David Day – Tolkiens Welt: Die mythologischen Quellen des „Herrn der Ringe“


Literarischer Härtefall: nur für Tolkien-Fans

Der Untertitel der Buches weist bereits darauf hin, um was es geht: „Die mythologischen Quellen des ‚Herrn der Ringe'“ – wohlgemerkt nicht um die des „Kleinen Hobbits“. Ironischerweise stellt jedoch das Titelbild eine Schlüsselszene aus dem „Hobbit“ dar: Bilbo Beutlin aus dem Auenland steht vor Smaug, dem Goldenen Drachen, der auf einem Berg aus Gold liegt. Obwohl Bilbo ja eigentlich unsichtbar sein sollte, da er ja den Einen Ring trägt. Manchmal haben nicht nur Künstler (in diesem Fall Tim Clarey), sondern auch Verlage ausgefallene Vorstellungen davon, um was es in einem Buch geht.

Der Zweck des Buches

Wie auch immer: Das Buch soll den Zeitgenossen, der sich beispielsweise aufgrund der drei Filme für Tolkiens Hauptwerk „Der Herr der Ringe“ interessiert, auf das vorbereiten, was ihm an Ideen darin begegnet. Dazu gehören nicht nur die besagten mythologischen Quellen, sondern auch die geschichtlichen, literarischen und sprachwissenschaftlichen – Tolkien war in Oxford ja bekanntlich nicht nur Schrift-, sondern vor allem Sprachgelehrter. Er beherrschte fließend die nordischen Sprachen vom Altisländischen und Gotischen bis zum Altgermanischen und Mittelenglischen. Das altenglische Heldengedicht „Beowulf“ hat Tolkien selbst übersetzt (das Manuskript wurde erst 2003 gefunden). „Beowulf“ hat die Darstellung Rohans maßgeblich beeinflusst.

Der Autor

David Day hat sich auf die quasi populärwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mythologie, Geschichte, Fantasy und Lyrik spezialisiert. Von ihm stammt nicht nur die prächtig illustrierte „Tolkien-Enzyklopädie“, sondern auch eines der wenigen Bücher, dass ausschließlich Hobbits erklärt. Dieses erschien allerdings im Gerstenberg-Verlag.

Inhalte

Die Einteilung der rund 180 Seiten folgt sinnvollerweise der Chronologie, in der sich Tolkiens erfundenes Universum (seit seiner Erfindung 1913/14) entwickelt, bis das Vierte Zeitalter anbricht. Die ersten Ereignisse, die im „Silmarillion“ beschrieben sind, beginnen daher mit der Entstehung der Schöpfung, der Existenz eines göttlichen Schöpfers, der Schaffung einer zentralen Welt, der Gestirne und schließlich der semigöttlichen Mächte: der Ainur, der Valar und schließlich der Maiar (in absteigender Rangordnung).

Diese Ereignisse aus dem „Zeitalter der Schöpfung“ sind in die zwei Kapitel „Herren des Friedens“ und „Herren des Chaos“ aufgeteilt. Hier schon taucht der Verderber auf: Melkor, von den Elben Morgoth genannt, dessen größter Diener später der Maia Sauron wurde. Erstmals tauchen Balrogs und andere Ungeheuer auf.

Hierauf folgt das „Zeitalter der Sterne“, denn Sonne und Mond sind noch nicht geschaffen. Dies ist die Entstehungszeit der Elben, Zwerge und Ents. Die Elben wandern nach Valinor und begegnen dort den Valar und Maiar, wohingegen die Zwerge und Ents Valinor niemals sehen. Diese Ära ist in „Mächte des Lichts“ und „Mächte der Dunkelheit“ aufgeteilt. Zu letzteren gehören Orks, Drachen und Trolle.

Das „Zeitalter der Sonne“ ist die Ära, als endlich die Menschen auftauchen. Im Ersten Zeitalter heißen sie die Edain, im Zweiten Númenorer und im Dritten Dúnedain (Menschen des Westens). Erst auf Seite 110 beginnt in drei Kapiteln jene Zeit, die den meisten Tolkien-Lesern bekannt vorkommt: die Zeit des Ringkrieges.

