Gene Wolfe – Der Schatten des Folterers (Das Buch der Neuen Sonne 01)

Furioser Auftakt zu einem der besten Science-Fantasy-Zyklen

Eine Million Jahre in der Zukunft: Die Technik ist bis auf wenige Rest verschwunden. Die Menschheit fiel kulturell ins Mittelalter zurück und harrt der Ankunft der neuen Sonne, die ein neues Zeitalter herbeiführen soll. Nur die Mächtigsten bedienen sich noch Relikten von Technik und Wissenschaft, darunter Flugzeuge, Roboter und Orbitalstationen.

Dies ist die Geschichte Severians, eines Waisenjungen, der in der Zunft der Folterer aufwächst und dieses Handwerk erlernt. Doch als er eines Tages aus Mitleid einer Frau den Selbstmord gestattet, wird er aus dieser Zunft ausgestoßen. Doch anstatt selbst gefoltert und hingerichtet zu werden, schickt die Gilde ihn nach Thrax, einer weit entfernten Stadt, die einen Henker braucht. Severian macht sich auf eine Reise, die sein Leben für immer verändern wird … (Verlagsinfo)

Der Autor

Gene Wolfe ist einer der großen Stilisten der Science Fiction. Insbesondere seine Kurzgeschichten sind meisterlich feinsinnige Gratwanderungen zwischen Realität und Phantasie, die zum Nachdenken anregen. Zu seinen wichtigsten Story-Sammlungen gehören „The Island of Dr. Death and Other Stories“ (1980; s. meinen Bericht) sowie „Endangered Species“ (1989; s. meinen Bericht). Und natürlich das „Book of Days/Das Buch der Feiertage“ (1981; s. meinen Bericht).

Seine wichtigsten SF-Romane gehören den drei Zyklen um die Sonne an – die neue, die lange und die kurze:

DAS BUCH DER NEUEN SONNE

1) Der Schatten des Folterers
2) Die Klaue des Schlichters
3) Das Schwert des Liktors
4) Die Zitadelle des Autarchen
5) Die Urth der Neuen Sonne

DAS BUCH DER LANGEN SONNE

1) Die Nachtseite der Langen Sonne
2) Der See der Langen Sonne
3) Der Caldé der Langen Sonne
4) Der Exodus aus der Langen Sonne

THE BOOK OF THE SHORT SUN (unübersetzt)

1) On Blue’s Waters
2) In Green’s Jungles
3) Return to the Whorl

Weitere SF-Romane:

1) Frees Vermächtnis
2) Operation Ares
3) Der fünfte Kopf des Zerberus

Wichtige Fantasyromane sind:

1) MYTHGARTHR 1: Der Ritter (dt. bei Klett-Cotta)
2) MYTHGARTHR 2: Der Zauberer (dt. bei Klett-Cotta)
3) Soldat des Nebels (dt. bei Heyne; Band 1 eines Zyklus’ aus bislang 3 Romanen)
4) Peace (unübersetzt)
5) Der Teufel hinter den Wäldern (Bastei-Lübbe)

Handlung

Severian hat auf dem Friedhof seiner Heimatstadt Nessus eine folgenreiche Begegnung. Der junge Folterlehrling mit dem unfehlbaren Gedächtnis hat sich um Mitternacht ein paar Tunichtguten angeschlossen, die es auf Grabbeigaben usw. abgesehen haben. Freiwillige Wächter der Gräber lassen sie unfreiwillig durchs Friedhofstor, um angeblich einen Jungen zu jagen, der sich eingeschlichen hat. Doch so nahe am Gyoll-Fluss herrscht dichter Nebel, und Severian verliert die anderen Kumpel rasch aus den Augen, prallt in einen anderen Mann und stürzt.

So kommt es, dass er aus seinem Versteck zusieht, wie eine Frau namens Chatelaine Thea und ein Kämpfer namens Vodalus die Leiche einer jungen Frau aus einem Grabmal rauben. Als die Wächter unvermittelt auftauchen, stellt sich ihnen Vodalus entgegen, während die Adlige und ein Helfershelfer mit der Leiche flüchten. In den folgenden Kampf greift Severian nur ganz am Schluss ein, doch für seinen lebensrettenden Beistand drückt ihm Vodalus, dem er seine Unterstützung versichert, eine glänzende Münze in die Hand. Dann verschwindet er im Nebel. Mit seinem Beistand hat sich Severian unwissentlich auf die Seite der Aufständischen um Vodalus geschlagen, die den herrschenden Autarchen stürzen wollen.

