslosem Bildstock-Einheitscover – auf den Buchmarkt geworfen werden.

Den Unterschied macht offensichtlich das Getöse der Werbetrommeln, die für „Die Chemie des Todes“ gerührt wurden. Längst sind bei den Verlagen sämtliche Hemmungen gefallen, noch der übelste Mist wird nicht nur gedruckt, sondern auch in Superlativen angepriesen. Man fällt als Leser darauf herein und ist verstimmt. Trotzdem ist es ungerecht, dass ausgerechnet der arme Simon Beckett die Zeche zahlen soll.

Der Tod kann sehr lebendig sein

Zur Klage gibt es selbstverständlich Anlass. Wieso wählt der Autor als Hauptfigur einen forensischen Anthropologen, wenn er für die Handlung recht wenig Kapital daraus schlägt? Oder sind wir Leser alle bereits so CSI- & Scarpetta-geschädigt, dass wir ohne Seziersaalbabbel und labortechnischen Overkill etwas vermissen? Beckett lässt Hunters Beruf sehr wohl in die Handlung einfließen: angenehm zurückhaltend allerdings und primär dort, wo seine Erkenntnisse zur Geschichte beitragen, wie der Verfasser entschied sie zu erzählen.

Dazu gehört auch der gemächliche Einstieg ins kriminalistische Geschehen. „Die Chemie des Todes“ ist einerseits kein Actionthriller und andererseits Auftakt zu einer Serie mit David-Hunter-Romanen. So nimmt sich Beckett die Zeit diese Figur und ihre von tiefen inneren Konflikten geprägte Geschichte sorgfältig aufzubauen bzw. zu erzählen, während sich der kriminalistische Handlungsstrang erst nach und nach in den Vordergrund schiebt. Selbstverständlich gehört die vorsichtige Annäherung ans weibliche Geschlecht zu Hunters Gesundungsprozess, und natürlich ist es das Objekt seiner neu erwachten Begierde, das dem Mörder in die Finger gerät: „Die Chemie des Todes“ ist wie schon angedeutet ein konventionell geplotteter Thriller.

David Hunter trägt zwar einen sprechenden Namen, benimmt sich jedoch ganz und gar nicht wie ein Jäger. Beckett schildert ihn als gebrochenen Mann, der nach einer persönlichen Tragödie aus seinem psychisch anstrengenden Job als Gerichtsmediziner aussteigt und in der Stille der Provinz einen Neuanfang versucht. Die damit verbundenen Schwierigkeiten schildert der Verfasser überzeugend aber ohne das Seelendrama neu zu erfinden.

Todes-Experte kehrt ins Leben zurück

Hunter ist kein Sherlock Holmes des 21. Jahrhunderts, der sich eifrig über faulige Leichen beugt, um sie unter Präsentation angenehm ekliger Überraschungen zu ‚lesen‘, sondern ein verstörter und störrischer Zeitgenosse, der sich zudem gegen die Rolle des zentralen Handlungsträgers sträubt. Tatsächlich wehrt er sich gegen alles, das den mühsam geschaffenen Panzer aus Routine und Gleichgültigkeit zerbrechen könnte. Eine blitzartige Wiedergeburt als spürgewaltiger Schnüffel-Forensiker wäre deshalb reichlich unglaubwürdig.

Beckett mag kein Neuerer sein aber er bemüht sich wenigstens, allzu ausgefahrene Geleise zu vermeiden. Sein Manham ist kein Sammelbecken ulkig-wirrer Dorftypen oder -trottel, die in so vielen „Whodunits“ den Hintergrundchor abgeben müssen. Das Verderben kommt über eine Gemeinde, der Harmonie stets ein Fremdwort war. In der Krise bildet sich keine Gemeinschaft; stattdessen bilden sich Gruppen, die einander argwöhnisch belauern und höchstens in ihrer Hatz auf verdächtige Außenseiter einig sind: Selbst die Bürger von Manham unterliegen im 21. Jahrhundert dem alten Irrglauben, dass auf dem Land Frieden dort herrscht, wo in der Stadt das Böse regiert.

Pfarrer Scarsdale ist das Sprachrohr für die gleichzeitig Ängstlichen und Aggressiven. Leider ist diese Figur Beckett zum Zerrbild missglückt. Er wirkt wie ein frühneuzeitlicher Hexenjäger, der im Namen des HERRN seinen persönlichen religiösen Fundamentalismus nährt. Selbst in der Provinz dürfte es indes kaum mehr möglich sein ‚normale‘ Menschen auf diese Weise in einen hysterischen Lynchmob zu verwandeln. Beckett merkt es selbst und lässt diesen Handlungsstrang unauffällig versanden.

Der Mörder muss einer der Manham-Bewohner sein – so verlangt es die Regel. Wer es sein könnte, dämmert dem Leser eventuell ein wenig zu früh; Beckett verteilt in dieser Hinsicht großzügig Hiebe mit dem Zaunpfahl. Ansonsten hält sich der Verfasser auch hier an die Konventionen, die einen Irrsinnigen fordern, der rasch und gnadenlos killt und erst im Finale vom Drang erfasst wird, sich dem Helden in einem wahren Redeschwall zu offenbaren. Kein Wunder, dass es so mit dem perfekten Mord nichts wird. Wiederum gilt freilich: Beckett mutet seinem Publikum nichts Schlimmeres zu, als es bereits gewöhnt ist. Wer sich ohne große Vorab-Erwartungen an die Lektüre begibt und die Dreist-Werbung ignoriert, wird durchaus seinen Lese-Spaß finden.

Autor

Simon Beckett (geb. 1968) versuchte sich nach Abschluss eines Englischstudiums als Immobilienhändler, lehrte Spanisch und war Schlagzeuger. 1992 wurde er freier Journalist und schrieb für bedeutende britische Zeitungen wie „Times“, „Daily Telegraph“ oder „Observer“. Im Laufe seiner journalistischen Arbeit spezialisierte Beckett sich auf kriminalistische Themen. Als Romanautor trat Beckett zuerst 1994 an die Öffentlichkeit, doch deren breite Aufmerksamkeit fand er erst mit den Romanen um den Forensiker David Hunter (ab 2006). Allerdings wurde Beckett bereits für „Animals“ (1995, dt. „Tiere“) mit einem „Raymond Chandler Society’s Marlowe Award“ für den besten internationalen Kriminalroman ausgezeichnet.

Mit seiner Familie lebt Simon Beckett in Sheffield. Über sein Werk informiert er auf dieser Website. Interessant ist, dass er seine vier zwischen 1994 und 1998 veröffentlichten (und inzwischen auch in Deutschland erschienenen) Romane unerwähnt lässt.

Taschenbuch: 431 Seiten
Originaltitel: The Chemistry of Death (London : Bantam Press 2006)
Übersetzung: Andree Hesse
http://www.rowohlt.de

eBook: 530 KB
http://www.rowohlt.de

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