Josh Pachter – Top Fantasy. Band 2 (Erzählungen)

Abwechslungsreiche Fantasy-Erzählungen

Bekannte Fantasy-Autoren haben jeweils eine eigene Erzählung ausgewählt, die sie für die beste halten. Unter den Autoren finden sich illustre Namen wie Michael Bishop, Robert Bloch, Jack Williamson und Gene Wolfe. Manchmal sind die Begründungen des Autors bzw. der Autorin interessanter als die Story selbst. Für den Herausgeber zählt auch Horror zur Fantasy. Zartbesaitete Leser sind gewarnt.

Der Herausgeber

Josh Pachter ist ein US-amerikanischer Krimiautor, College-Dozent, Übersetzer und Anthologie-Herausgeber, der in Herndon, Virginia lebt. Mehr Info.

Die Erzählungen

1) Barrington Bayley: Das Schiff des Unheils (The Ship of Disaster, 1965)

Der Elfenherrscher Elen-Gelith steuert das “Schiff des Unheils“ durch dichten Nebel, gelangt aber nie in Sichtweite von Land. Er ist der letzte Überlebende der Schlacht gegen die Trolle, deren Invasion alle anderen Schiffe versenkt hat. Gefangene Trolle rudern die Galeere durch den Nebel. Da, ein Schiff! Der Kapitän befiehlt, das Schiff zu versenken. Dessen einziger Überlebender wird vor ihn geführt. Das Tier nennt sich Kelgynn von Borrod und es kann sogar sprechen, obwohl es nur ein Mensch ist. Der Kapitän verdonnert es sofort zu hartem Ruderdienst bei Brot und Wasser. Glücklicherweise erweist sich Elfenbrot als sehr nahrhaft.

Dieses Wesen verrät, wovon sich Menschen ernähren, wenn sie auf hoher See sind: “Wir fischen.” Auf diese idee sind die Elfen nochnicht gekommen, denn als Beherrscher der Welt haben sie so einen armseligen Nahrungserwerb nicht nötig – sie überfallen lieber Trolle. Die Wesen, die Kelgynn mit seiner Angel an Bord zieht, sind unheimlich: eine Meerjungfrau, ein Leviathan und so weiter. Aus dem Nebel erheben sich Städte wie Phantasmen, doch eines ist seltsam: In ihnen leben nur Menschen.

Dieses Menschentier wird deshalb immer frecher und liest Elen-Gelith die Leviten. Er lässt Kelgynn kurzerhand über Bord werfen. Kaum im Wasser, kann Kelgynn am Horizont einen Strand unter einer lachenden Sonne und blauem Himmel erspähen. Doch das “Schiff des Unheils” segelt weiter, umgeben von seinem eigenen Nebel…

Mein Eindruck

Die Elfen, das sind die Briten, die mit ihrem Empire die Welt beherrschten, jedenfalls bis etwa 1960, dann wurde ihnen das Joch der Weltherrschaft zu teuer. Die Trolle, das sind die kolonialisierten Völker, mit denen die Briten in ständigem Streit liegen – und die sie in unzähligen Strafaktionen wie etwa im Mau-Mau-Krieg in Ostafrika bekämpften. Die Menschen, nun, sie sind die kommende Rasse, wie es scheint: schlau und hinterhältig. Weder Trolle noch Elfen kämen auf die Idee, in einem Meer voller Meerjungfrauen angeln zu gehen.

Die postkoloniale Kritik des New-Wave-Autors Bayley, der ein enger Freund von Michael Moorcock war, richtet sich, wie das letzte Bild zeigt, gegen die arrogante Selbstgefälligkeit des Kapitäns des „Schiff des Unheils“. Es ist von seinem eigenen Nebel der Arroganz und Verblendung umgeben und wird ihn nie verlassen. Wie der flüchtige Blick in die Zukunft jedoch zeigt, sind die Tage der Elfen und Trolle gezählt, überleben werden nur die cleveren Menschen. Kelgynn mag nicht unbedingt der hilfreichste Vertreter seiner Rasse sein, aber dafür hat er die Sympathie des Lesers.

2) Michael Bishop: Zusammenarbeit (Collaborating) )

Robert und James Self erleben ein seltsames Schicksal. Sie haben zwei Köpfe, teilen sich aber denselben Körper. Sie nennen ihn das Ungeheuer. Denn wenn sich James betrinkt oder eine Zigarre raucht, muss auch Robert die Auswirkungen teilen. Ansonsten aber teilen sich weder Gedanken noch Gefühle, es sei denn diese wären biochemisch und physisch verursacht. Geboren wurden sie selbstverständlich von der gleichen Mutter, doch das „Ungeheuer“ musste vor der Welt versteckt werden, deshalb erkläre Dr. Self, der Arzt, der Mutter, sie habe eine Totgeburt erlitten und adoptierte das Kind, um es eingehend zu untersuchen. Der Vater war anno 1951 als Wanderarbeiter ständig unterwegs und zog bald mit seiner Frau weiter.

Aufgezogen wurde das doppelköpfige Kind von einer Frau mit der Flasche, denn Velma hatte in ihrem fortgeschrittenen Alter keine Milch mehr. Nun sind sie ein Promi-Paar, doch die Antworten, die die beiden Selfs in Talkshows geben, fordern das Publikum heraus. Es ist unvermeidlich, dass solche Promis auch weibliche Fans anziehen. X ist eine vorurteilsfreie Frau, und sie scheint sich in die beiden zu verlieben. Das Ungeheuer wäre James-seitig durchaus bereit, sie zufriedenstellen, doch die Robert-Seite verweigert den Liebesdienst. Und dann ist da noch der Aspekt der wirtschaftlichen Absicherung, der für die Gründung einer Familie unerlässlich ist. Auch in dieser Hinsicht scheint das Kopfpaar einiges zu wünschen übrig zu lassen. Robert widerspricht James‘ Behauptungen. X verschwindet, aber kurz danach fällt der Strom aus – ihre Art der Vergeltung.