Folterer

Die Zunft der Folterer, die sich offiziell „Wahrheitssucher und Büßer“ nennen, bewohnt den Matachin Turm der Alten Zitadelle. Alle Waisenmädchen und verstoßenen Frauen der Stadt landen nicht bei ihnen, sondern werden im sogenannten Hexenturm aufgenommen. Folterer sind daher alle männlich, ebenso wie Archivare oder Bilderreiniger. Einen solchen Archivar besucht Severian, um einen Brief seines Meisters zu übergeben. Er bringt vier alte Bücher mit, die eine neue Gefangene erbeten hat. Wie Severian in einem unerlaubten Gespräch mit dieser Frau herausfindet, ist Thecla die Schwester jener Chatelaine Thea , die er auf dem Friedhof gesehen hat. Und sie ist genauso schön und lieblich. Ohne es zu ahnen, ist der junge einsame Lehrling auf der Stelle in sie verliebt.

Durch die schöne, hochgewachsene Gefangene gerät der Waisenjunge in Kontakt mit der Welt des Autarchen, die er bislang nur vom Hörensagen kannte. Und durch die Lektüre der vier Bücher, die er mit ihr studiert, erlangt er ein tieferes Wissen über die Jahrtausende alte Vergangenheit der Urth, über die Theologie und die zahllosen Adelsgeschlechter des Reiches.

Verrat

Kurz nachdem er seinen Lehrlingsabschied gemäß der Zeremonie der Zunft gefeiert ist und sich nun Geselle nennen darf, ergeht der Befehl, Thecla der Folter zu unterziehen. Er darf den Befehl keinesfalls verweigern, aber auch Flucht ist unmöglich. Das Instrument der Pein ist kein gewöhnliches, sondern wird mit Elektrizität betrieben. Dieser „Revolutionär“ bewirkt etwas Schreckliches in Thecla: eine Spaltung ihres Organismus und ihrer Seele, wobei die dunkle Seite in absehbarer Zeit das helle Original auffressen wird.

In einem unbeobachteten Moment drückt ihr Severian ein gestohlenes Küchenmesser in die Hand, und schon bald gibt sie sich selbst den Tod. Severian gesteht, wird aber nicht zum Tode verurteilt. Seine „Verbannung“ sieht die Übernahme einer Scharfrichterstelle in der fernen nördlichen Stadt Thrax vor – in der Stadt der „fensterlosen Zimmer“. Zum Abschied schenkt ihm sein Meister ein ganz besonderes Schwert. Es heißt „Terminus est“ – „Dies ist die Trennlinie“.

Aufbruch

Die Reise aus der verfallenden Metropole hinaus aufs Land dauert mehr als zwei Tage. In einem Wirtshaus begegnet er dem kleinen Impresario Dr. Talos und seinem riesigen Kompagnon Baldanders – den wird er gegen Ende dieses Bandes wiedersehen. In einem Second-hand-Laden begegnet er der schönen Agia und ihrem Bruder Agilus, die gleich merken, dass mit Severian etwas nicht stimmt: Er muss sich verkleiden und sein überaus wertvolles Schwert verbergen. Ein Bote übergibt ihm im Laden eine Herausforderung zum Duell: Offenbar hat der junge Folterer einen Offizier beleidigt.

Die Bedingungen des Duells machen eine Odyssee durch den weitläufigen Botanischen Garten von Nessus nötig. Hier muss Severian eine ganz besondere Pflanze beschaffen, die nicht von dieser Welt stammt…

Mein Eindruck

Severian ist ein Held wie kaum ein anderer: Er verfügt über ein eidetisches Gedächtnis und kann sich an alles erinnern, was er erlebt hat, selbst von Kindesbeinen an. Deshalb gelingt es ihm, besonders die starken Charaktere in seinem Leben genau zu zeichnen: Lady Thecla, die ihm die feinere Lebens- und Denkungsart vermittelt, die alten Meister der Gelehrsamkeit, schließlich die verräterische Agia und die treue Dorcas. Frauen bestimmen sein Leben eindeutig, und das führt natürlich zu allerlei erotischen Verwicklungen.

Spuren der Antike

Ausgestattet mit einer scharfen Beobachtungsgabe und den mentalen Werkzeugen, Menschen einzuschätzen, schlägt sich Severian durch einen Mikrokosmos durch, der vorerst nur aus der Metropole Nessus besteht. Obwohl die Kulturstufe eher ans Mittelalter erinnert und viele Bezeichnungen ans antike Rom oder Athen, so wird dem Leser doch durch andere Details deutlich gemacht, dass die Ära, in der wir Nessus besuchen, weit in der Zukunft liegt. Es gibt Aliens, die man Cacogens nennt, von der man aber vorerst nur die Flora kennenlernt. Es gibt eine Menge Fluggeräte, die den Himmel über Nessus kreuzen, ohne dass ihr Antrieb beschrieben wird.

