Terry Carr & Martin H. Greenberg (Hrsg.) – Traumreich der Magie. Höhepunkte der modernen Fantasy. (33 Erzählungen)

Abwechslungsreiche Fantasy- und Horror-Auswahl

Diese umfangreiche Fantasy-Anthologie schloss 1980 nach den Worten der Herausgeber eine Marktlücke: Sie enthält 33 erstklassige phantastische Erzählungen, die alle zuerst in einem einschlägigen Magazin veröffentlicht wurden. Das thematische Spektrum von Autoren wie Bradbury, Lovecraft und Heinlein reicht von echtem Horror bis zu verspielter Phantastik, die von realistischer Darstellung kaum zu unterscheiden wäre – gäbe es da nicht ein kleines verräterisches Detail.

Es dürfte nicht verwundern, dass Autoren wie Horace L. Gold und Anthony Boucher selbst Herausgeber solcher Magazine waren: Gold war bei „Galaxy“ und Boucher baute „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“ auf. Ihre Hausautoren wie Sturgeon, Vance oder Leiber haben hier daher ebenfalls einen verdienten Auftritt. Die Illustrationen, die Johann Peterka extra für die deutsche Ausgabe anfertigte, runden diesen Erzählband ab.

Die Herausgeber

Der US-amerikanische Autor und Anthologist Terry Carr (1937-1987) gab bereits Anfang der 1950er Jahre Fanzines heraus und schrieb Artikel. Unter dem Einfluss der Beatniks versuchte er sich als Autor im Mainstream, allerdings erfolglos. 1961 zog er nach New York City um und ging ins Verlagswesen, wo er Lektor und Literaturagent wurde.

Zusammen mit Donald W. Wollheim, der später den DAW-Verlag gründete, initiierte er 1965 die Reihe „World’s Best SF“ und ab 1971 die Anthologiereihe „Universe“, die nur Erstveröffentlichungen brachte. Nach mehreren Roman-Kooperationen erschien 1978 sein erster SF-Alleingang mit dem Roman „Cirque“, der deutsch bei Heyne erschien. Carr veröffentlichte über 50 Anthologien, wofür er 1987 posthum mit dem HUGO Award als bester Herausgeber geehrt wurde.

Martin Harry Greenberg hat zahlreiche Anthologien veröffentlicht, z.B. zusammen mit Isaac Asimov und Joseph Olander.

DIE ERZÄHLUNGEN

1) H.P. Lovecraft: Die Ratten in den Mauern (The Rats in the Walls, 1924)

Ein Amerikaner aus Massachusetts hat in England das seit alters her verfluchte Gemäuer der Priorei Exham wieder bezogen. Es ist der 16. Juli 1926. De La Poer, vormals Delapore, ist der Letzte seines Geschlechts, das in der Priorei seit dem 13. Jahrhundert gelebt hatte, bis Walter de la Poer im 17. Jahrhundert (genauer: 1610) nach Virginia auswandern musste. Dort nahm die Familie schließlich die Namensform Delapore an, denn Adlige waren in der neuen Demokratie nicht gern gesehen…

Doch die Grundmauern der Priorei sind weitaus älter als das 13. Jahrhundert. Sie stammen, wie der letzte Spross herausfindet, sogar noch von den Römern des 2. Jahrhunderts. Wie an Inschriften abzulesen, wurden hier abscheuliche Riten für die „magna mater“, die Fruchtbarkeitsgöttin Kybele, und für den dunklen Gott Atys abgehalten. Wie De la Poer herausfindet, stammen die ältesten Mauern noch aus jungsteinzeitlicher, „druidischer“ Zeit, und wer weiß, was damals im Tempel alles geopfert wurde…

Nach einer Woche hört De la Poer bzw. sein treuer Kater „Nigger“ das erste Trapsen und Trippeln in den Mauern seines Schlafgemachs. Auch alle neuen Katzen sind aufgeregt. Zusammen mit seinem Nachbarn Captain Norrys untersucht Walter den Keller und stößt auf den Altarstein der Kybele. Doch Norrys entdeckt, dass darunter noch eine Etage sein muss. Mit mehreren Gelehrten, darunter „Archäologen“, erforscht man den Tunnel unter dem Altarstein. Massenhaft Skelette, die Knochen von Ratten zernagt, bedecken die Treppe.

Doch das Schlimmste kommt erst noch: eine unterirdische Stadt aus uralter Zeit, in der nicht Menschen, sondern die Ratten das Kommando hatten. Angeführt werden sie von Nyarlathotep, einem der Großen Alten, der im bodenlosen Abgrund haust und nun auch auf de la Poer seinen unheilvollen Einfluss ausübt…

Mein Eindruck

Wie „Schatten über Innsmouth“ ist „Ratten“ eine Geschichte über Degeneration in einer Familie (genau wie in HPLs eigener) und was daraus wurde. Nur verstößt hier die Form der Degeneration gegen so große und viele Tabus, dass man es hier nicht wiedergeben kann. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes unaussprechlich.

2) Abraham Merritt: Mord im Geisterwald (The Woman of the Wood, 1926)

Nach seinen Kämpfen im Ersten Weltkrieg versucht sich McKay in den Wäldern der Vogesen zu erholen. Die Luftkämpfe und viele andere grauenerregende Anblicke haben in seiner Seele narben hinterlassen. Die berge umgeben einen schönen, von Wald umringten See. An dessen Ufer stehen einander zwei Häuser gegenüber. Im Wirtshaus logiert McKay recht angenehm, nun will er das andere haus aufsuchen, um hallo zu sagen. Denn dort hat der Friede des Waldes eine Lücke, eine Wunde. Sein Gastwirt sagt, dort wohne der alte Polleau mit seinen zwei Söhnen. Der Wald ringsum belagere ihr Anwesen.

Die erste Begegnung verläuft nicht gut, denn der eine der beiden Söhne, Jean, schlägt seine Axt unvermittelt in eine schlanke weiße Birke. McKay, der sich mittlerweile mit dem Wald identifiziert, zuckt wie verwundet zusammen. Dann sieht er zu seinem Erstaunen, wie eine der benachbarten Kiefern sich hinabbeugt und dem Übeltäter mit einem Ast ins Gesicht schlägt, dass dieser niederstürzt. Die anderen ergreifen die Flucht, ihren Verwandten mit sich schleppend.

Die zweite Begegnung führt McKay in die Arme des Waldvolks. Eine schöne weiße Lady materialisiert sich aus den Nebeln. „Lasst ihn hören! Lasst ihn sehen! Lasst ihn sprechen!“, befiehlt sie. Und er nimmt das Waldvolk und dessen Klagen, Bitten und Singen wahr. Sie zeigen ihm die tödlich verwundete Birke, die in den armen einer Kiefern-Ritter liegt. Die Dame und ihre Untertanen erheben eine Forderung: „Töte sie! Töte sie!“ McKay geht wie unter einem Bann zum Haus der Polleaus. Doch auch dort schlägt ihm Hass entgegen. Die Polleaus haben viele Verwandte an den Wald verloren, weil sie die Bäume, anders als vor der Revolution, endlich als Feuerholz verwenden dürfen.

Die dritte Begegnung fordert Blut…

Mein Eindruck

Die seelischen Wunden des amerikanischen Kampffliegers spiegeln sich in den Kämpfen, die selbst noch im abgelegensten Ort zwischen Mensch und Natur stattfinden. Die Natur ist beseelt und hat sich offenbar gegen ihre Gegner, die Polleaus, verschworen. Dabei sind diese Menschen nunmehr frei – frei von den Vorschriften der Adligen, die ihre Vorfahren aufhängten, weil sie mal einen Ast oder einen Schössling gefällt hatten. Doch die befreiten Waldbauern haben einen Fehler gemacht: Sie haben das Recht der Natur, das die Adligen beachteten, vergessen und missachtet, nun zahlen sie, Generation um Generation, einen hohen Preis dafür.

Bemerkenswert ist indes, dass McKay einem mittelalterlichen Ideal anhängt, als er dem Waldvolk begegnet. Die Feen bestehen aus einer Königin à la Titania, ihren Birken-Jungfern und deren schützenden Kiefern-Rittern. Durch diese Darstellung, die jedem gebildeten Amerikaner aus den Artus-Sagen und den Shakespeare-Dramen geläufig war, erweckt der Autor der Eindruck, ein gerechter Kampf werde von der Natur gegen die menschlichen Eindringlinge geführt. Das erfolgt analog zu dem Endkampf der Nationen im Ersten Weltkrieg. McKays seelische Wunden öffnen sich. Doch er kann nicht neutral bleiben, wie es die Wilson-Doktrin verlangt. Der Wald übernimmt die Regie, und wie stets im Kampf auf Leben und Tod gibt es Opfer.

In dieser packenden und bezaubernden Erzählung bleibt dem französischen Gastwirt die Aufgabe überlassen, das Urteil über den Amerikaner zu fällen. Wie es ausfällt, darf hier nicht verraten werden. Aber die Warnung an die USA ist deutlich: Wo immer die Amis eingreifen, um den Bedrängten und Bedrohten beizustehen, werden sie Blut vergießen und Schuld auf sich laden.

3) Horace L. Gold: Der Ärger mit dem Wasser (Trouble With Water, 1948)

Herman Greenberg ist ein braver Würstchenbudenbetreiber auf Long Island, der Vater einer erwachsenen Tochter und Gatte von Esther, die Herman unterm Pantoffel hat und Rosie unbedingt unter die Haube bringen will. Wer könnte es Herman verdenken, dass er einmal seine Ruhe haben und angeln gehen will? Den Streit mit der keifenden Esther hat die Angelrute allerdings nicht heil überstanden, was Hermans Laune nicht gerade hebt.

Als er einen grünen Hut als einzige Beute ins Boot zieht, wundert er sich noch, aber als ein grünhäutiger Wassergnom seinen Hut höflich zurückhaben möchte, da platzt Herman der Kragen. Er zerfetzt den Hut in kleine Stücke. Das hätte er wirklich nicht tun sollen, denn der Gnom ist für den Fischbestand und die Regenfälle entlang der Ostküste zuständig. Er belegt den Menschen mit einem Fluch, um ihn Respekt vor dem Kleinen Volk zu lehren.

Anfangs ist Herman noch ungläubig, doch schon bald muss er die bittere Wahrheit anerkennen: Das Wasser scheut vor ihm zurück. Ja, es explodiert geradezu aus dem Glas, wenn er dieses in die Hand nimmt. Das wirkt sich besonders verheerend aus, als Rosies Verehrer zum Abendessen kommt… Niemand versteht Herman natürlich. Und der Arzt will ihn sogar einweisen lassen. Nur Mike, der irische Polizist, versteht den Ärger, den man mit dem Kleinen Volk haben kann. Aber er hat einen Tipp: Herman kann zumindest Bier trinken – es funktioniert! Und wenn der nun dauerbesoffene Jude es nun auch noch schafft, dem Wassergnom Zucker zum Zeichen seiner ehrlichen Reue zu schenken, dann wäre er erlöst. Doch wie bekommt man a) Zucker unaufgelöst hinaus auf den See und b) wie rudert man ein Boot durch die Luft?