Mein Eindruck

Michael Bishop ist ein anspruchsvoller, humorvoller und intelligenter Autor, das zeigt sich auch hier. Die beiden Selfs kommen abwechselnd dazu, ihre jeweilige Ansicht der Ereignisse und Zustände kundzutun. Da ständig Widersprüche auftreten, wird schnell erklärt, dass die beiden Selfs in einer geistig-emotionalen Ehe leben. Sie wechseln sich ab, wer gerade „oben“ ist und wer gerade schläft. Dadurch wird auch nachvollziehbar, warum in einer solchen Ehe eine dritte Person ziemlich störend und überflüssig ist. Hinzukommt Roberts Misstrauen gegen X im besonderen. Am Schluss sieht es sich durch ihren Rückzieher vollauf bestätigt. So viel also zur titelgebenden „Zusammenarbeit“.

Ich wurde bei dieser hintergründigen, ironisch erzählten Geschichte nie warm und war froh, als sie endlich abgeschlossen war. Möge lachen, wer mehr von der Liebe der Frauen versteht.

3) Robert Bloch: Der Mann, der Poe sammelte (The Man Who Collected Poe)

Laurence Canning hat unseren Chronisten in sein trautes Heim eingeladen, um ihm seine Sammlung von Memorabilien an Edgar Allan Poe zu zeigen. Zunächst ist unser Chronist skeptisch, doch die Inkunabeln, die Canning, der dritte seines Namens, vorweisen kann, ist in der Tat beachtlich. Darunter sind Erstausgaben aus den Jahren 1829 und sogar 1827, als besagter Poe (geboren 1809) erst 18 Lenze zählte. Canning erzählt, dass sein Vater, Gott hab ihn selig, zeit seines Lebens nach allem jagte, was mit dem berühmten Dichter zu tun hatte. Und dessen Großvater erbaute dieses Haus im Poe-Stil, inklusive einer veritablen Gruft.

Das Angebot eines Glases kräftigen Amontillado-Weins kann unser Gewährsmann nicht ablehnen, und schon nach wenigen – jawohl! – Pokalen des edlen Tropfens sieht Canning viel glaubwürdiger aus. Doch Cannings lässt sich nicht mehr bremsen: Er zeigt fast sämtliche Briefe und Zettel, die der Dichter jemals geschrieben hat, und sämtliche Erstausgaben seiner Erzählungen und Gedichte, so etwa von „The Raven“. Und wie fing diese, nun ja, Obsession überhaupt an, will unser Mann vor Ort wissen. Inzwischen ist ein Gewitter aufgezogen, und der rollende Donner kündigt Unheil an.

Es begann mit Großvater und seinem Tod vor dem erwähnten Verlies. 1875 hatte Großvater den Leichnam Poes auf dem Baltimorer Friedhof in eine neue Gruft verlegen lassen. Er muss wohl einen Schlaganfall erlitten haben. In seinen Händen hielt er ein kleines Kästchen voll Staub. Nicht irgendein Staub, sondern der Staub aus Poes Leiche. Wie, was? Ja, denn Großvater hatte zwar den Sarg in eine Gruft verlegen lassen, aber nicht die Leiche – die sperrte er in sein eigenes Verlies ein, wo sie zu Staub zerfiel. Jenes Verlies, vor dessen Eisentür er tot gefunden wurde, it einem Kästchen voll Staub.

Jetzt wird unserem Chronisten etwas klar: Poe ist keineswegs tot, sondern sein Geist lebt! Und dieser Geist kommt nun, um seinen Sammler einzusammeln…

Mein Eindruck

Diese Geschichte ist in der Tat fein gesponnen und gespickt mit allem, was sich ein Sammler von Poe nur erträumen kann. Es ist eine Huldigung, „ein Werk der Liebe“, wie der Autor in seiner Einleitung selbst versichert. Die Fakten stimmen, soweit mir bekannt. Aber Poe hat, wie immer seine Tücken. Und wer Robert Bloch, den Autor von „Psycho“, kennt, weiß, dass er zum Briefzirkel H.P. Lovecrafts gehörte, der den jungen Mann sogar selbst förderte.

Daher dürfte es nicht verwundern, wenn unser Chronist in dieser feinen Geschichte auf unheimlichste und verbotene Werke stößt, die sich der Meister aus Providence selbst ausgedacht hatte, etwa „The Book of Eibon“. Auch dieser Fund ist eine Huldigung, nur eben an HPL. Bloch gibt auch zu, Teile aus „Der Fall des Hauses Usher“ verwendet zu haben und beruft sich zusätzlich auf ein unveröffentlichtes Fragment einer Poe-Story namens „The Light-House“. Ob dem wirklich so ist, müssen berufenere Experten herausfinden, ich habe davon noch nie gelesen.