Zu den „Vermittlern und Abgesandten“ gehören nach Meinung des Autors nicht nur die fünf Zauberer oder Istari, sondern auch die Hobbits. Gemeint sind im engeren Sinne die vier Hobbits unter den neun Gefährten. Sodann zählt das zweite Kapitel die furchtbaren „Sklaven des Ringherrschers“ auf: Ringgeister, Grabunholde (zwischen Auenland und Bree, nicht im Film) und Gollum. Sie alle setzen der Mission der neun Ringgefährten heftig zu.

Den krönenden Abschluss bildet das Kapitel „Das Bündnis freier Menschen“. Der Autor beschreibt das Nordreich von Rhovanion (Beorninger und Menschen von Thal), die Reiter von Rohan (die ursprünglich ebenfalls aus dem oberen Anduin-Tal stammen), die Menschen von Gondor (ursprünglich aus dem untergegangenen Númenor kommend) und schließlich „Das Wiedervereinigte Königreich der Dúnedain“ unter der Herrschaft König Aragorns II,. genannt Elessar Telcontar. Mit ihm beginnt das Vierte Zeitalter, das der Menschen.

Das Buch enthält laut Verlag „über 100 Illustrationen namhafter Fantasykünstler“. Ich habe nicht nachgezählt, aber zu der Auswahl, der Namhaftigkeit und vor allem dem Index gibt es doch einiges zu sagen. Dazu unten mehr.

Mein Eindruck

Days Verfahren ist recht einfach, erfordert aber einen hohen Kenntnisstand auf seiner Seite: Er betrachtet ein von Tolkien erfundenes Phänomen – meist ein Wesen – und setzt es in Zusammenhang mit den bereits historisch verbürgten Quellen in Literatur, Mythologie, Religion. Manche davon nutzte Tolkien ganz bewusst, so etwa das berühmte angelsächsische Epos „Beowulf“. Tatsächlich deutet Day den Roman „The Hobbit“ als quasi verniedlichte Form des „Beowulf“, die sich auch für Kinder eignet. Und an dieser Deutung ist etwas dran. Seine Beweisführung ist in den meisten Fällen schlüssig.

Die Krönung dieses komparitistischen Philologie-Verfahrens kann der Leser im Schlusskapitel bewundern: Hier vergleicht der Autor die Figur des Aragorn als Krieger-König mit zwei anderen eminent wichtigen Figuren in der abendländischen Heldenliteratur: mit König Artus und Sigurd dem Wälsungen (bei uns besser bekannt als „Siegfried der Drachentöter“). Artus ist der englische Nationalmythos, Sigurd der isländische und norwegische. Sie teilen sich mit Aragorn unzählige gemeinsame Merkmale, darunter das Leben im Exil, fern von Erbteil und Eltern, aufgezogen und ausgebildet von einem Ziehvater u.U. einem Zauberer), ausgestattet mit einem oder mehreren mächtigen Schwertern, das Vollbringen von Heldentaten, die Erlangung des ihm zustehenden Throns, die Erneuerung des Königreiches und Königtums zwecks Errichtung eines Friedensreiches.

Alle drei Sagengestalten und Tolkien-Figuren, so Days Argument, gehen a) auf Goten und Burgunder zurück und b) auf Karl den Großen. Der Westgote Theoderich ist der Dietrich von Bern der Sage. Die Burgunder, die gegen den Ansturm der Hunnen im 5. Jahrhundert untergingen, lieferten Stoff für zahlreiche Sagen. Karl der Große wurde zum Friedensfürsten, Einiger Europas und schließlich Kaiser. Außerdem hatte er in dem Engländer Alkuin von York einen klerikalen und vor allem weisen Ratgeber, der zahlreiche Reformen formulierte. Dabei zeigte Alkuin Charakterzüge von Gandalf, indem er sich ebenso als Gesandter einer höheren Macht offenbarte – bei Alkuin die des Papstes in Rom, bei Gandalf dem Weißen die der Valar, der göttlichen Mächte Mittelerdes.