Mein Eindruck

Diese Story ist zwar sehr altmodisch in ihrem kulturellen Setting anno 1929, aber immer noch eine der humorvollsten Geschichten, die jemals in Fantasy und SF geschrieben wurden, insbesondere natürlich über Wasser – und dessen unerwartete Bewohner. In diesem Band ist es die zweite ökologisch orientierte Geschichte.

4) Cyril M. Kornbluth: Dreizehn Uhr (Thirteen O’Clock, 1941)

Eine wunderschöne, altmodische Fantasy-Story, die in unserer Realität beginnt. Peter Packer ist Konstrukteur, doch als er eine von seinem Großvater geerbte Uhr findet, auf der es 13 Uhr schlägt, findet er sich in einem Zauberland wieder.

Die junge attraktive Hexe Melicent bittet ihn um Beistand gegen den bösen Zauberer Amarish, der alle nichtlizenzierten Zauberer verfolgt und einsperrt. Wie sich zeigt, hat Peters Großvater eine Menge damit zu tun: Er hat das Zauberland nach den Leitsätzen der freien Marktwirtschaft umgekrempelt: mit den Ellenbogen. Da muss er wohl etwas falsch aufgefasst haben.

Mein Eindruck

Auch dies ist wieder eine von Kornbluths schönen Satiren auf den Kapitalismus und das freie Spiel der Kräfte in der Marktwirtschaft. Diesmal ist nicht einmal das Traumland davon verschont worden, was natürlich das Ende aller Magie und aller Träume bedeutet. Eigentlich ist das die konsequente Übertragung der bitteren Realität auf die Fantasywelten eines Tolkien oder Lewis – und letztlich ebenso traurig.

5) Clark Ashton Smith: Der weiße Wurm (The Coming of the White Worm, 1941)

Der Hellseher Evagh, der an der Küste von Mhu-Thulan lebt, wird eines Tages Zeuge eines höchst merkwürdigen Geschehens. Nachdem die Fischer, die unter seinem Klippenhaus leben, bereits missgebildete Tiere gefangen haben, taucht nun eine Galeere aus dem Norden auf, die von toten Ruderern bemannt sind: Sie alle sind aus Marmor und widerstehen den Flammen, die Evagh an das unheimliche Schiff legen lässt.

Doch dies ist nur der Vorbote für den riesigen Eisberg, der eines Nachts in der Bucht der Fischer anlegt und sie alle zu Marmor verwandelt. Nur Evagh wird von der eisigen Verwandlung verschont, denn, wie ihm zwei verwandelte Zauberer anbieten, soll er sich ihnen anschließen, um dem Weißen Wurm zu dienen, der an der Spitze dieses Eisbergs lebt. Es bleibt Evagh nichts anderes übrig, soll er nicht das Schicksal der Fischer teilen.

Es sind acht Zauberer inklusive seiner Wenigkeit, die dem Weißen Wurm ihre Leibeigenschaft geloben, damit er ihnen Wissen sonder Zahl gewähre. Und überall wohin der Eisberg kommt, verdorren die Gärten und die Häfen erfrieren unter einer Eisschicht. Doch eines Tages bemerkt Evagh während der täglichen Huldigung, dass sie nur noch sieben sind – ein Zauberer fehlt. Als einer nach anderen verschwindet und sich der Leib des Wurms zu wölben beginnt, beschleicht Evagh ein finsterer Verdacht …

Mein Eindruck

Diese schöne, stimmungsvolle Erzählung handelt von Verrat und gerechter Bestrafung. Doch diesmal ist der Zauberer der Gute, nicht der Hinterhältige, und dem Gott-Dämon, der ihn getäuscht hat, wird von seiner Hand die gerechte Strafe zuteil.

Der Eisberg des Wissens, der von jenseits des Nordpols kommt, ist die perfekte Metapher für die Wissenschaft, welche sowohl die emotionale Wärme verjagt, die unter den Menschen herrscht, als auch diejenigen betrügt, die sich ihr unterwerfen. Zurück bleibt ein gottloses Universum, das es neu wiederaufzubauen gilt.

Diese Geschichte ist als 9. Kapitel perfekt in das fiktive „Buch des Eibon“ eingegliedert. Von dessen „Existenz“ erfuhren die Leser jener Pulp-Magazine aus gleich drei verschiedenen Quellen gleichzeitig (wie den Anmerkungen zu entnehmen ist): von CAS, von HPL und aus einer Geschichte von Mary Heard, die HPL als Ghostwriter für sie schrieb. Kein Wunder also, dass CAS Anfragen erhielt, wo denn dieses tolle Buch zu erwerben sei. Es wartet bis heute auf seine Fertigstellung.

6) Theodore Sturgeon: Gestern war Montag (Yesterday Was Monday, 1941)

Harry Wright erwacht am Mittwoch, aber gestern war Montag. Was ist nur aus dem Dienstag geworden, fragt er sich und versucht aufzustehen. Als Automechaniker sollte er rechtzeitig in der Autowerkstatt seines Bosses antreten. Durch verschiedene Umstände landet er bei Iridel, dem Manager des Mittwochs. Die Bühne des Mittwochs wird gerade arrangiert, aber Dienstag? Nee, der ist schon abmontiert worden. Harry beobachtet schon seit seinem Aufbruch die kleinen Männchen, die er für Jungs gehalten hat, aber in Wahrheit sind es Zwerge. Und wie sie schuften! Sie schleppen alle möglichen Kulissen und Requisiten.

Okay, soweit alles klar, aber Harry hat trotzdem ein Problem: Er befindet sich im falschen Tag. Und wie soll er da seine, äh, Rolle spielen können? Iridel weiß Rat: Da kann nur der Produzent helfen. Der Produzent ist die höchste Instanz. Diese Eminenz verfügt, dass Harry in den Dienstag gebracht wird, doch selbst diesen simplen Auftrag verbockt der nicht gerade helle und völlig überforderte Iridel: Harry landet im Limbus. Das ist die „Zeit“ zwischen zwei Tagen.

Doch nicht verzagen – Gurrah fragen! Gurrah ist der unverschämte Vorarbeiter im Limbus, doch Harry haut ihm als erste Amtshandlung eine harte Linke in die hässlich Visage. Das imponiert dem Unterdämon gewaltig. Er fragt, welches Problem Harry habe, der gibt ihm bescheid – und Gurrah lacht sich einen Ast! Endlich bietet sich ihm nämlich eine Chance, Iridel so richtig eins auszuwischen. Nach einem Anruf Gurrahs bei Obermotz Iridel hat Harry bei Gurrah einen Stein im Brett. Als Lohn wird er zurückgeschickt – und es scheint sich sogar um den richtigen Tag zu handeln. Denn gestern war eindeutig Montag, oder?

Mein Eindruck

Der Autor schrieb diese feine, ironische Story 1941 für John W. Campbell jr., der heute mehr für sein SF-Magazin „Astounding Stories“ alias ANALOG bekannt ist. Das Fantasy-Magazin UNKNOWN war Campbells Spielwiese, aber leider auch sehr kurzlebig, wie uns die Herausgeber in der obligatorischen Vorbemerkung informieren. Nach dem Ende von UNKNOWN wechselte Sturgeon ins SF-Fach, wo er höchste Lorbeeren errang.

Harry Wright ist ein jedermann, der durch einen Fehler im System entdeckt, dass alle Szenen, die er lebt, lediglich Kulissen sind – und er nur ein Schauspieler. So hat er sein Leben bislang noch nicht betrachtet. Er ist dementsprechend verunsichert und aufgeregt, aber die Gewalten, die hier herrschen, nehmen seinen seltenen Fall glücklicherweise ernst und kümmern sich drum – auf erneut fehlerhafte Weise.

Wer sind aber diesen Gewalten, fragt sich Harry mit gemischten Gefühlen. Da ist zum einen der PRODUZENT, der sowohl den himmlischen wie auch den höllischen Gefilden angehören könnte. Dann ist da Iridel, ein nicht ganz fehlerfreier Manager der Tagesinszenierungen. Und schließlich ist da Gurrah, der ganz eindeutig ein sadistischer Vorarbeiter der Hölle ist. Alle seine Zuarbeiter stöhnen vor Leiden. Und Harry soll sich ihnen anschließen. Man sieht: Die Hierarchie des Jenseits ist wohlgeordnet. Nun muss Harry nur noch herausfinden, wo sich der ihm bestimmte Tag befindet. Denn jede Zeit braucht einen Ort, und das Zitat „die ganze Welt ist eine Bühne“ war noch nie so wahr.

7) Anthony Boucher: Sie beißen (They Bite, 1946)

Tarrant ist in den wüstenartigen Südwesten der Vereinigten Staaten geflohen und beobachtet gerade einen Flugplatz für Segelflieger – für das Militär. Doch sein Verfolger holt ihn ein: Morgan. Der weiß, was Tarrant drüben in China angestellt hat – was genau das war, tut nichts zur Sache. Morgan loszuwerden, ist Tarrants nächstes Ziel. Er lädt ihn auf eine Runde in der nächsten Kneipe ein.

In der Kneipe erfährt er von einem jungen Gast, der wie ein Student aussieht, dass es hier am Rande der Wüste noch andere Wesen gibt. Ein Alter, der sich nicht gern an Geistergeschichten erinnern lässt, brummt nur: „Sie beißen“ und verlässt das Lokal. Der Wirt erzählt sowieso nichts, sobald Tarrant erwähnt hat, dass er sich in dem alten Carker-Anwesen am Ende der Schlucht niederzulassen gedenke. Ein ebenfalls anwesender Sergeant des Segelflieger-Militärs flucht. Deshalb hält sich Tarrant an die Geschichten. Eine davon erwähnt, dass eines dieser kleinen, braunen, ausgedörrten Wesen – ein Carker – einmal einen ganzen Hund verschlungen hätte. Tatsächlich: Der Blutfleck ist neben der Jukebox immer noch zu sehen. Endlich sieht Tarrant eine Möglichkeit, Morgan loszuwerden. Er lädt ihn auf sein „Anwesen“ ein.

Kaum hat er Morgan mit seiner Machete erschlagen, schleppt er ihn in die Adobe-Hütte, vor der ihn alle in der Kneipe gewarnt haben. Da liegt eine Mumie in einer Ecke, und in einer anderen steht eine kleine Statue aus Stroh und Bindfaden über einer großen, dunklen Schale. Ohne es zu ahnen, ist alles bereit für seine Opferung. Die Mumie erwacht zu unheimlichem Leben und entblößt scharfe Zähne. Als er ein Geräusch hinter sich hört, dreht sich Tarrant rasch um: ein Carker-Weibchen ist im Anmarsch. Er muss sich entscheiden, welchen Carker er zuerst erledigen will. Doch da spürt er einen scharfen Schmerz in seiner Hand – etwas hat zugebissen…

Mein Eindruck

Tarrant ist offenbar ein Verbrecher, der bislang dem Arm der Gerechtigkeit entschlüpft ist. Er fällt den Schutzgeistern der Wüste in die Hände. Ist dies seine gerechte Strafe, fragt sich der Leser. Aber in wessen Auftrag? Tarrant hat die Geschichte der Carker erzählt bekommen. Sie können Geister der Toten sein, aber auch indianische Schutzgeister – oder einfach nur ein sehr degeneriertes Wüstenvolk. Jedenfalls hat sich der Autor, der später das „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ gründete, stark vom Geisterglauben der indianischen Stämme im Südwesten inspirieren lassen. Man denke nur an die Kachina-Puppen. Wichtiger wäre mir aber die Frage, was Tarrant in China verbeochen hat: vor oder während des 2. Weltkrieges.