Das Finale ist wunderbar: Der Gesammelte ist mit viel derart Substanz versehen worden, dass ihn die Energie eines Blitzes zurück ins Leben ruft – ein schauriger „Frankenstein“-Effekt, der aber seine Wirkung nicht verfehlt. Der Besessene wird quasi ins Totenreich geholt, aus dem er Poe hat zurückholen wollen, und folglich geht alles, was er gesammelt hat, mit ihm und dem verfluchten Gebäude in Flammen auf…

4) Ramsey Campbell: Die Tiefen (The Depths)

Der englische Krimiautor Jonathan Miles hat sich auf eine neue Masche verlegt: Er besucht jetzt Mordhäuser, um zum Abschluss ein Sachbuch darüber zu schreiben. Er ist beileibe kein Unbekannter, weshalb selbst das Lokalfernsehen über seine Übernachtung in einem Mordhaus in West Derby, nahe Liverpool, berichtet. Er macht fleißig Notizen, denn seine Agentin Susi und sein Verleger Hugo warten schon auf das versprochene Buch.

Doch Alpträume beginnen ihn zu plagen, sehr lebhafte Alpträume. Und als er eines der Opfer aus seinen Träumen, ein Mädchen, in der Londoner Oxford Street erblickt, will er es warnen. Doch die freundlichen Cops stoppen ihn. Am nächsten Tag sieht er den Artikel über den grausigen Tod des Mädchens. Trotz seiner verwirrten Gewissensbisse kann er einen Artikel schreiben, den er an das neue Magazin „Schauder“ schickt. Dieser Artikel macht ihn noch bekannter.

Wieder sieht er einen Mord voraus und ist sogar rechtzeitig am Tatort. Doch er kann das blutige Geschehen nicht verhindern. Sich selbst anzuzeigen oder gar die Cops zu warnen, würde nur dazu führen, dass man ihn in die Klapsmühle steckt. Doch beim dritten vorhergesehenen Mord führt ihn eine innere Stimme in eine Straße, die sich als Sackgasse erweist. Es gibt kein Entrinnen, als zwei Männer auftauchen, die Messer in den Händen halten. Nun endlich wird Miles klar, worin seine Rolle besteht…

Mein Eindruck

Hellseherei und Orakel sind nicht nur besondere Gaben, sondern zugleich auch ein Fluch. Das musste auch die junge Königstochter Kassandra in Troja feststellen, als sie den Untergang ihrer Heimatstadt prophezeite und dafür ausgelacht wurde. Nun ist also Miles an der Reihe. Lange Zeit versteht er nicht, was mit ihm in jenem Mordhaus passiert, doch am Schluss erkennt seine fatale Lage: Er muss die Rolle des Sündenbocks spielen. Die Story ist stimmungsvoll, spannend und sehr ironisch geschrieben.

5) Jack Dann: Schabernack vom Elfenpack (Fairy Tale)

Moishe Mencken ist Comedian und lebt im oberen Staat New York, wo er am ländlichsten ist. Außerdem ist er der Sohn einer jüdischen Familie und stolz darauf. Wenn er redet, dann spickt er seine Sätze immer mit viel Jiddisch bzw. Jinglisch. So auch in dieser haarsträubenden Geschichte.

Er will seinen Freund Hub im Graub-Hotel besuchen und ruft vorher an. Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung gehört nicht einer süßen Rezeptionistin, sondern sorgt dafür, dass Moishe fast sein Gedächtnis verliert. Erst als er sich mit seinem Wagen auf den Weg gemacht und zum Graub-Hotel gefahren ist, klärt ihn eine hübsche Elfin darüber auf, dass er Opfer eines Trollbanns geworden sei. Trolle – gibt’s die denn, wundert sich Moishe. Allmählich gewinnt er seine Erinnerung zurück – und entdeckt sofort seinen Kumpel Hub, wie der am Lagerfeuer hockt. Das allein ist schon ziemlich ungewöhnlich. Moishe, misstrauisch geworden, rückt Hub auf die Pelle, und der entpuppt sich schon wieder als ein Troll. Oder Kobold?

Sobald das Elfenmädchen ihm Wundersalbe auf die Augenlider gestrichen hat, fällt es Moishe wie Schuppen von den Augen. Das große Gelage im Hotel mit all dem Lichterglanz ist eine traurige und düstere Veranstaltung, deren Teilnehmer allesamt sehr zwielichtige Gestalten sind – die „Unsehnlichen“ – und sie sind alle hinter Moishe her. Um ihn in Sicherheit zu bringen, packt das Elfenmädchen seinen Arm und zieht ihn gen Ausgang. Als er jedoch ein paar Tropfen Sekt auf ihre Haut fallen lässt, verwandelt sie sich in einen drei Meter großen Dra-, pardon: Lindwurm. Das schüchtert die anderen Partygäste gehörig ein. Moishe lässt sich nicht anmerken, dass er sich fast in die Hose macht.

Die schöne Asrai behauptet, direkt von Oberon abzustammen, dem König der Elfen bzw. Dannan Sidhe. Er lebe in den Hügeln beim kleinen Volk. Der King hat eine Bedingung: Wenn Moishe die Hand seiner Tochter Asrai haben will, müsse er seinen Part spielen und mit den Elfen gegen die Unsehnlichen in die Schlacht ziehen. Moishe fühlt sich ein wenig überwältigt, willigt aber ein. Er weiß nämlich, was ihm eine Ablehnung einbringen würde: Oberon würde ihn in eine Kakerlake verwandeln und in kürzester Zeit zertreten (lassen). In der finalen Schlacht kämpft seine Verlobte an seiner Seite, und New York wird nie wieder sein, was es mal war…

Mein Eindruck

Eine Elfengeschichte mit viel Action? Das hatte sich der Autor zumindest vorgenommen. Der Leser muss entscheiden, ob ihm das auch gelungen ist. Ich finde, er hat einen guten Job gemacht. Das Besondere an dieser Story ist die Verquickung von irischer Mythologie mit jiddischem Witz und Glauben. Dass Juden ihre eigene Mythologie bzw. Legenden haben, spielt hier allerdings keine Rolle: der Dybbuk, der Golem, die schöne Lilith und viele weitere Figuren. Der Kontrast sorgt jedenfalls für viel Humor und Ironie. Im Finale wird es episch, denn unser Moishe muss im irischen Heer der Elfen kämpfen. Kann das gutgehen? Es muss!