Die Übersetzung

„Die Übersetzung von Hans J. Schütz ist an manchen Stellen leider etwas ungenau und stimmt nicht immer mit den Begrifflichkeiten in Tolkiens Werken überein.“ (Amazon.de) Und nicht nur das! Druckfehler und falsche Schreibweisen treiben dem Tolkienfan wie auch dem Korrektor gleichermaßen die Tränen in die Augen. Da heißt es auf Seite 47 doch tatsächlich „Graue Anfuhrten“ in der Überschrift, als ob der Übersetzer noch nie etwas von einer Furt gehört habe. Auf Seite 11 steht ein kurzer Satz mit zwei Verben – eines davon ist garantiert überflüssig.

Ein Fehler, der dem Autor anzulasten ist, findet sich jedoch auf Seite 48. Er ist gerade dabei, von den Schätzen der Noldor-Elben zu berichten und haut dem nichtsahnenden Leser die Fachbegriffe um die Ohren. Also zuerst hatten die Noldor die Palantiri oder Sehenden Steine, und dann jagte Feanor den geraubten Silmaril nach. Leider wird vorher an keiner Stelle erklärt, was bitteschön die Silmarils sind, warum sie so wichtig sind und was Feanor (ihr Schöpfer) mit ihnen zu tun hat. Offensichtlich fehlt hier ein kompletter Absatz, der uns etwas über die Silmarils berichtet.

Weitere Druckfehler übergehe ich geflissentlich. Das Beste zum Schluss: der Index der Illustrationen.

Nun hat ja ein Index die Aufgabe, dem Leser das Aufspüren und Zuordnen von Einträgen zu erleichtern. In diesem Fall kann man von jedem Künstler seine Bilder auf den eingetragenen Seiten finden. Denkt man. Ich habe mir den Spaß gemacht, das mal nachzuprüfen, und siehe da: Sieben der angegebenen Bilder fehlen, und ein Bild (S. 41, die Göttin Kali) hat überhaupt keinen zugewiesenen Künstler, also auch keinen Quellenhinweis. Eine Raubkopie?!

Zu deutsch: Der Käufer zahlt für sieben fehlende Bilder mit und bekommt auch noch ein möglicherweise illegales untergejubelt. Hoffentlich macht dieses Beispiel nicht bei Klett-Cotta Schule!

Von den aufgewählten Künstlern und Bildern sind die meisten bereits in den beiden oben erwähnten Büchern David Days zu sehen gewesen, es handelt sich also um Recycling von Seiten des Meisters.

Unterm Strich

Die Absicht war sicher edel, schön und gut, die englische Originalausgabe vermutlich auch, doch was die deutsche Ausgabe hier bietet, grenzt an eine Zumutung.

Meister Day ist ein kundiger und meist nachvollziehbar argumentierender Tolkien-, Literatur- und Mythenkenner. Sein Text bietet erhellende Einsichten. Allerdings nicht für Newcomer in Sachen Tolkien. Die Kenntnis von „Hobbit“, „Herr der Ringe“ und möglichst auch „Das Silmarillion“ (aber nicht unbedingt, denn Day erklärt die Entstehung und den Aufbau des darin skizzierten Universums) ist sinnvolle Voraussetzung für die Verwendung dieses Buches.

Fazit: Ein Buch für Fans, die auf keinen Titel der Tolkien-Fach- und Sachliteratur verzichten wollen oder können. Doch auch sie sollten überlegen, ob sie nicht mit dem englischen Original besser bedient wären.

Gebunden: 181 Seiten.
O-Titel: Tolkien’s World, 2003;
Aus dem Englischen übersetzt von Hans J. Schütz.
ISBN-13: 9783608936292
www.klett-cotta.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)