8) Henry Kuttner: Vielleicht Dämon (Call Him Demon, 1945)

25 Jahre nach jenen Ereignissen im Jahr 1920 kehrt Jane nach Los Angeles zu jener Villa zurück, mit der so viele Erinnerungen verbunden sind. Das einst prachtvolle Haus ist verfallen, der Garten verwildert.

Damals kommt sie als Neunjährige in das Haus, in dem ihre Geschwister und ihre Tanten und vier Onkel wohnen. Doch gleich am ersten Tag erkennt sie, dass einer der Onkel irgendwie nicht zur Familie gehörte: Er erscheint ihr hohl. Die Erwachsenen ignorieren das, aber sie spüren etwas: Hunger. Beatrice, Janes älteste Schwester, bestätigt, dass dieser Onkel erst seit drei Wochen (oder so) anwesend sei. Sie nennt ihn Ruggedo, nach dem Gnomenkönig aus einem Märchen, und glaubt, dass sein echter Körper im Keller existiert und rohes Fleisch zum Essen braucht. Also kauft sie ihm welches. Jeden Tag, und das geht ins Geld. Als erstes pumpt sie Jane an.

Die Fütterung ist nicht nur ein Zeremoniell, sondern auch eine spezielle Pflicht und Verantwortung. Seltsamerweise müssen die vier Kinder – Jane bleibt vorerst zurück – auf den Dachboden. Dort durchqueren sie eine Art Dimensionstor und landen so im Keller. Dieser Übertritt erfordert nicht nur Mut, sondern auch eine Art Entspannung. Manche schaffen das erst im zweiten oder dritten Anlauf.

Diese Expedition muss jeden Tag durchgeführt werden, denn wer weiß, was passiert, wenn der Hunger des zweiteiligen Monsters nicht gestillt wird? Das findet Jane heraus, als Bobby, das jüngste ihrer Geschwister, eine Idee aus dem „Dschungelbuch“ aufgreift und beschließt, das Monster zur Strecke zu bringen. Dumm nur, dass er für diese List einen Köder benötigt: Großmutter Keaton…

Mein Eindruck

Verkehrte Welt: Die Erwachsenen verhalten sich dumm wie Kinder, und die Kinder verhalten sich mutig und verantwortungsvoll wie Erwachsene. Die beiden Welten sind strikt getrennt, und unter den Kinder herrscht nicht nur eine Hierarchie – Beatrice ist die Älteste – sondern auch Telepathie. Das ist wirklich nützlich, wenn sich schnell einig werden will. Kurios ist auch die Methode, durch ein Dimensionstor in den Keller zu gelangen, wo das Monster haust. Wie die Kinder das herausgefunden haben, berichtet Jane nicht.

Die Geschichte ist ein Heldenepos, und die helden sind die Kinder. Das Ungeheuer hat ziemlich verdächtige Ähnlichkeit mit einem Drachen. Kein Wunder, dass er ständig hungrig ist. Auch dieser Bursche ist telepathisch veranlagt: Jeder im Haus kann seinen zunehmenden Hunger als unterschwellige Anspannung spüren und ist erleichtert, wenn er satt ist. Bobby, der Drachentöter, ist ohne jedes Gewissen oder Verantwortungsgefühl, denn sonst würde er Oma Keaton nicht opfern. Aber er ist ein genialer Drachentöter.

Indem der Autor via Jane diesen Drachentöter als „Dämon“ bezeichnet, verleiht er der Geschichte eine finstere Pointe. Sie stellt die Botschaft noch einmal auf den Kopf. Wenn dies eine Verarbeitung des Heldenepos „Beowulf“ ist und der Drache im Keller eine Art Grendel, dann muss es auch einen Drachentöter geben – nur dass dieser sich durch seine Tat auf die gleiche Stufe wie das Monster stellt.

Dass die ganze phantastische Geschichte symbolisch verschlüsselt ist, dürfte auf der Hand liegen. Aber jeder Leser muss den Schlüssel selber finden.

9) Catherine Lucille Moore: Der Dämon (Daemon, 1946)

Der Brasilianer Luiz der Einfältige (el Bobo) erzählt einem Pater seine seltsame Geschichte, die von Segelschiffen, einsamen Inseln und Dämonen handelt. Luiz wuchst als Waisenkind bei seiner Großmutter in Rio de Janeiro auf, doch als diese starb, musste er sich allein durchschlagen und geriet in eine Kneipe am Hafen. Kaum hatten ihn die Matrosen besoffen gemacht, bis er die Besinnung verlor, wurde er auch schon auf den Segler „Dancing Martha“ verschleppt, der mit der nächsten Tide auslief. Bobo entdeckt, dass er schanghait worden ist.

Hier entdeckt Bobo erstmals die Dämonen. Sie stehen, wie schon in der Taverne, neben den Matrosen und starren Bobo an. Der schlimmste Dämon ist aber der des amerikanischen Kapitäns Jonah Stryker: Er ist scharlachrot, blind und freut sich stets, wenn er etwas Boshaftes tun kann. So wie in jedem Fall, in dem Bobo ein ungeschriebenes Bordgesetz bricht, von denen es unzählige gibt. Bobo muss beim Koch Zuflucht suchen, auch wenn er dort nur Reste zu essen bekommt. Der einzige, der über keinen Dämon verfügt, ist Bobo selbst. Nur vor dem des Kapitäns hat Bobo Angst, doch er hat auch Mitleid für Stryker, und den macht dieses Mitleid noch wütender.

Einziger Lichtblick an Bord ist der Passagier Shaughnessy, ein todkranker Ire mit der Schwindsucht. Dieser Reisende hat viel von Griechenland gesehen, einem sagenhaften Land, von dem Bobo noch nie gehört hat und von dem ihm „der Shaughnessy“ viele Geschichten erzählt: von Odysseus und dessen Irrfahrten, von Zauberinnen, Meeres- und Baumnymphen sowie vom Meeresgott Poseidon. Sind das auch Dämonen?

Um dem Zorn des Kapitäns zu entgehen, springt Bobo nahe einer Insel über Bord. Hier wollen die Männer frisches Wasser fassen. Bobo versteckt sich. Als er erwacht, ist nur noch der Shaughnessy da. Der Ire weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat und bringt Bobo bei, wie er auf der einsamen Insel überleben kann. Der Dämon des Shaughnessy wird immer heller, je schwächer sein Wirt wird, und als dieser stirbt und Bobo ihn begräbt, erreicht der Dämon die Helligkeit eines Sterns, so dass Bobo die Augen schließen muss.

Danach ist die Insel nicht mehr die gleiche. Der Dämon ist zwar weg, aber dafür sieht Bobo ein Einhorn, das keine Angst vor ihm hat, und Nymphen überall: in Bäumen, in Wassern, auf dem Berg. Diese griechischen Götter nennen sich „ninfas“ und unterstehen dem „Meister“, dem Großen Gott Pan. Doch alle fürchten sich vor den Menschen, die über eine Seele verfügen. Da Bobo diese nicht vorzuweisen hat, wird er einer von ihnen.

Alles ändert sich, als Jonah Stryker zur Insel zurückkehrt, um alle Zeugen zu beseitigen. Shaughnessy ist tot, doch Fußspuren verraten ihm, dass Bobo lebt. Doch sobald Stryker das Kreuz vom Grab des Iren verbrannt hat, zeigt sich Bobos mächtiger Verbündeter: Pan spielt seine Flöte und bewirkt seine ihm eigentümliche Macht – Panik…

Mein Eindruck

Das Erstaunlichste an dieser Story nicht so sehr das Auftreten griechischer Götter, sondern die Darstellung von Seelen als Dämonen. Das Wort „daímon“ hat zahlreiche Bedeutungen, wie das „Lexikon der griechischen und römischen Mythologie“ erklärt – von Homer über die volkstümliche Auffassung bis zur philosophischen Idee. Keinesfalls aber ist hier die christliche Bedeutung als „böser Geist, Teufel“ gemeint. Vielmehr kommt die volkstümliche Auffassung vom Daímon als einem persönlichen Schutzgeist der Darstellung der Autorin am nächsten. Wichtig ist das Merkmal, dass der daímon an sich weder gut noch böse ist. Die einzige Ausnahme bildet der Dämon, den Jonah Stryker sein Eigen nennt. Dieser Dämon zeigt im Finale seine wahre Macht…

Das Auftreten der altgriechischen Götter erinnert mich an die Fantasygeschichten, die der amerikanische Autor Thomas Burnett Swann in den siebziger Jahren schrieb. Sie sind einzigartig in ihrer romantische Verklärung jener versunkenen Welt Pans, die, so die auch hier wiederholte Legende, mit der Geburt Jesu ihr Ende fand. Tatsächlich vertrieb das unter Petrus und Paulus aufkommende Christentum die alten Götter aus dem Mittelmeerraum. Daraus resultiert die Tragik der alten Götter: Sie mussten fliehen, an Orte, wo sich keine getauften Seelen befanden, so wie die Insel, auf der Bobo, der Seelenlose und Einfältige, ihnen begegnet und an sie glaubt. Nur der Glaube verleiht ihnen Substanz. Solche Orte werden jedoch immer seltener, und Swann schrieb wunderbare Geschichten über letzte Einhörner und Meeresgötter.

SPOILER!

Das Finale der Geschichte könnte glatt von Poe stammen. Der scharlachrote Dämon macht sich über seinen Wirt her, von dem er zeit seines Lebens abhängig war. Die poetische Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf. Aber wird dies auch die Wiedergeburt der alten Götter bedeuten? Wohl kaum, denn Bobo erzählt seine Geschichte nicht Pan, sondern einem christlichen Pater, der mit Strykers Schiff gekommen ist…

10) Ray Bradbury: Das schwarze Riesenrad (The Black Ferris, 1948)

Hank und sein bester Freund Pete freuen sich, dass Mr. Coogers Zirkus endlich auch in ihre kleine Stadt gekommen ist. Die Hauptattraktion ist das gewaltige schwarze Riesenrad. Dass es damit eine besondere Bewandtnis hat, will Pete seinem Freund erst nicht glauben. Deshalb legen sie sich auf die Lauer, um Mr. Coogers Machenschaften zu beobachten.

Wie Hank erwartet hat, betritt Mr. Cooger die Plattform, auf der das Riesenrad steht. In der Ticketbude sitzt ein buckliger Blinder, der nichts mitbekommt. Natürlich kann der Zirkusdirektor sein Riesenrad benutzen, wie es ihm gefällt. Doch das Riesenrad dreht sich rückwärts, weist Hank seinen Freund aufgeregt hin, und als es nach 25 Umdrehungen wieder stoppt, entsteigt ihm nicht Mr. Cooger, sondern ein Junge in ihrem eigenen Alter. Diesem folgen sie so rasch sie können.