Mit Jinglisch-Glossar!

6) Richard Deming: Reillys Leben nach dem Tod (The Afterlife of Reilly)

Als der Ire Reilly in Callahan’s Bar mal wieder politischen Stunk macht, wird er von Callahan persönlich ausgeknockt, doch er fällt so unglücklich, dass sich seine Seele erst einmal in den Limbus verabschiedet. Hier erwacht Reilly neben einem hübschen Mädchen in hellblauem Kleid, das er Alice nennen darf. Sie erklärt, dass er zwar klinisch tot sei, aber in genau vier Minuten wieder ins Leben zurückkehren werde – ein einzigartiger Fall, wie sie meint. Das findet Reilly auch. Jetzt soll er sich entscheiden, ob er lieber in die Hölle oder in seinen Himmel weitergehen wolle. Er entscheidet sich für den Himmel.

Gleich darauf ist er wieder auf der gewohnten Straße in seinem gewohnten Stadtteil, und da ist auch eine Bar, die der von Callahan aufs Haar gleicht. Aber alles andere ist irgendwie merkwürdig. Die Paare, die gut gekleidet auf der sauberen Straße auf einem sauberen Gehweg schlendern, sehen alle glücklich und zufrieden aus. Darüber spricht er mit Callahan, der auch tatsächlich so heißt, aber um Welten freundliche ist als das Original: wie steht es hier um die Liebe? Um Wettbewerb? Um Filmdramen? Reilly testet sie alle, doch er ist nicht zufrieden. Kein Streit, kein Konflikt ist erlaubt. Als er sich bei Alice beschwert, fragt sie ihn, ob er vielleicht doch noch den Himmel sehen wolle…

Mein Eindruck

Eins ist mal klar: Wenn es die Hölle ist, dass sich alle liebhaben und miteinander vertragen, dann will er den Himmel gar nicht erst kennenlernen. Es ist eben alles relativ. Bemerkenswert ist aber, dass Reilly seine ganz persönliche Hölle kennenlernt: Er ist ein Streithahn, doch überall herrscht Friede, Freude, Eierkuchen. Kurzum: Es ist seine private Hölle. – Die Story ist kurzweilig und mit überraschenden Wendungen gespickt, zu denen vor allem die Pointe gehört.

7) Joe L. Hensley: Harfner (Harpist)

Curly ist ein Korea-Veteran und spielt allabendlich E-Gitarre in einer Bar in Kentucky. Er hat niemanden mehr, daher ist er froh, wenn man seine Kunst würdigt. Eines Abends lädt ihn Mr. Hickam, der die spukige Farm der Turners übernommen hat, zu einem Drink ein, oder zweien. Hickam bittet nicht allzu höflich, dass Curly draußen auf der Turner-Farm vor einer Höhle spiele. Dort spuke es nicht schlecht, und zwar musikalisch. Curly meint OK.

Hickam fährt ihn hinaus zur Farm und der Höhle, die neben einem runden Teich liegt. Er nimmt auch Curlys Rollstuhl und Gitarre mit und schließt sie an den Verstärker und diesen wiederum an einen Generator an, was Curly wie eine Menge Aufwand erscheint. Er legt los und nach einer Weile bekommt er eine Antwort. Während Hickam Fotos knipst, beobachtet Curly das kleine, neugierige Wesen. Weil das Harfenklänge sind, nennt er es Harfner. Sie spielen eine paar Minuten zusammen, dann verschwindet der Harfner.

Weil die Fotos nichts geworden sind – sie zeigen nur ein paar Linien -, wird Hickam wütend und enthüllt seinen wahren Plan: Er will das Wesen einfangen und daraus eine Art Zirkusattraktion machen, um dafür Geld zu kassieren. Er ist ein Glücksritter, wie er im Buche steht. Curly weigert sich, dabei mitzumachen. Doch Hickam kann selbst ein wenig Gitarre spielen und lockt den Harfner an, bis er ihn in einem Netz einfangen kann.

Doch der Harfner hat einen viel größeren Gefährten, so als handle es sich um Vater und Sohn. Und Papa saugt Hickam die Lebensenergie aus, bevor er Curly prüft. Curly befreit den kleinen Harfner und bietet beiden seine Gitarre an. Sie wird huldvoll akzeptiert. Dann zeigt er ihnen den Stein, den er seinerzeit von seiner Mutter bekommen hatte: Der Stein ist ganz heiß. Jetzt sind es die beiden Harfner, die sich vor ihm verbeugen, wie ihm scheint. Er wird einer ihrer Gemeinschaft – und kommt mit zu seiner Bestimmung, unter den Sternen…

Mein Eindruck

Zunächst scheint die Story stark in Richtung Lovecraft zu wandern, nur eben nach Kentucky und seine Kohleminen verlegt. Doch dann nimmt die Musik eine zentrale Vermittlerrolle an, die Curly vehement gegen Hickams Ausbeuterpläne verteidigt: Bei Curly sollen die Harfner frei sein und voll Vertrauen ihre Kunst mit den Menschen teilen. Dass sie Aliens sind, stört ihn nicht, denn er vertraut ihnen: Schließlich sind auch sie Freunde und Virtuosen der Musik – und solche Wesen können keine finsteren Absichten hegen.