Aber am besten richtet sich der Leser gedanklich auf einer Kulturstufe zwischen dem alten Rom und Athen ein. Da ein Krieg geführt wird, verraten die Ausstattung der Streitkräfte und die Bezeichnungen der Militärränge, dass das alte Rom hier Pate gestanden hat. Bei nicht überlieferten Phantasie-Rängen wie „Septentrion“ könnte man beispielsweise an einen Befehlshaber von siebzig Soldaten denken. Das Verständnis solcher Termini ist aber unwichtig, denn Severian ist ein Einzelkämpfer und wird niemals ins Heer eintreten.

Dingsymbole

Vielmehr ist ihm eine Laufbahn als Scharfrichter vorbestimmt. Sein riesiges Schwert „Terminus est“ („Dies ist die Trennlinie“) ist nicht bloß ein Werkzeug für diese Tätigkeit, sondern entwickelt sich zu einem Objekt, das sein Schicksal bestimmt – ein Dingsymbol. Aber wofür steht es? Severian ist jemand, der Dinge – und Leben – beendet, aber auch Neues anfängt. So ist ihm etwa per Zufall die „Klaue des Schlichters“ in die Hände gefallen, einen Edelstein mit magischen Kräften, der Erscheinungen an den Himmel zaubern kann. Dieses Objekt ist ebenfalls ein Dingsymbol und wird den zweiten Band bestimmen.

Katalysator

Severian ist also jemand, der einiges bewirkt, ohne es eigentlich zu wollen, so als wäre er ein Katalysator. Deshalb ist es von Vorteil, ihn in den größeren Zusammenhang zu setzen, in dem sich seine Zeit befindet. Allenthalben ist Nessus von Niedergang gekennzeichnet, und selbst die Sonne leuchtet nur noch schwächlich rot. Das könnte der Grund dafür sein, dass nicht nur Rebellen wie Vodalus gegen den Autarchen (Selbstherrscher) kämpfen, sondern dass sich zahlreiche Menschen nach dem Zeitalter der Neuen Sonne sehnen. Sie wollen Erneuerung, Stärke, Lebenskraft und Orientierung.

Nun kommt also einer von den „Wahrheitssuchern und Büßern“, wie sich die Folterer selbst nennen, und verfügt über zwei mächtige Objekte: ein ganz besonderes Schwert und einen ganz besonderen Edelstein. Außerdem ist da noch Severians Neugier und sein unfehlbares Gedächtnis. Er hat zudem ein Herz, das ihm gebietet, Menschen zu retten und ihnen beizustehen. Deshalb gelingt es ihm beispielsweise, die junge Frau Dorcas aus dem Sumpf im Botanischen Garten zu retten. Sie wird seine sehr anhängliche Freundin.

Last but not least zeigt sich im Duell auf dem Blutacker, dass Severian für Gift immun sein muss. Und wie es zu dieser Art von Unsterblichkeit kommt und was daraus folgt, das möchte ich nun gerne aus den drei Folgebänden erfahren.

Die Übersetzung

Die Übersetzung bemüht sich um einen gehobenen Stil, der viel mit Konjunktiven und indirekter Rede arbeitet. Das ist schon mal eine gewisse Herausforderung für Leser, die mit den Feinheiten der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß stehen. Hinzu kommt erschwerend, dass es eine Vielzahl von Druckfehlern gibt. Darunter sind Buchstabendreher noch die einfachsten, aber es gibt auch ganze Wörter, die völlig verdreht sind.

S. 101: „wobei sei hundert gefällige Figuren zum besten gab.“ Statt „sei“ muss es „sie“ heißen.

S. 136: „Sie nächsten zehn Tage…“ muss „Die nächsten zehn Tage“ heißen.

S. 152 + 158: „Machatin-Turm“ statt „Matachin-Turm“.

S. 161: „Agaia“ statt „Abaia“, das alles verschlingende Meeresungeheuer.

S. 250: „So mächtig ist [d]der Zauber der Sprache…“ Das D fehlt.

S. 256: „Atrozitäten vor der Türe“. Wer den englischen Ursprung „atrocities“ nicht kennt, weiß mit dieser Vokabel wohl kaum etwas anzufangen. Gemeint ist in Stein gemeißelte Abscheulichkeiten im Sinne von Wasserspeiern.