Keiner glaubt Hanks offensichtlich haltlosen Behauptungen, dass der scheinbare Waisenjunge nur darauf aus sei, das Geld seiner Pflegefamilie zu klauen und dann wieder abzuhauen: Nur dass jeder einen harmlosen Waisenjungen und keinen erwachsenen Mr. Cooger suchen würde. Verdammt schlau, oder? Doch diesmal würden sie ihm einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Allerdings macht Hanks Vater ihm seinerseits einen Strich durch die Rechnung: Weil er zu spät nach Hause gekommen ist, muss er zur Strafe ohne Essen ins Bett – und zwar ohne Kleider, für alle Fälle.

Und so kommt es, dass Peter, der pünktlich am vereinbarten Ort gewartet hat, einen splitternackten Hank erblickt, der sich im kalten Regen eine Lungenentzündung zu holen droht. Hank schwatzt Pete seine Hose ab, denn die braucht er ja unter dem Regenumhang nicht, oder? Gebongt. Zusammen folgen sie einem Jungen, der schnurstracks auf das Riesenrad zuläuft…

Mein Eindruck

Diese Kurzgeschichte aus dem Jahr 1948 ist der Ursprung von Bradburys berühmtem Gruselroman „Something Wicked This Way Comes“ aus dem Jahr 1962. Das gibt jedenfalls der Herausgeber an. Und in der Tat hat die Handlung von „Something Wicked“ viel Ähnlichkeit mit der Story.

Der Clou, das ist klar, ist die Besonderheit des Riesenrads, einen Menschen zu verjüngen oder altern zu lassen. In diesem Sinne handelt es sich um eine besondere Art von Zeitmaschine. Die Pointe besteht nun darin, einen dieser beiden Verjüngungs- oder Alterungsvorgänge so zu manipulieren, dass Mr. Cooger nie wieder Pflegeeltern bestehlen kann. Idealistische Jungs kommen eben auf so ausgefallene Einfälle. Ob es ihnen gelingt, darf hier nicht verraten werden. Aber die Story ist irre schnell erzählt und mit einer tollen Gruselpointe versehen worden. So etwas bleibt im Gedächtnis.

11) Eric Frank Russell: Nicht erwünscht (Displaced Person, 1948)

Der Erzähler sitzt im Park seiner Stadt, um den Sonnenuntergang in all seiner farbigen Pracht zu bewundern. Neben sich auf der Parkbank bemerkt er einen distinguiert aussehenden Herrn in einem schwarzen Umhang. Nach dem letzten krieg muss es ihn wohl hierher in die Staaten verschlagen haben, vielleicht ein Arzt oder gar Maler oder Musiker.

Der andere sagt: „Ich liebe Musik“, ganz so, als könne er Gedanken lesen. Unser Chronist bittet ihn, mehr von seinem Schicksal zu erzählen. Und in der Tat: Der etwas melancholisch dreinblickende Herr erzählt, er sei vor der furchtbarsten Diktatur geflüchtet, die man sich vorstellen könne. Er habe eine Widerstandsbewegung angeführt, doch sie war zu schwach und schlug zu früh zu, daher scheiterte ihr Aufstand.

„Die Rache des Herrschers war furchtbar“, berichtet er trübselig. Unser Chronist will ihn aufmuntern: „Hier zumindest können sie sagen, was Sie wollen.“ Der andere verneint dies mit Bestimmtheit und erhebt sich. „Mein Name ist Luzifer“, sagt er leise und geht.

Mein Eindruck

Diese bekannte Kurzkurzgeschichte kommt ironisch daher, denn Luzifer ist ganz gewiss eine „displaced person“, als ein Vertriebener. Solche Personen gab es vor dem Dritten Reich, so etwa Albert Einstein zu Hunderten. Und nach dem Krieg waren sie auf dem Territorium der kommunistischen Systeme vielfach unerwünscht. Dass sich die Vertreibung auch auf metaphysischer Ebene abspielen könnte, würde der Leser nicht erwarten, und darauf basiert die Pointe.

Spätestens seit Miltons Epos „Paradise Lost“ aus dem 17. Jahrhundert wissen wir, dass Luzifer gar kein so übler Bursche war, wie ihn die katholische Kirche immer hingestellt hat. Ganz im Gegentum: „Besser ein Herrscher in der Hölle als ein Sklave im Himmel“. Dieser Haltung können viele US-Amerikaner, die sich ihre Freiheit vom Britischen Imperium erkämpft haben und jedes Jahr den 4. Juli als Tag ihrer Unabhängigkeit feiern, durchaus etwas abgewinnen. Zu schade, dass Luzifer so einen schlechten Ruf hat. Deshalb ist er auch im Land der Freien und Tapferen eine „unerwünschte Person“.

12) Robert A. Heinlein: Unsere schöne Stadt (Our Fair City, 1949)

Pete Perkins ist ein aufgeweckter Journalist in der schönen Stadt New York City. Einer seiner besten Kumpel ist der Parkplatzwärter mit dem Spitznamen Pappy, und der hat einen Freund namens Kitten. Kitten jedoch ist ein intelligenter Wirbelwind. Wie intelligent, findet der ungläubige Pete heraus, als Kitten eine Zeitung aus dem Jahr 1898 anschleppt, also von vor 75 Jahren. Darauf braucht er erstmal einen Whisky.

Sein Chefredakteur ist auch ungläubig ob Petes Geschreibsel, aber seine Meinung ändert sich, sobald ein Foto von Kitten gemacht und abgedruckt ist. Nachdem sich Pete über die schlampige Straßenreinigung in dieser schönen Stadt beschwert hat, wendet sich das Blatt: Die Polizei hat Pappy festgenommen. Ernster wird die Sache, als Kitten erst festgenommen und dann mit einer Bazooka abgeschossen werden soll. Offenbar hat der Oberbürgermeister etwas gegen negative Schlagzeilen – und vor allem gegen deren Ursache.

Der Gipfel der Entwicklung ist aber erst erreicht, als Pete entdeckt, dass Pappy gekidnappt worden ist. Wohin genau, sagt ihm Kitten mit einem Pappschild…

Mein Eindruck

Die scheinbar schwerelose Story wiederholt die libertären Themen, die Heinlein seit seinem gescheiterten Wahlkampf anno 1938 in Kalifornien vertrat: Die Bürgerrechte müssen geschützt werden, wenn die Freiheit nicht zum Teufel gehen soll, und zur Not auch mit den Waffen des Humors und der Satire.

Pete ist nur ein kleiner Schreiberling, als er gegen die Mächtigen im Rathaus aufmuckt, doch in Kitten hat er einen vielseitig verwendbaren Verbündeten. Kitten ist eine Metapher für die geballte Solidarität der freiheitliebenden Bürger, die sich Heinlein gewünscht hätte. Leider haben die meisten Bürger mehr Interesse daran, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen statt den Regen abzustellen.

13) Fredric Brown: Komm und werd verrückt (Come and Go Mad, 1949)

George „Nappy“ Vine ist ein Reporter bei der Stadtzeitung, der seit drei Jahren angeblich unter Amnesie leidet, was die Zeit davor anbelangt. Das ist aber nur eine Ausrede, um zu verbergen, dass er sich zuweilen wie Napoleon Bonaparte fühlt. Er kann sich an dessen erste Schlacht bei Lodi erinnern, und die fand 1796 statt. Dennoch kann George alias Nappy problemlos mit modernen Dingen wie Lichtschalter, Toastern und Schreibmaschinen umgehen. Aber er hat kein Auto. Dass seine Freundin Linda nie danach fragt, ist ihm sehr angenehm.

Heute will ihn der Chefredakteur sprechen. Es könnte eine Story werden, wenn George undercover in die Irrenanstalt von Dr. Randolph gehen würde, um dort gewisse Unregelmäßigkeiten aufzudecken. Dr. Randolph habe selbst darum gebeten. Über den Umweg eines Psychotherapeuten, den Georges Kollege und Cousin Charlie Doerr organisiert, gelangt George in die Nervenheilanstalt – zwecks Behandlung. Dass er Napoleon sei, glaubt ihm natürlich keiner.

Schon in der ersten Nacht will George aus der Anstalt ausbrechen. Eine Stimme gibt ihm Anweisungen, auf welchem Weg er noch in dieser Nacht zu gehen hat, damit ihm dies gelingt. Ist dies ein Traum? George ist sich nicht sicher. Die Stimme zeigt seinem Traum-Ich die umgebenden Welten, die die zahllosen Sonnen umkreisen, die am Nachthimmel zu sehen sind. Von dort sind Aliens gekommen, die an den Gehirnen der Erdlinge herumgepfuscht haben. Weil Georges Verstand nicht mehr unterscheiden kann, was Fakt und was Lüge, was wirklich und was Selbsttäuschung ist, wird er wahnsinnig…

Mein Eindruck

Die Story überzeugt von Anfang an nicht, denn es wird nie erklärt, warum George Vine überzeugt ist, Napoleon Bonaparte sei. Dies wird erst in der zweiten Hälfte halbwegs erklärt, aber nie in klaren Worten. Deshalb habe ich gerade mal die erste Hälfte, etwa 20 Seiten, problemlos bewältigt – und machte dann eine gelangweilte Pause. Glücklicherweise las ich weiter, denn in der Anstalt werden die Ereignisse richtig interessant. Doch auch hier wird die Darstellung so verwickelt dargestellt, dass sie nur nach mehrmaligem Lesen zu begreifen ist. Wie auch immer: George wird verrückt – und so ist der Titel gerechtfertigt. Ende und gut.

14) James Blish: Wenn die Wolfsblume blüht (There Shall Be No Darkness, 1950)

Schottland, anno 1950, auf dem Anwesen von Tom Newcliffe. Paul Foote, der Maler, ist gegenüber dem Unheimlichen besonders empfänglich. Das muss der Grund sein, warum er während einer Abendparty mit ein paar Intellektuellen auf einem Landhaus davon überzeugt ist, dass ein Ungeheuer am Piano sitzt, ein bekannter Virtuose, der gerade sein bekanntestes Stück aufführt. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass Jarmoskowski ein Werwolf ist. Und er schäkert gerade mit der hübschen Doris.

Foote ist leider auch dem Alkohol sehr zugetan, und das macht sich bald in seiner Sprechweise bemerkbar. Er verabschiedet sich rechtzeitig, bevor es zu verbalen Entgleisungen kommen kann. Beim Hinausgehen in die Diele lässt er ein silbernes Messer mitgehen. So ein Schutz gegen Werwölfe und ähnliches Gelichter könnte noch nützlich werden.

Kurz vor Mitternacht. Foote ist überzeugt, dass sich der Werwolf, angeregt vom Licht des Vollmonds, bald in seine wahre Natur verwandeln wird. Die Hunde drüben im Stall heulen bereits aufgeregt. Es muss am Geruch liegen, den Jarmoskowski in seinem Zimmer und auf der Terrasse verströmt. Dabei herrschen draußen Minusgrade über dem Schnee. Foote geht hinaus auf den Korridor und schleißt sich zu Jarmoskowskys Zimmer, doch die hübsche Doris kommt ihm zuvor. Etwas muss der Werwolf in der Handfläche dieser Lady gesehen haben, denn er schickt sie weg. Dann entdeckt er Foote in den Schatten und ruft ihn hervor. Sein Silbermesser hilft Foote nichts, als sich der Mann in eine Wolfskreatur verwandelt, wohl aber der silberne Kerzenständer, den Doris ihm reicht. Der Wolf huscht fort.