Die Geschichte ist interessant, phantasievoll und einfühlsam geschildert – von Lovecraft-Klischees keine Spur. Der Autor schreibt in seiner obligatorischen Einleitung, dass er für diesen Text rund zehn Jahre gebraucht habe, wenn auch mit Pausen.

8) Lael J. Littke: Mrs. Twillers Einkaufsbummel (Mrs. Twiller Takes a Trip)

Mrs. Twillers ist eine nette alte Dame, die eine Menge Katzen zu versorgen hat. Aber die monatliche Zuwendung, die ihr ihr Sohn zukommen lässt, reicht nicht, weshalb sie sich anderweitig Wertsachen besorgt. Ihr Ziel ist stets ein Kaufhaus. Doch nach dem heutigen Beutezug führt die Rolltreppe nicht ins Untergeschoss, sondern in eine düster beleuchtete Etage, über deren Eingang groß das Wort HÖLLE steht.

Hier drin ist es ganz schön schwül, findet Mrs. Twiller, und langweilig ist es auch: Nach dem ersten Empfang muss sie an einer Art Rezeption warten, wo ein armer Teufel ständig Eintragungen in eine Art Register macht. Wenigstens gibt es ein paar Kunstobjekte aus Platin und Brillanten. Ein distinguiert aussehender Gentleman spricht sie an – mit ihrem Namen. Er wisse alles über sie, besonders über ihre Betätigung als Diebin. Ein Lächeln fruchtet bei ihm ebensowenig wie ein paar Tränen. Seine Warnung ist ernst: Lässt sie sich wieder etwas zuschulden kommen, werde sie hier für immer hier in der Hölle landen und entsprechende Qualen erleiden.

Das mag ja alles schön und gut sein, aber nachdem sie auf Bewährung entlassen worden ist, stolziert Mrs. Twiller zum Ausgang des Kaufhauses in der stolzen Genugtuung, nun ihren Katzen ein lebenslanges Auskommen für alle ihre neun Leben besorgt zu haben: In ihrer geräumigen Einkaufstasche befinden sich alle Kunstobjekte des Oberteufels…

Mein Eindruck

Merke: Nette alte Damen sollte man nie unterschätzen, und selbst satanische Majestäten sollten sich in acht nehmen. Diese verschmitzte Variante der „tall tale“, in der der Teufel persönlich auftritt, hat in Neu-England eine lange Tradition, die bis ins frühe 19. Jahrhunderts zurückreicht, mindestens.

9) John Lutz: Die wirkliche Form der Küste (The Real Shape oft he Coast)

Das psychiatrische Sanatorium von Dr. Montaign liegt direkt an der Küste. Die Patienten, die unheilbar krank sind, wohnen in Gruppen zu sechs in fünf Bungalows. Eines Tages wird am Strand ein Patient von einem der Wächter tot aufgefunden. Rolf wohnte im Bungalow von Logan, Kneehoff und anderen. Sie wollen ebenso wie der Arzt wissen, wer Rolf getötet hat – und warum ihr „Kollege“ Muscheln im Mund hatte. Die private Ermittlung führt zu keinem eindeutigen Ergebnis, aber am Ende liegt Logan tot in der Brandung, mit Muscheln im Mund. Denn er hat erkannt, dass es einen Unterschied macht, welche Form die Küste in Wahrheit hat…

Mein Eindruck

Die Ermittlung Logans und Montaigns verläuft in relativ rationalen Bahnen, hat also wenig mit Wahnsinn zu tun. Deshalb konzentriert sich Logan darauf, alle nicht Verdächtigen auszuschließen, bis er den Hauptverdächtigen gefunden hat: den Wächter. Doch der wird ausgerechnet von Montaign entlastet. Am Schluss bleibt nur einer übrig, der den Mord begangen haben kann: Logan selbst. Vier Paar Fußspuren im Sand des Strandes weisen auf die Täter hin. Aber das ist eben die Crux: Die Brandung mit ihren Gezeiten verwischt Hinweise und fügt neue hinzu. Die Beweislage ist also nie eindeutig. Eine wenig befriedigende Deutung dieser Geschichte aus der Grauzone zwischen Krimi und Phantastik.

10) Bill Pronzini: Der Mann, der THE SHADOW sammelte (The Man Who Collected THE SHADOW)

Theodore Conway arbeitet in einer New Yorker Anwaltskanzlei, ist aber mit 46 immer noch Jungfrau. Könnte es daran liegen, dass er alle Comic- und Hörspielserien sammelt, die eigentlich für zwölfjährige Jungs produziert wurden? Wie auch immer: Sein absoluter Favorit unter den Superhelden des Comic-Universums ist THE SHADOW, der unsichtbare Rächer. Er sammelt jedes Medium, in dem Lamont Cranston zusammen mit seiner attraktiven Begleiterin Margo Lane auftritt. Deshalb wurmt es ihn, dass ihm noch eine einzige Ausgabe des THE SHADOW Magazine fehlt.

Daher treibt es ihm Freudentränen in die Augen, als er die gesuchte Ausgabe vom Oktober 1931 zufällig in einem winzigen Buchladen auf der East Side entdeckt – für den Spottpreis von 50 Cent. Er hätte hunderte von Dollars dafür gezahlt! Er kauft das Heft und kann es sich nicht verkneifen, sie sofort in der nächsten Kneipe zu lesen. Sein Glück ist perfekt, doch als er wieder aufschaut, ist die Kneipe leer – und seine Armbanduhr zeigt Mitternacht. Dies ist nicht gerade die sicherste Ecke von Manhattan, und bis zur nächsten U-Bahnstation sind es vier Blocks zu gehen. Machbar, denkt Theodore, und begibt sich auf den Weg, das kostbare Heft untern Arm geklemmt.