S. 263: „sie kehrt[e] sich uns zu“. Das E fehlt.

S. 265: „der zugleich (…) von Eurer beglückten Stellung [ist].“ Das Wörtchen „ist“ macht den Satz gleich viel verständlicher.

S. 265: „Ich danke, ich weiß, von welchem Stadtteil er kommt.“ Mehr Sinn ergibt der Satz, wenn man „danke“ durch „denke“ ersetzt.

S. 288: „in das Gefängnis hinabstieg, das[s] nur ein Hundertstel… hatte“. Das zweite S ist überflüssig, denn es handelt sich hier um ein Relativpronomen.

S. 294: „allen zum Tode Veurteil[t]en beibringen…“ Das T fehlt.

S. 320: „Über die Hälfte war sie von solcher Fülle…“ Ersetzt man „die Hälfte“ durch „über der Hüfte“ ergibt der Satz mehr Sinn: Die erwähnte Frau hat einen Prachtbusen, der sie so topplastig macht, dass sie aufpassen muss, wie sie sich bewegt. Natürlich tritt sie auf der Wanderbühne von Dr. Talos auf – als unschuldige Grazie…

S. 323: „wir wussten, Meister Palaemon sein nicht tot, nicht einmal fort…“ Da der Leser weiß, dass Palaemon am Anfang des Buches noch lebte, Meister Malrubius aber nicht, und dass Malrubius Severian immer wieder als Geist erscheint, handelt es sich offensichtlich um eine Verwechslung. Statt „Palaemon“ muss es „Malrubius“ heißen. Dieser Fehler kann aber schon dem Autor unterlaufen sein.

S. 336: „Photospähre“ sollte „Photosphäre“ (Lichtkreis) heißen.

Dieser Band ist mit einer Karte von Nessus ausgestattet. Anhänge mit Anmerkungen zu Gesellschaft und Kultur etc. finden sich in Band 2. Interessant ist das Nachwort: Der Autor gibt sich als Übersetzer von Severians Memoiren aus. Er begründet damit seinen Gebrauch alter Termini wie „Septentrion“ als „nachempfunden“.

Unterm Strich

Einmal angefangen, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Es passiert immer etwas, und meistens ist es etwas Unvorhersehbares. Das ist der eigentliche Spannungsfaktor, und wer eine Menge Action erwartet, die Spannung erzeugt, ist hier auf dem Holzweg. Allerdings gibt es aber der Mitte eine Spannungskurve: Severian muss sich auf ein rätselhaftes Duell vorbereiten, und eben diese Vorbereitungen verlaufen ganz anders als erwartet. Deshalb steht vor dem Kampf die Frage, ob er überleben wird.

Severian ist eine außergewöhnliche Figur, und er hält immer wieder Überraschungen bereit. Aber auch die Welt, in der er sich mit staunenden Augen bewegt, ist voller Wunder und skurriler Figuren. Da sind zahlreiche Frauen unterschiedlichster Art, von der gebildeten Hofdame bis hinunter zur Bordellhure, von der durchtriebenen Verräterin bis zur treuen Seele. Severian verurteilt sie alle ebensowenig wie der Autor: Man muss sie eben zu nehmen wissen, wie sie kommen.

Zunächst nur angedeutet, dann aber immer wieder aufgegriffen sind die Verweise auf eine endzeitliche Erwartungsstimmung in dieser bunt zusammengewürfelten Gesellschaft: Da die Sonne nur noch schwach rötlich scheint, sehnen sich viele nach Umsturz und Erneuerung. Diese Erneuerung soll nicht nur auf der Ebene des Glaubens erfolgen, sondern die ganze Welt erfassen: Manche glauben an den Leviathan, der hier Abaia heißt und dereinst die ganze Welt verschlingen wird. Höchste Zeit für das Zeitalter der Neuen Sonne, die dem Zyklus seinen Namen verleiht.

Ist Severian am Ende so etwas wie ein Messias, ohne es zu ahnen? Sein wertvolles Schwert (das von ungewöhnlich ausgetüftelter Machart ist) und die „Klaue des Schlichters“ (womit eine Art Jesusfigur gemeint sein könnte), ein magisch-mystischer Edelstein, versehen den Foltergesellen jedenfalls mit mehr als menschlichen Kräften. Wohin ihn sein Weg jedoch führt, das ist die spannende Frage, auf die die vier Folgebände Antworten liefern müssen.

Taschenbuch: 350 Seiten
O-Titel: The Shadow of the Torturer, 1980;
aus dem US-Englischen von Reinhard Heinz
ISBN-13: 978-3453310087

https://www.heyne.de

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