Foote hat einen solchen Lärm veranstaltet, dass sich die anderen Gäste belästigt fühlen und protestieren. Schonungslos konfrontiert er sie mit der wunderlichen Wahrheit. Keiner glaubt ihm – außer Christopher Lundgren, der schwedische Endokrinologe. Der hat eine perfekte wissenschaftliche Erklärung für den Lykanthropen, der unter ihnen aufgetaucht ist: Es liege eine übermäßige Ausschüttung des Pinealhormons der Zirbeldrüse vor. Nicht nur das, er erklärt auch Doris: Sie sei eine Komplizin des Werwolfs, seine magische Spürerin. Doris bekommt es mit der Angst zu tun. Sie will keine Werwolfgespielin sein. Später stellt sich heraus, dass sie doch übersinnliche Fähigkeiten besitzt.

Nur eines ist sicher, und das ist der Tod, meint er, und zwar der Tod des Wolfs. Alles, was sie brauchen ist Silber, aber das müssen sie sich selbst schmelzen. Anschließend laden fünf Leute jeweils ihr Gewehr mit einer solchen Silberkugel. Hallali, Herr Wolf! Doris weigert sich ängstlich, im Haus zurückzubleiben und folgt der ungewöhnlichen Jagdgesellschaft hinaus in die kalte Winternacht, wo sie üblicherweise ihren Skiurlaub verbringen…

Mein Eindruck

Doch die Jagd geht, und es gibt ein weiteres Opfer des Werwolfs. Doris, so Footes Plan, soll als Lockvogel dienen – ein Plan, der nur zu gut klappt. Wieder betätigt sich Foote als Lauscher an der Wand… Von anderen Werwolfgeschichten unterscheidet sich diese erstens durch ihre elitäre Gesellschaftsschicht: Pianist, Maler, Kritiker, Physiologe – und nur zwei Frauen. Solche Leute sind heute ziemlich aus der Mode und durch Film- und Popstars abgelöst worden.

Und zweitens durch ihre erstens physische und zweitens psychologische Erklärung des Werwolfphänomens. Diese machen die Handlung erst so faszinierend. Denn vordergründig passiert sehr wenig, von der gelegentlichen Jagd abgesehen. Doch innerlich herrscht eine steigende Anspannung. Foots hat einen Plan, doch er hütet sich, diesen zu früh zu offenbaren. Außerdem können sich bestimmte Figuren wie Caroline Redcliff unvermittelt von einem Menschen in einen Lykanthropen verwandeln. Es gibt Vorzeichen, und der Leser ist gut beraten, auf solche Vorzeichen genau zu achten.

Dass es mit dem Werwolf ein trauriges Ende nehmen wird, ist meilenweit im Voraus zu sehen, doch erstaunlich ist, dass der Autor den Spieß umdreht: Der Werwolf ist der Angehörige einer neuen Superrasse und will mit Doris eine Dynastie gründen. Sie hat nur wenig dagegen einzuwenden, weil sie ständig jemanden sucht, der sie liebt, doch Foote schon. Das Ende des Supermenschen ist tragisch und doch zwingend notwendig.

15) Jack Vance: Dunkles Wirken (The Loom of Darkness, 1950)

Lian der Wegelagerer ist in den Besitz eines magischen Reifs gelangt, als er gerade ein Grab für sein jüngstes Opfer aushob. Nun experimentiert er damit: Er kann sich damit unsichtbar machen – genial! Als ein Twk-Flieger auf seiner Riesenlibelle vorbeischwirrt, fragt er ihn, was es Neues gebe. Der Krieger berichtet von einer attraktiven blonden Hexe, die sich im Thambertal niedergelassen habe. Liane gibt dem Freund drei Gramm Salz dafür. Dann macht er sich auf den Weg zur Hexe.

Sie ist in der Tat eine Augenweide. Zu seinem Verdruss hat Lith nichts für seinen Charme, seine Stärke und seine Redegewandtheit übrig. Vielmehr lässt sie ihn fast von 20 Stahlmessern durchbohren. Ihre Überredungskunst ist unübersehbar, daher erklärt sich Lian – ausnahmsweise – dazu bereit, ihr, wie gewünscht, einen Dienst zu erweisen. Sie zeigt ihm einen entzweigerissenen Gobelin, der ein sehr schönes, grünes Flusstal zeigt: Aventira, ihre Heimat. Natürlich gibt es einen Haken, sonst hätte sie die fehlende Hälfte schon längst selbst beschafft: Chun, an dem keiner vorbeikommt, habe diese Hälfte, und er lebt an der Stätte der Seufzer nördlich der Stadt Kaiin.

Mit dieser Stadt Kaiin kennt sich Lian aus, denn er hatte dort schon ein paar „Geschäfte“ zu erledigen. Er nimmt den Auftrag an und rechnet mit drei Tagen für diesen Job, danach will er eine Belohnung. Die Stadt Kaiin ist zweigeteilt: In der neuen Stadt leben Bürger und Zauberer, in der Alten Stadt liegt die Stätte der Seufzer, wohin sich nur Narren wagen. Schon der Name „Chun“ versetzt die Zauberer, die im Gasthaus mit ihrer Kunst prahlen, in Panik.

Dennoch ist Lian gutes Mutes, denn hat er nicht einen Reif, der ihn unsichtbar machen kann? Ein alter Mann zeigt ihm den Weg zu der Höhle des Zauberers, wo der zerrissene Gobelin hängt. Auf dem Weg kommen sie an mehreren Leichen vorbei, die allesamt Entsetzen in ihren starrenden Augen tragen. Sie sind offenbar Chun, an dem keiner vorbeikommt, begegnet…

Mein Eindruck

Diese gewitzte Geschichte stammt aus Vances Episodenroman „Die sterbende Erde“, und Lian der Wegelagerer ist einer seiner bevorzugten Schurken darin. Lian ist so von sich selbst überzeugt, dass es ihm nicht in den Sinn kommt, seine neue Auftraggeberin, die er offensichtlich flachzulegen wünscht, könne mit seinem ärgsten Feind im Bunde stehen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Lians zweiter Kardinalfehler ist seine Selbstüberschätzung, was Chun den Unvermeidlichen angeht. Der macht seinem Beinamen alle Ehre, wie man sich leicht vorstellen kann.

Interessant sind übrigens die Behausungen oder was davon übrig ist. Einer sterbenden Erde angemessen, hausen einsame Zauberinnen in abgelegenen Hütten – offenbar verfügen sie über Schutzzauber gegen Räuber. Und Chun haust im Trümmerfeld einer verfallenen Altstadt. Während die Neustadt floriert, stellt er seine Falle in alten Gemäuern usw. auf, deren Wände gute Deckung bieten. Nur die Überreste seiner erstarrten Gegner bereiten Lian & Co. auf Chun den Unvermeidlichen vor. (Wie aus der Autobiografie des Autors hervorgeht, kannte Vance solche Ruinen und Slum-Bauten aus eigener Anschauung von seinen Handelsreisen auf einem Trampfrachter her, der den ganzen Pazifik befuhr.)

16) Donald A. Wollheim: Das Ding (The Rag Thing, 1951)

Mrs Larch ist nicht die reinlichste Vermieterin, und so kommt es, dass sie in dem Zimmer, das ihre Untermieter bewohnen, einen schmutzigen Lumpen hinter dem Dampfheizkörper vergisst. Es ist nicht irgendein Lumpen. Dieser hat Blut aufgesaugt von dem Fleisch, das sie daraufgelegt hatte. Während der Heizperiode, die plötzlich Mrs Larch im März abrupt beendet, entwickelt der Lumpen ein Eigenleben. Eines Tages findet sie ihren Untermieter Gorman erstickt vor…

Mein Eindruck

Der Alltag hält unzählige Formen von Schrecken bereit, und das Lumpending ist nur einer davon. Wollheims bekannte Kurzgeschichte (4-5 Seiten) ist zwar nicht der Knaller, aber detailgenau und stimmungsvoll geschrieben.

17) Philip José Farmer: Weitersegeln! Weitersegeln! (Sail On! Sail On!, 1952)

Es ist ungefähr das späte 15., frühe 16. Jahrhundert in einer seltsamen Parallelwelt. Admiral Kolumbus segelt gen Westen, um von Spanien aus nach Cipangu (Japan) zu gelangen, da ja jeder weiß, dass die Welt eine Kugel ist. Ein irischer Mönch, der dem alchimistischen Orden des Roger Bacon angehört, hält eine Funkverbindung mit seinem Bruder, der auf Gran Canaria mit ihm funkt. Leider gibt es jede Menge Störungen in der Verbindung, weil der blutrote leuchtende Mond noch nicht untergegangen ist.

Nach einem theoretischen Gespräch mit zwei Seeleuten über die Cherubim, die die Funkverbindung herstellen, werden am Morgen Riesenvögel gesichtet: ein sicheres Zeichen für die Nähe von Land, freuen sich die schon wochenlang segelnden Matrosen und lassen den Admiral hochleben. Doch dann stört ein merkwürdiges Geräusch die Freudenfeier. Es klingt, als würde eine riesige Saite angerissen. Der Lärm wird unerträglich, und so manche brave Teerjacke macht sich in die Hose. Umkehr ist unmöglich. Während der irische Rogerianer seinen Bruder in Gran Canaria verständigt, segeln Santa Maria, Pinta und Nina immer weiter an den Rand der unbekannten Gefahr…

Mein Eindruck

Parallelwelten mit einem alternativen Geschichtsverlauf waren nichts Neues, aber diese Story nimmt bereits das inzwischen weitaus berühmtere Werk „Ein Lobgesang für Leibowitz“ (1955-57) von Walter M. Miller vorweg, indem Farmer hier Religion und Wissenschaft nicht als Gegensatz präsentiert, sondern als wechselseitige Ergänzung. Wissenschaft und Technik werden einfach als Alchimie aufgefasst und mit religiösem Inventar wie etwa Engeln (Kurieren) erklärt. Erfindungen von Ketzern wie Roger Bacon und den Katharern (einmal wird Carcassonne erwähnt) sowie von einem Mann aus „Gotham“ sind keineswegs als Teufelswerk verbannt worden, sondern unter der Ägide der Rogerianer als nützliche Technik im Einsatz. Der Funker in Gran Canaria meldet sogar Luftballons der Türken vor Wien.

Soweit das irdische Inventar. Doch wie ist es um das kosmische bestellt? Der Mond ist blutrot und möglicherweise von den Portugiesen besetzt, denn diese funken den Spaniern um Kolumbus dazwischen. Am Schluss trifft die Flotte des Admirals auf ein mysteriöses Phänomen, das alles Mögliche sein könnte: der Rand der Weltenscheibe (siehe „Discworld“) oder ein Loch in eine Hohlwelt, wie etwa bei „Arthur Gordon Pym“ von Poe. Riesige weiße Vögel, die wie Albatrosse aussehen, stoßen allerdings nicht das unheilverkündende „Tekeli-li!“ aus, das wir aus Poes und Lovecrafts Erzählungen kennen.