Ein Geräusch stoppt ihn, ein winziger Lichtschein erhellt eine Seitengasse. Eigentlich sollte er weitergehen, doch eine unbekannte Kraft bringt ihn dazu, in die Seitengasse abzubiegen und eine Tür zu öffnen, die in eine Art Lagerhalle führt. In einem Kabuff liegt ein Angestellter – der Lagerist? – tot in seinem Blut. Als er sich umdreht, starrt er in die Mündung einer Pistole. Er ruft „Nein, nicht schießen!“, doch der Ganove will wissen, wer da ruft. Das macht Theo stutzig. Er bewegt sich zur Seite, so dass er ein Geräusch verursacht, ein Schuss fällt – verfehlt. Weitere Schüsse gehen fehl, bis er endlich ein Brett erwischt, das er dem Schützen über den Kopf hauen kann.

Die Sache ist, recht überlegt, ziemlich klar: Er ist der SHADOW. Höchste Zeit, den bösen Buben das Handwerk zu legen!

Mein Eindruck

Conway erreicht seinen Idealzustand: Er wird selbst zum rächenden Geist, der dem Gesetz Geltung verschafft. In gewissem Sinne ist er selbst ein Kind geblieben, mit einem naiven Sinn für Gut und Böse sowie Gerechtigkeit. Das ist natürlich weit von der Realität entfernt, aber wie der Dichter sagt: „Es gibt nichts Gutes außer man tut es.“ (E. Kästner)

Der Autor Pronzini, der auch sehr gute Krimis schrieb, legt seine fundierten Kenntnisse über die Popkultur der 1930er Jahre an den Tag – eine Ära der Pulp Fiction, die heute durch die Marvel-Verfilmungen aktueller denn je ist. So kann es nicht ausbleiben, dass auch der Name Orson Welles fällt. Welles arbeitete bei Radio und landete mit seiner dramatischen Inszenierung von „Krieg der Welten“ einen Knaller. Er soll die Hörer in Panik versetzt haben, weil sie glaubten, die Marsianer seien gelandet. Dass Welles noch viele weitere Stoffe vertonte, wird in dieser feinen Geschichte belegt. Dass sich die Hauptfigur als Fan in sein Idol verwandelt, ist nur konsequent.

Auf einer tieferen Ebene hat die Geschichte eine weitere Bedeutung. Indem sie Conway nämlich durch die massenhafte Lektüre von Comics auf dem geistig-emotionalen Niveau eines kleinen Jungen hält, versteht er Frauen nicht und wird auch nie Nachkommen zeugen. Damit wird er aus soziobiologischer Sicht zu einem Nichts, eben einem Schatten. Dass Schatten nie erwachsen werden können (und auch nicht wollen), dürfte auf der Hand liegen.

11) Nancy Springer: Wiedergutmachung (Amends)

Es ist ein Wolfswinter, und die Familie von Worth ist am Verhungern. Sein Sohn Ward ist zornig und hält seinen Vater für einen Feigling. Warum unternimmt er nichts? Die Hütte hat bereits ihre Innenisolierung eingebüßt, um das kleine Feuer zu nähren. Da klopft es an der Tür. Zwei junge Männer grüßen Worth, der ihnen öffnet. Sie nennen sich Hal und Alan, ihre Pferde dürfen sie im leeren Stall unterbringen. Wenn sie Pferde haben, müssen sie reich sein.

Aber als erstes wollen sie den kranken Menschen in der Hütte eine kräftige und heilende Brühe bereiten. Ward weiß nicht, was er davon halten soll. Was haben sie vor, und warum tun sie das? Nach der ersten Mahlzeit seit langem fallen zu erst die anderen Kinder und Mutter Embla in Schlaf, dann sein Vater, schließlich er selbst. Doch sein Traum ist sehr lebhaft. Ein sehr großer Mann mit Hörnern auf dem Kopf begehrt Einlass und den Besitz der Hüttenbewohner. Doch Hal stellt sich ihm entgegen und verweigert die Herausgabe. Er nennt sich Mireldeyn, als der Große, den er Fürst Annwn nennt, nicht nachgibt. Doch es muss ein Opfer gebracht werden, bevor Annwn geht.

Am nächsten Morgen ist Prinz – denn er muss wohl ein Prinz oder Lord sein – sehr krank, doch Alan, sein Freund, kümmert sich um. War der Traum doch kein Traum?

Mein Eindruck

Wie die Autorin in ihrer Einleitung schreibt, ist dies eine Geschichte aus ihrem Zyklus über die Inselkönigreiche und vor allem „aus“ ihrem ersten Roman „The Silver Sun“: Diese Geschichte kommt darin nicht vor. Wards Geschichte illustriert aber die Eigenart Hals, des Elfenmanns, der einer der beiden Sonnenkönige sein wird: Hal ist ein König im Exil (wie Aragorn), aber mit einer verborgenen Macht der Elfen ausgestattet, um es mit den bösen Mächten in seinem Königreich aufzunehmen. Der preis für seinen Aufstieg sind Einsamkeit und Misstrauen, so wie sie ihm der junge Ward entgegenbringt.