Wer sich mit der phantastischen Literatur und der Religions- und Kulturgeschichte auskennt, findet in der Kurzgeschichte jede Menge Witze und humorvolle Anspielungen.

18) Shirley Jackson: Ein gewöhnlicher Tag – mit Erdnüssen (One ordinary Day, With Peanuts, 1954)

Mr Johnson spaziert gern durch seine Stadt und verteilt Erdnüsse. Er vernetzt seine Mitmenschen, verkuppelt sogar junge Leute, gibt Wohnungstipps weiter, ein wahrer Wohltäter also. Aber seine Frau ist das genaue Gegenteil: Sie stiftet Streit, wo sie nur kann. Morgen soll Mr Johnson mal ihren Part übernehmen.

Mein Eindruck

Eine kleine, feine Erzählung mit sehr genauen Detailbeobachtungen aus der großen Stadt. Shirley Jackson (1919-1965) ist am bekanntesten für ihren Roman „The Haunting of Hill House“ (1959), der von der „Encyclopedia of Science Fiction“ als „superbe Geistergeschichte“ eingestuft wird. Bemerkenswert ist das Konzept des Ausgleichs zwischen konstruktiv und zerstörerisch, das in den beiden Johnsons verkörpert ist. Es finden sich keine Angaben darüber, welcher Grund sie dazu bewegt hat – und woher Mr Johnson all das viele Geld nimmt, das er verteilt.

19) Robert Bloch: Der Zug zur Hölle (The Hell Bound Train, 1958, der einzige Non-SF-HUGO Award)

Schon Martins Vater war bei der Eisenbahn tätig, doch je mehr er trank, desto weniger wurde er eingesetzt. Immerzu sang er das Lied vom Zug zur Hölle, bis er eines Tages zwischen zwei Waggons zerquetscht wurde. Martins musste brannte mit einem anderen durch und ließ ihren Sohn im Hobo-Milieu zurück. Hier hat sich Martin mit kleinen Gaunereien durchgeschlagen, bis er eines Abends dem Zug zur Hölle persönlich begegnete.

Eigentlich dürfte dieser Zug gar nicht auf dieser Strecke fahren, aber sei’s drum, jetzt steigt der Schaffner aus. Der hinkt und hat einen sehr hohen Hut, als ob er etwas verbergen müsse. Er bestätigt, dass dies der Zug zur Hölle sei, der für alle Sünder etc. pp. vorgesehen sei, und ob Martin nicht einsteigen wolle. Will er nicht. Vielmehr handelt er clever wie ein Gebrauchtwagenhändler geschickt einen Deal aus. Er hat einen Wunsch frei, und er wünscht sich die Fähigkeit, die Zeit anhalten zu können, um den schönsten Augenblick des Glücks auskosten zu können. Der Schaffner gibt ihm eine silberne Taschenuhr und zeigt ihm, wie er den Drehknopf rückwärts drehen muss, um sich seinen Wunsch zu erfüllen.

Jahre vergehen, und Martin sieht ein, dass der Moment seines schönsten Glücks eines Tages kommen muss, aber dafür muss er richtig schuften. Er heiratet, bekommt einen Sohn, betrügt seine Frau, wird geschieden, rackert sich wieder nach oben – und auf einmal ist er alt. Auf einem Dampfer bricht er mit Herzproblemen zusammen. Aus dem Krankenhaus bricht er aus, bis er an die Gleise der Eisenbahn gelangt. Und siehe da: Schon kommt der Zug zur Hölle, um ihn abzuholen. Soweit, so gut: Er steigt ein und darf in den besten Wagen, wo alle Passagiere eine gute Zeit haben. Vielleicht ist dies ja der Augenblick des größten Glücks?

Mein Eindruck

Die Frage, die der verschmitzte Autor stellt, ist die ewige nach dem Sinn und Wert des Lebens, das ein Mensch seinem eigenen beimisst. Der Schaffner ist der ewige Widersacher, der dem Passagier eine einzigartige Chance zu bieten scheint: Eine silberne Taschenuhr, die die Zeit anhalten kann – gegen einen kleinen Aufpreis, versteht sich. Dass der ganze Teufelspakt einen Pferdefuß hat, findet Martin auf die harte Tour heraus. Die menschliche Natur ist nicht dafür ausgelegt, bis zum besten Moment zu warten, denn es könnte immer noch etwas Besseres danach kommen. (Ein Handy oder wenigstens eine Polaroid-Kamera zum Selfie-Knipsen wäre jetzt willkommen.)

Die Art und Weise, wie der Teufel ausgetrickst wird, ist typischer Yankee-Humor. Aber auch in Bayern und Österreich soll so ein Trick nicht unbekannt sein.

20) Manly Wade Wellman: Neun Ellen feinstes Tuch (Nine Yards of Other Cloth, 1958)

Die Geschichte spielt in den Bergtälern von Pennsylvania, wo die Bewohner noch sehr bodenständig sind und sich vereinzelt sogar noch an die Legenden der früheren Bewohner erinnern, an die der Ureinwohner. Eine dieser legenden dreht sich um den bösen Waldgeist Kalu, der auch Menschenfleisch nicht verschmähte. Doch seit Hosea Palmer, ein Mann reinen Herzens, ihn besuchte, herrscht Frieden in dieser kleinen Region die seitdem Hoseas Tal heißt.

Am Ende dieses Tals lebt die schöne, blonde Evadare allein, denn sie ist in die karge Berghütte vor ihrem früheren Arbeitgeber Shull Colbart geflüchtet, der ihr, seiner Näherin, nachstellte. Sie wird von Hohn Silver, dem Troubadour mit der Silbergitarre, gefunden. Er muss sie erst einmal mit einem essbaren Geschenk beruhigen, denn sie hält ihn für Shull. Dass sie sehr hungrig ist, merkt er schnell. Sie berichtet von einem geisterhaften Klopfen in der Nacht. Doch da klopft es erneut an ihrer Tür, und ohne auf Erlaubnis zu warten, tritt Shull Cobart ein, um sie mitzunehmen.

Cobart ist ganz in Schwarz gewandet und er trägt eine schwarzglänzende Fiedel bei sich, die, wie John und Evadare zu ihrem Leidwesen herausfinden, über die Magie des Bösen verfügt. Unter dem Bann der Fiedelmelodien kann sich John nicht rühren und Evadare sieht entsetzt, wie sich ihr Körper Shull Schritt um Schritt nähert. Doch Shull hat seine Prioritäten: Zuerst muss Silver John entsorgt werden – in neun Ellen Tuch, als Opfergabe für Kalu.

Und wo anders sollte dies geschehen als vor Hosea Palmers Grab, dass unweit der Hütte unter hohen Bäumen liegt? Doch wer hat Hosea hier begraben und dann auch noch eine Fürbitte für seine Seele eingeritzt? Shull und John sollen es früher herausfinden, als ihnen lieb ist…

Mein Eindruck

Ein Autor sollte über das schreiben, womit er sich auskennt – die anderen aber nicht. So machte es Manly Wade Wellman, indem er als die in Lieder kodierten Legenden und Sagen seiner Heimat, der Appalachen, verarbeitete, sehr zur Freude seiner städtischen Leser, die von dergleichen noch nie gehört hatten. In den Appalachen leben noch die alten Götter und Geister, und die eingewanderten Europäer müssen sich mit ihnen auseinandersetzen. So manche brave Ire hat lieber Reißaus genommen, und seine Familie mit ihm, auf dem Weg in einen hoffentlich friedvolleren Westen.

In dieser Geschichte sind zahlreiche Symbole miteinander verwoben. Vordergründig geht es um den Besitz einer jungen Frau, die das Böse, verkörpert in Shull Cobart, für sich beansprucht, um sie für seine obskuren Zwecke zu benutzen. Doch die Magie wird von der Musik ausgeübt, die die beiden Rivalen spielen: Shull mit seiner schwarzen Fiedel, John mit seiner Gitarre mit den Silbersaiten. Die Fiedel übt Zwang aus, die Gitarre belebt und befreit. Welche wird schließlich bei der Begegnung mit Kalu am Grab Hoseas die Oberhand behalten? Wie sich Kalu entscheidet, als er schließlich erscheint, darf hier nicht verraten werden. Aber seine Wahl macht den Weg frei für die Liebe…

21) Avram Davidson: Die Montavarde-Kamera (The Montavarde Camera, 1959)

London um das Jahr 1900, der Burenkrieg ist in Südafrika noch in vollem Gange. Weil er seinem Hut hinterherjagt, gelangt der ehrenwerte Mr. Collins an die Schwelle von Mister A.A. Azels Laden. Kein einziges Objekt schmückt die Auslagen dieses Dandys, aber als Mr. Collins erwähnt, er sei ein Freund der Fotografie, erscheint in einer dunklen Ecke ein Ungetüm von Kamera. Sie stamme von Monsieur Montavarde persönlich, versichert Azel. Damit habe der Lyoner Künstler, ein Schüler Daguerres, bereits 1848 die Barrikaden von Paris abgelichtet – vermutlich das erste Kriegsfoto überhaupt.

Aber eine andere Tatsache macht Azels Offerte ein ganz klein wenig anrüchig. Denn Montavarde steht im Ruf, damit auch das Bild „Die schwarze messe“ vor dem Leichnam einer längst toten Kurtisane, La Manchette, aufgenommen zu haben. Und wer weiß? Vielleicht hat er sogar daran teilgenommen! Der Bischof von Lyon jedenfalls klagt in der Pariser Zeitung neuerdings über den Diebstahl von Hostien – zu welchen finsteren Zwecken auch immer. Auf jeden Fall zeichnen seine Fotografie ein ganz besonderes Licht aus, das irgendwie von innen zu kommen scheint…

Nach Collins die schwere Kamera anbezahlt und abtransportiert hat, ereignen sich ominöse Unglücke. Das Haus von Mr. Azel bricht zusammen – dabei war es nicht einmal 300 Jahre alt. Und Mrs. Collins‘ Bruder, der Bischof, sowie dessen Assistent Osiah Gomm, kommen bei einem Pferdekutschenunglück unter die Räder. Mrs. Collins erbt 3000 Pfund plus Zinsen. Doch sieht Mr. Collins davon auch nur einen müden Cent? Mitnichten. Stattdessen werden die Tee- und Essensrationen gekürzt. Mr. Collins wird von Träumen heimgesucht, in denen eine Stimme zu ihm spricht: „Das Leben ist im Licht…“

Es ist Guy-Fawkes-Tag, der 5. November. Der genannte Missstand und die sich ihm erschließenden Eigenschaften der Kamera bringen Mr. Collins auf die Idee, auch seine Frau ablichten zu wollen, nachdem sämtliche Versuche, die Kamera zu zerstören, fehlgeschlagen sind. Doch seine Frau ins Jenseits befördern zu wollen, ist ein später Einfall – zu spät, denn auf einmal verspürt Mr. Collins ein übles Stechen in seiner Brust: Er ist es, der abgelichtet worden ist…

Mein Eindruck

Die Kamera als Mordinstrument des Teufels? Warum nicht! Die viktorianische Gesellschaft, in der das Ehepaar Collins lebt, weist so viele Zwänge und Tabus auf, dass man und frau schon mal auf die verwegene Idee verfallen kann, den jeweiligen Partner, der einem zur Last fällt, um die Ecke zu bringen. Gegenwehr ist zwecklos, wie der vergebliche Versuch, das Teufelsinstrument zu zerstören, zeigt.