Die Geschichte ist anschaulich und lebhaft erzählt, vermittelt aber emotional komplizierte Vorgänge. Dass Fürst Annwn an die Tür klopft, bedeutet, dass der Tod sein Opfer verlangt. Annwn ist in der walisischen Sagenwelt die Unterwelt, wie sie in den Geschichten des „Mabinogion“ beschrieben wird.

12) Edward Wellen: Gelehrtensprache (Chalk Talk)

Beim Betreten der Uni begegnet Professor Rood seiner etwas kantigen Kollegin Professor Kriss, die ihn wie immer NICHT grüßt. Rood unterrichtet am College die Sprachtheorie von Noam Chomsky. Beim Anblick der jungen Studentin Zoe Albemarle muss er sich heftig am Riemen reißen, denn ihre Bluse ist mal wieder sehr freizügig.

Nun, wie jeder Chomsky-Jünger weiß, gibt es eine sprachliche Oberflächenstruktur wie „John liebt Mary bzw. Mary wird von John geliebt“ und eine Tiefenstruktur, die aus Universalien besteht: Mann, Frau, Liebe usw. Am Ende seiner Ausführungen machen sich jedoch Roods mit Kreide geschriebenen Sätze selbständig: Die Kreidemoleküle fallen von der Tafel und machen sich auf den Weg aus dem Klassenzimmer hinaus auf den Gang. Zoe Albemarle findet das ziemlich unheimlich und nimmt vorsichtshalber Reißaus.

Als Rood seinen verlorenen Buchstaben folgt, gelangt er auf ihrer Spur ins Büro von Professorin Kriss. Dort setzen sich die Buchstaben zusammen, um den Satz „John liebt Mary“ zu formen. „O John!“ ruft Mary Kriss. Denn sie und keine andere kann mit diesem Satz gemeint sein, wird John Rood klar, als sie ihn in den Arm nimmt und küsst.

Mein Eindruck

…was nur demonstriert, dass es unterhalb der Ebene der Universalien noch eine Ebene gibt, nämlich die der heißen Gefühle. Chomsky hin oder her, es ist eine kleine, feine Story, die alle romantisch veranlagten Gemüter ansprechen dürfte. Außerdem ist sie ein ironischer Kommentar auf all die Eierköpfe à la Chomsky, die meinen, sie hätten die Welt ergründet. Dabei ist es doch die Liebe, die die Schicksal der Menschen bewegt.

13) Jack Williamson: Das kalte grüne Auge (The Cold Green Eye, 1945, gedruckt 1968)

Nach dem Tod seiner Eltern wächst der kleine Tommy in einem Dschaina-Kloster im Himalaya auf. Der Mönch Chandra Sha unterrichtet ihn im rechten Glauben, und Tommy begreift, dass er in dieser Welt eine besondere Aufgabe hat: Er soll den Seelen auf ihrem Weg ins Nirvana helfen. Doch nun ruft ihn ein Gerichtsurteil zurück in die Heimat seiner Eltern. „Kansas? Wo liegt Kansas?“ Jedenfalls ganz weit weg. Zum Abschied vertraut ihm der alte, weise Mönch ein ganz besonderes Geschenk an: die Gebetsrolle eines Mönches, der es wirklich ins Nirvana geschafft hat. Tommy schwört, die Schriftrolle in hohen Ehren zu halten, damit er seine Aufgabe erfüllen kann.

Tante Agatha Grimm ist eine Kansas-Christin von altem Schrot und Korn. Und sie jagt permanent Fliegen, von denen es in Kansas offenbar überaus viele gibt. Tommy wendet ein, dass auch die Fliegen Lebewesen seien. Als sie merkt, was ihr Neffe da für fremdartiges Zeug redet, nennt sie ihn einen Heiden. Seine Proteste sind vergebens, und ihr eines grünes Auge starrt ihn kalt an, während das andere, braune, weint. Als er nicht von seinem heidnischen Glauben ablassen will, verprügelt sie ihn. Als sie merkt, dass ihn dies nicht bekehrt, droht sie damit, ihm seine Schriftrolle wegzunehmen, gleich am nächsten Tag.

Da fängt Tommy an, inbrünstig mit der heiligen Schriftrolle dafür zu beten, dass Tante Agatha möglichst bald ins nächste Leben finden möge. Am nächsten Morgen vermisst die Putzfrau Tante Agatha und ruft den Sheriff. Doch der findet nur einen sonderbaren Jungen und eine große Fliege mit zwei verschiedenfarbigen Augen vor…

Mein Eindruck

Der bekannte Autor, der schon viele Stories veröffentlicht hatte, schrieb diese nette, kleine Geschichte Ende 1945, als die USA bereits den Krieg gegen Japan gewonnen hatte. Er kannte also durch die Begegnung mit Asiaten deren Wesensart und den Glauben an die Wiedergeburt, sobald sich das Rad des Lebens weitergedreht hat. Dafür ist allerdings gutes Karma nötig, und wer schlechtes Karma angesammelt hat, dem ergeht es vielleicht so wie Tante Agatha.

Zwei Religionen und somit Weltanschauungen treffen aufeinander, das ist klar, und der Autor lässt Tommy gewinnen. Aber es treffen auch zwei verschiedene Charaktere aufeinander. Tommy ist die reine Unschuld und lebt seinen erworbenen Glauben. Doch die Christin Tante Agatha ist ein Zwitterwesen, wie ihre verschiedenfarbigen Augen nahelegen. Während sie Tommy prügelt und peitscht, weint ihr braunes Auge, doch das „kalte grüne Auge“ des Titels bleibt ungerührt. In ihr leben die zwei Seiten einer einsamen Seele: das braune Auge steht für ihre sanftmütige emotionale Natur, doch das grüne Auge repräsentiert ihre moralische Seite, und die ist unerbittlich.