Interessant ist der Einfall, die Seele der abgelichteten Verunglückten in das jeweilige Foto zu bannen. Und an diesem Punkt erschließt sich der Blick in die Vergangenheit den Weg zu jener anrüchigen Dame La Manchette, die mehr oder weniger freiwillig an Schwarzen Messen teilgenommen haben soll. Es ist buchstäblich ein Teufels-Kreis…

22) John Collier: Man über Bord (Man Overboard, 1960)

Glenway Morgan Abbott ist einer von Neuenglands Superreichen, der regelmäßig die Welt umsegelt, um mit seiner Großjacht ein legendäres Lebewesen zu suchen: die Seeschlange. Berichten und Berechnungen zufolge handle es sich um einen etwa 18 Meter langen Plesiosaurier, sagt er seinem Freund, dem Berichterstatter. Und um sich seiner Haut gegen Haie zu erwehren, müsse dieses Wunderwesen ganz schön wehrhaft sein.

Abbott suchte die Westküste der beiden Amerikas rauf und runter, danach ist der pazifische Feuerring von Neuguinea bis Tokio dran. Die erste Station ist Paumoy in den Marquesas-Inseln, also mitten in der Südsee. Die Marquesas sind amerikanisches Territorium, deshalb gibt es etliche Amis mit lokalen Angewohnheiten. Rijstafel ist das Angebot des Tages, das der Sprecher Victor Brewer den Neuankömmlingen macht. Da unser Chronist den ganzen Tag im Ausguck gesessen hat, ist er gehörig hungrig und empfiehlt seinem Freund Glenway einen netten Abend unter den Einheimischen.

Am nächsten Tag ist Besatzung der „Zenobia“ um einen Mann namens Geisecker verstärkt. Der weiß nicht, wie ihm geschehen ist. Victor Brewer hat nämlich allen weisgemacht, Geisecker müsse dringend nach Tokio, es ginge um Leben und Tod. Doch Geisecker will eigentlich nach Lima, Peru. Victor Brewer und seine Kumpel haben ihm einen Streich gespielt, um ihn loszuwerden. Wie die Crew herausfindet, ist Geisecker, der Fettsack, ein Typ, der gerne lacht, und zwar immer über das Falsche. So etwa über Glenways Suche nach der Seeschlange und v.a. über dessen ersten Flitterwochennacht mit einer Schauspielerin.

Der Chronist redet ein paar ernste Wörtchen mit dem Störenfried, aber das ist vergebliche Liebesmüh. Als dann eines Nachts die Seeschlange tatsächlich gesichtet wird und Geisecker nach Glenway ruft, glaubt ihm erst keiner. Und als Glenway doch noch an Bord kommt und die Infos erhält, starrt er Geisecker hasserfüllt an. Plötzlich geht Geisecker über Bord. Die Suche nach ihm verläuft ergebnislos…

Mein Eindruck

Glenway Morgan Abbott mag zwar superreich sein, aber er ist ein Dünnhäuter. Ein Gemütselefant wie Geisecker geht ihm sofort unter die Haut, und er hat kein Gegenmittel gegen dessen Spott. Da hilft auch nicht die späte Einsicht, dass die Mannschaft Geisecker gehasst hat und auf Seiten des Kapitäns stand. Als der Spötter herausfindet, dass Glenways Hochzeitsnacht platzte, weil eine Art Seeschlange gesichtet wurde, ist er nicht mehr zu halten. Sein Ende ist besiegelt.

Letzten Endes scheint es um die Eigenart der „Reichen“ zu gehen, zumindest in einer der Diskussionen. Fitzgerald und Hemingway werden pro und contra zitiert. Aber was ist mit Abbott? Der ist einfach ein Reicher, der eine Mission gewählt hat. Dass diese Mission vielleicht ein Irrtum ist, ist unerheblich. Am Schluss entscheidet sich Abbott für die UFO-Suche.

Und doch ist auch eine Warnung in der Geschichte verborgen. Wer einen Reichen wegen dessen Spleen angreift, muss dennoch mit negativen Folgen rechnen, etwa mit dem unerwarteten Ableben. Eine zweite Warnung entspricht dem „Cry Wolf!“-Prinzip. Wer einmal einen falschen Alarm gegeben hat, dem glaubt man selbst dann nicht mehr, wenn der Alarm echt ist.

23) Joanna Russ: Liebste Emily (My Dear Emily, 1962)

Emily, die wohlerzogene Pfarrerstochter, hat das Pech – oder Glück – von einem Vampir gebissen zu werden. Widerstand ist zwecklos, muss sie erkennen: Er ist ein Sukkubus. Als ihre Busenfreundin Charlotte Blutflecken an Emily entdeckt, denkt sie zuerst an Defloration und alarmiert Emilys Dad und Emilys Verlobten William. War Emily wirklich mit diesem zwielichtigen Martin Guerrera zusammen? Sie sei gesehen worden, stellt man sie zur Rede. Sie leugnet und läuft nächtens weg.

Martin haust in einer Gruft auf dem Friedhof. „Hier findet uns höchstens ein Historienverein.“ Doch er hat sich getäuscht. Als Emily aus San Francisco kommt, wo sie seine Jacke hat flicken lassen, findet sie vor dem Eingang zum Mausoleum nicht nur Martin vor, sondern auch ihren Vater, den Pastor, und Will, ihren Verlobten. Beide haben ihre Kreuze gezückt und warten auf den Aufgang der Sonne. Diese wird bekanntermaßen jeden Vampir zu Staub zerfallen lassen…

Mein Eindruck

Dies ist wohl eine der ungewöhnlichsten Vampirgeschichten: Sie ist feministisch. Denn Emily, das Opfer, fühlt sich keineswegs als Opfer, sondern vielmehr befreit: durch die Liebe des Vampirs und durch die Aussicht auf unsterbliches Leben. Ihre Liebe erweckt sie zu neuer Lebhaftigkeit. Kein Wunder, dass sie die Insignien der Sittsamkeit eines unverheirateten Frauenzimmers ablegt: den Schleier, die Spitzenhandschuhe und den Seidenschal. Ihre freche Kodderschnauze wird ebenfalls negativ vermerkt. Es kümmert sie nicht, was die anderen mit ihr anzustellen gedenken, aber als sie ihren Geliebten bedrohen, flippt Emily aus.

24) Thomas M. Disch: Abstieg (Descending, 1968)

Er, eine Pleite gegangene Leseratte, geht ins Kaufhaus Underwood, kauft Lebensmittel und Bücher auf eine abgelaufene Kreditkarte Underwoods, trinkt einen Kaffee und betritt sodann im Dachrestaurant die Rolltreppe nach unten. Vertieft in seinen Thackeray, merkt er nicht, wie er immer weiter nach unten fährt. Als er aufschaut, befindet er sich im 152. Kellergeschoss. Kein Mensch weit und breit. Und keine einzige Rolltreppe, die hinaufführt.

Zuerst versucht er noch, die Rolltreppe entgegen der Fahrrichtung hinaufzugehen. Das klappt ganz gut, aber nach etwa 20 Treppen streckt ihn der erste Muskelkrampf nieder. Lieber essen, am Brünnlein trinken, Wasser abschlagen, dann noch ein Anlauf. Wieder Muskelkrämpfe. Oh Hölle, Dantes Hölle! Er stellt fest, dass es weitaus einfacher ist, abwärts zu fahren, immer weiter abwärts…

Eine Woche später. Halluzinationen. Dieser Keller hat keinen Boden, die Rolltreppe kein Ende. Vielleicht kann er bis zum Mittelpunkt der Erde fahren, überlegt er, und von dort geht es ja automatisch wieder aufwärts. Am Mittelpunkt der Erde, so heißt es, gebe es keine Schwerkraft mehr. Aber der Hunger streckt ihn vorher nieder. Schmerzlos schält ihm die Rolltreppe das Fleisch von den Handknochen. Wie der Scherkopf eines Rasierapparats…

Mein Eindruck

Die Story ist gruselig und surreal, aber sie ergibt einen vollständigen Sinn. Er, der abgebrannte Konsument ohne Kredit, steht für die konsumierende Menschheit, die ihren Planeten ausbeutet und das Konto gnadenlos überzieht. Noch auf den letzten Drücker prassen, die besten Bücher lesen – darunter Dantes „Göttliche Komödie“. Die Kellergeschosse kommen unserem Mann bald vor wie Dantes Kreise der Hölle, und der Abstieg ist ebenso endlos.

Welches Verbrechen hat er begangen? Ewig und gewissenlos zu konsumieren, auszubeuten, nicht an morgen zu denken, andere anzupumpen statt selbst etwas zu leisten. Nun ist die Stunde der Bestrafung gekommen: ein ewiges Abwärtsgleiten, ohne Rast und ohne Ruh, bis zu jenem Punkt, an dem die eigenen Kräfte versagen, der Halt an die Realität verlorengeht und selbst der Schmerz keinen Schrecken mehr bietet.

25) Fritz Leiber: Vier Geister in „Hamlet“ (Four Ghosts in Hamlet, 1965)

Die wandernde Theatertruppe „Governor’s Comapany“, der sich der Ich-Erzähler Bruce angeschlossen, zieht unter der Leitung von Gilbert Usher durch die östlichen Bundesstaaten. Sie spielen mehrere Shakespeare-Stücke, und das gruseligste ist zweifellos „Hamlet“, denn darin tritt ein Geist auf. Um ihn und seinen Darsteller geht es. Bruce ist in Monica, die Darstellerin der Ophelia, verliebt, doch sie will nichts von ihm wissen. Wie die meisten Schauspieler hat er ein aufgeblasenes Ego und denkt nur an sich. Monica wurde von den „drei hexen“ unter ihre Fittiche genommen, doch als diese mit einem Ouija-Brett eine Geisterbeschwörung ausführen, überkommt Monica ein kaltes Grauen. Sie ahnt, dass Unheil geschehen wird, denn der von der Planchette des Brettes buchstabierte Name lautet SHAKESPEARE.

Doch vieles ändert sich, als die Truppe die Stadt Wolverton in Pennsylvania erreicht. Wie der Darsteller des Geistes von Hamlets Vater herausfindet, leben hier seine Kinder, die er schon ewig nicht mehr gesehen hat. Wie unschwer vorauszusehen, beruhigt er auch diesmal seine Nerven mit Alkohol, was ihm diesmal zum Verhängnis wird. Als es darauf ankommt, ist er unauffindbar, drei Ersatzmänner bewerben sich um die Rolle des Geistes, doch auf einmal tritt ein echter Geist auf die Bühne und rezitiert die einschlägigen Zeilen mit wunderbarer Grandezza und Würde.