Ob das nun bedeutet, dass alle Christen schizophren sind, sei dahingestellt. Jedenfalls ist dies eine sehr gut erzählte Geschichte, die so manchen Leser berühren dürfte.

14) Gene Wolfe: Kevin Malone (dito, 1980)

Ein Liebespaar aus mehr oder weniger gutem Hause ist von seinen jeweiligen Familien ausgestoßen worden – die klassische Romeo-und-Julia-Situation. Rasch stellt sich Geldnot ein, und unser Erzähler muss etwas unternehmen, bevor Marcella ihn verlässt. Auf eine Zeitungsannonce hin besuchen sie ein herrschaftliches Anwesen namens The Pines, wo sie einfach nur logieren sollen. Priest, der Butler, gibt nur wenig Auskunft, wer der mysteriöse Herr ist, dem er dient und der sie eingeladen hat.

Jeden Morgen finden sie jeweils 50 Dollar auf ihrem Nachttisch – eine ansehnliche Belohnung für die nicht gerade anstrengende Aufgabe, einfach nur im Haus zu wohnen und sich bedienen zu lassen. Die Sommertage vergehen in eitel Müßiggang, doch der Herbst setzt Marcella und unserem Chronisten zu. Nach einem Zechgelage fordern sie Priest ultimativ auf, dass sich sein Herr ihnen zeige.

Die Terrassentür öffnet sich, ein Mann erscheint und ein Windstoß bläst die Vorhänge ins Zimmer. Ein Sturm ist im Anzug. Der Mann nennt sich Kevin Malone, Herr über The Pines und ein Wirtschaftsimperium, kurzum: ein Selfmademan. Auf die Frage, welche Aufgabe seine Besucher hier erfüllen, erzählt er erst seine Lebensgeschichte, bevor er mit der Wahrheit herausrückt. Nun müssen sie leider gehen, denn durch die Kenntnis der Wahrheit können sie nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen…

Mein Eindruck

„Kevin Malone“ erzählt die Geschichte von Adam und Eva in völlig neuem Gewand und mit einer witzigen Deutung ihrer Vertreibung. Das Paar ist dem Gott dieses Paradieses nur solange von Nutzen, wie es sich im Stande seiner Unschuld bzw. Unwissenheit befindet: Es sind Marionetten, die sich nur dann „natürlich“ verhalten können, solange sie nicht wissen, dass sie Marionetten sind.

Der Sündenfall ist unausweichlich, doch diesmal gibt es eine Abweichung. Während unser Erzähler das Anwesen verlassen muss, zieht Marcella es vor, hier als staubwischendes Hausmädchen den Rest ihrer Tage zu fristen. Sie scheut offenbar die Verantwortung, für sich selbst sorgen zu müssen. Lieber in Unfreiheit dienen, als in Freiheit zugrunde gehen. (Dazu hätte Miltons Luzifer einiges zu sagen.)

Doch wie steht es um die Freiheit und Unschuld dieses Kevin Malone, fragt unser Chronist. Kann es ein Mann wie er nicht ahnen, dass er besessen ist und selbst nur eine Rolle spielt?

Die Übersetzung

S. 75: „von der fast flüssigen Masse[x] abscheulicher Fäulnis…“: Das X ist überflüssig.

S. 84: „das Haus und die Geheimnisse des Mannes, die (!) gesammelt hatte…“: Das Relativpronomen „die“ bezieht sich nicht auf die Geheimnisse, sondern auf deren titelgebenden Sammler. Es muss also nicht „die“, sondern „der“ lauten.

S. 97: „Er betrat Foyles.“ Da ich selbst vor rund 40 Jahren in diesem einstigen Buchkaufhaus an der Charing Cross Road nach interessanten Werken fahndete, kann ich sagen, dass es sich eigentlich „Foyle’s“ geschrieben hat. Die Buchladenkette ist längst verschwunden.

S. 98: „Sie (…) stellten die Verbrechen der (!) als Beweis der Machtlosigkeit des Gesetzes und als völligen Zusammenbruch der Norm.“ Damit der Satz einen Sinn ergibt, muss es „dar“ statt „der“ heißen.

S. 130: „Bat-Mitzwä“: Gemeint ist offenbar die Zeremonie Bar-Mitzwa, die Juden für ihre nun mannbaren Söhne ausrichten.

Unterm Strich

Dieser zweite Band der Anthologie mit herausragenden Fantasy-Erzählungen bietet meist ein hohes Niveau hinsichtlich der Qualität der Texte. Durchgehend fand ich alle Geschichten leicht zu lesen, teils spannend, teils bewegend, teils amüsant. Nur der Text von Michael Bishop erschien mir etwas zu verkopft, um leicht verständlich zu sein.

Die Autoren folgen alphabetisch hintereinander, Bishop am Anfang und Williamson, Wellen und Wolfe am Schluss. Am besten gefiel mir der Yankee-Humor von Mrs. Twiller, die es mit dem Höllenfürsten persönlich aufnimmt und nicht widerstehen, ihn um seine Kunstobjekte zu erleichtern.

Die Übersetzungen weisen relativ wenige Druckfehler – siehe oben – auf, warten aber mitunter mit sehr verwirrenden Druckfehlern auf. Auch der sprachliche Stil ließe sich, wie so oft in den Heyne-Übersetzungen, noch verbessern.

Taschenbuch: 282 Seiten,
Aus dem Englischen von diversen ÜbersetzerInnen.
ISBN 9783453-02775-6

https://www.heyne.de

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