Das Publikum, vor allem seine Kinder, applaudieren beGEISTert. Die übrigen Schauspieler fragen sich jedoch, wer diesen geist spielt. Besonders nachdem sie den eigentlichen Geistdarsteller tot in der Requisitenkammer gefunden haben…

Mein Eindruck

Der Autor arbeitete und lebte in einer solcher Wandertruppe, denn sein gleichnamiger Vater war ein großartiger und weithin bekannter Mime, der offenbar Shakespeare-Figuren besonders gut verkörpern konnte (das verrät das Vorwort der Herausgeber). Deshalb liest die Erzählung auch sehr lebhaft und detailgenau, die psychologischen Verstrickungen spielen ebenso eine große Rolle wie die eher investigativen Fragen: Wer spielt hier den Geist, wenn doch dessen Darsteller unauffindbar ist? Die Antwort bleibt offen, es sei denn, man glaubt den Spiritistinnen, die SHAKESPEARE buchstabiert bekamen. Eine klassische Ghost Story also, und wunderbar gelungen obendrein.

26) Roger Zelazny: Göttlicher Wahnsinn (Divine Madness, 1966)

Ein Mann lebt in der Zeit rückwärts, als wäre es eine besondere Art von psychischem Anfall (was den Storytitel erklärt). Wir sind gespannt, bis zu welchem Punkt ihn dieser Anfall führt und durchlaufen mit ihm den Zyklus von Trauer, Beerdigung, Leichenschauhaus, Autounfall und schließlich den Streit mit IHR, der zu einer abrupten Trennung und ihrem Autounfall führte bzw. führen würde. Als der Anfall im richtigen Moment endet, kann er dem Streit eine andere Richtung geben. Doch dazu muss er ihr sagen, wie unglaublich leid es ihm tue…

Mein Eindruck

Die Vorstellung, dass man in der Zeit rückwärts leben könnte, ist nicht gerade neu: Philip K. Dick verarbeitete diese Idee zu seinem Roman „Counter-Clock World“. Aber man kann auch eine anrührende Erzählung daraus gestalten, wie Zelazny zeigt. Hiermit präsentiert er sich wieder als Anhänger der britischen New Wave SF. Für „Otto Normal-Leser“ ist die Geschichte schwer zu verstehen: Ganze Sätze sind rückwärts geschrieben.

27) R. A. Lafferty: Das enge Tal (Narrow Valley, 1966)

Anno 1896 gab die US-Bundesregierung den letzten überlebenden Pawnee-Indianern Land – es war wenig, und dafür sollten sie auch noch Steuern zahlen. In einem derart engen Tal leben zu müssen, sah Clarence Großer Sattel nicht ein und wirkte einen mehr oder weniger gelungenen Verschwindezauber. Dieser bewirkte, dass das Tal von außen wie ein schmaler Graben zwischen zwei anderen Grundstücken aussah, sich innen aber weit und breit ausbreitete.

Zwei Generationen klappte der Zauber wunderbar. Selbst als auf dem Katasteramt seine Land als frei eingetragen war, kamen keine Weißen, um es ihm wegzunehmen – sie konnten es einfach nicht finden. Bis zu jenem Tag, an dem der Schauspieler Robert Rampart fest entschlossen ist, dieses Freiland um jeden Preis für sich, seine Frau Nina und seine fünfköpfige Brut zu gewinnen.

Leichter gesagt als getan, denn auch er sieht nur einen Graben, wie alle vor ihm. Doch dann stürmen die Kinder einfach so in die Halluzination hinein, seine Frau Nora folgt mit dem Campingwagen – und vertreibt Clarence Kleiner Sattel aus seinem angestammten Heim. Doch dann machen Ramparts konsultierte Wissenschaftler, die das ungewöhnliche Phänomen erklären sollen, einen kapitalen Fehler: Sie wirken einen Gegenzauber…

Mein Eindruck

Magie funktioniert also, zumindest wenn sie von sogenannten Fachleuten praktiziert wird. Leider vergessen sie, da kein Mensch perfekt ist, stets das richtige magische Schlusswort. Das Prinzip der Unvollkommenheit dürfte wohl auch auf die US-Regierung zutreffen, die in ihrer unerforschlichen Weisheit die Pawnee erst massakrierte, dann umsiedelte, ihnen Land gab und sie dann für diese Güte Steuern zahlen ließ.

Es geht also um Landnahme, aber auch um Landübergabe. Land will, wie ein guter Ruf, erst erworben sein. Robert Rampart ist als Schauspieler sicherlich kein geeigneter Erbe für das alte Land der Indianer, mag es frei sein oder nicht. Weder er noch die ahnungslosen Flunkerer von Wissenschaftler können einen moralischen Anspruch auf das enge Tal erheben, nur Clarence Kleiner Sattel – der es seinem Sohn Clarence Ohne Sattel vererben wollte. Erneut wird er vertrieben.

Das ist eben das Prinzip der amerikanischen Geschichte. Es gibt Leute, die Land einfach wegnehmen und dann alle möglichen Finten aufbieten, um es behalten zu können; aber es gibt auch Leute, die es seit jeher weitervererbt haben. Man kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie ihren Schatz, das enge Tal, per Magie verstecken. – Die Pointe besteht darin, dass die Weißen ebenfalls Magie anwenden. Dieser Schuss geht derartig nach hinten los, dass Nina Rampart froh sein kann, dem Tal noch entkommen zu kommen: Denn jetzt hat es nicht einmal mehr drei Dimensionen…

28) Keith Roberts: Timothy (dito, 1966)

Anita, die Junghexe, lebt bei ihrer Großmutter Granny Thompson irgendwo in Northamptonshire. Granny schickt sie zu ihrer Nachbarin, der Waldhexe Aggie, um eine Handvoll Mehl zu besorgen. Madame Aggie Everett hat die Grippe, und Anita tritt schleunigst den Rückweg an. Dabei kommt sie an einer Vogelscheuche vorüber, die sie Timothy getauft hat. Ihr ist klar, dass sie einmal ihren nagelneuen Zauberspruch an Timothy ausprobieren könnte.

Sie setzt ihn erst in Bewegung, dann lehrt sie ihn die menschliche Sprache. Das ist ziemlich nervig, aber sie unterdrückt ihren jugendlichen Ärger. Schließlich lehrt sie ihn auch noch Shakespeare-Verse deklamieren, und es erweist sich, dass Timothy eine schöne Bassstimme hat, die perfekt zu Prospero und König Lear passt. Aus Zuneigung schenkt sie ihm auch noch Gefühle, damit er besser deklamieren und sie, Anita, loben kann.

Doch dass er in Liebe für sie entbrennt, damit hat die Junghexe nicht gerechnet. Er bittet um ihre Liebe, doch für ein „Spielzeug“, wie sie ihm gesteht, kann sie keine Liebe empfinden. Das hält ihn nicht auf und schließlich muss sie ihre Bannstrahlen anwenden, um ihn zu zerstören…

Mein Eindruck

Wäre dies eine SF-Geschichte, so würde Timothy die Rolle des Roboters spielen. Er ist für seine Schöpferin zunächst nur ein Spielzeug, dann ein Spielgefährte, mit dem sie sich in eine andere Rolle – den Luftgeist Ariel – versetzen kann. Er ist sozusagen ein lebendig gewordener Schauspieler. Erst mit der Gabe der Gefühle wird es jedoch ernst. Eine Verliebter beansprucht ganz andere Dinge von seinem Schöpfer, beispielsweise die Erwiderung seiner Liebe.

Doch Anita ist kein Pygmalion und Timothy weit davon entfernt, seine Galathea zu sein. Für diese Liebe gibt es keine Zukunft: Für Anita ist sie eine Belastung, ja, sogar eine Bedrohung. Zerstörung und Entsorgung bilden das Finale dieser Tragödie. Und der Leser müsste schon ein herz aus Stein haben, würde er das nicht ebenfalls traurig finden.

29) Edgar Pangborn: Langzahn (Longtooth, 1970)

Ben Dane, der Sohn eines Richters in Darkfield, Maine, USA, berichtet von den unheimlichen Begebenheiten, die sich während eines üblen Schneesturms ereigneten. Er hatte den Wunsch seines früheren Schulkameraden Harper Ryder erfüllt, ihm ein Buch aus der Stadtbibliothek zu besorgen, denn Harp hat als knausriger Farmer selbst keinen fahrbaren Untersatz, Ben aber schon. Weil ihm der Schneesturm aber die Sicht nimmt, fährt er den Wagen eine meile vor Harps Bauernhof in den Graben und muss den Rest laufen. Dort stößt er auf eine merkwürdig angespannte Stimmung.

An der Tatsache, dass Harp mit et Leda verheiratet ist, die 30 Jahre jünger ist als er, kann es wohl nicht liegen. Aber Leda hat Angst um ihren Mann, der nun erst ein wenig auftauen muss, bevor er Ben berichten kann, was passiert ist. In letzter Zeit werde sein Hof von einem Raubtier belagert, das auf zwei Beinen gehe. „Kein Bär“, versichert Harp, aber so etwas ähnliches. „Und es hat lange Zähne, die es mir auf der Jagd zeigte“, sagt Harp. Schon eine gute Kuh und acht fette Brathühner habe ihm dieses Vieh geraubt. Das ist ein herber Verlust für einen armen Farmer.

Sie hören einen unheimlichen Schrei. „Es ist Langzahn“, flüstert Harp und eilt zu seiner Flinte. Als im Obergeschoss ein krach ertönt, eilen sie beide die Treppe hinauf. Das Fenster ist zerbrochen worden – und von Leda keine Spur. Offenbar hat das Vieh die schöne Frau geholt; zu welchem Zweck, mögen sich Ben und Harp lieber nicht ausmalen. Zusammen folgen sie bewaffnet der Spur von Langzahn in die dunklen, weiten Wälder Maines…

Mein Eindruck

Eine spannende und stimmungsvolle Search-and-Rescue-Mission folgt. Worum es sich bei „Langzahn“ in Wahrheit handelt, darf hier allerdings nicht verraten werden.

30) Zenna Henderson: Sichtverschiebung (Through a Glass – Darkly, 1970)

An allem sind die Doppelgläser schuld. Mrs. Jessimyn hat sich wegen ihres fortgeschrittenen Alters eine neue Brille machen lassen, doch neuerdings sieht sie aus dem Augenwinkel Dinge – Tiere, Leute, Wetterphänomene – die in der Vergangenheit passiert sind. Denkt sie zumindest, und der Augenarzt Dr. Barlow ist der gleichen Meinung. Wird sie nun verrückt, fragt sie verzagt.

Keineswegs, tröstet sie der Arzt, aber sie sollte, äh, die Augen offenhalten. Denn die Ursache läge im peripheren Sehen, also im Augenwinkel. Als sie ihn anruft und fragt, wie lange seine Vorfahren schon hier in Tucson, Arizona, lebten, antwortet er: seit 1897. Sie stehe gerade vor einem Gemischtwarenladen. Mit oder ohne Veranda, will er wissen. Ohne, sagt sie, und er erwidert, dann sei das vor dem großen Brand gewesen.

Als sie mit ihrem Mann Peter mit dem Fahrrad einen Ausflug in die umliegenden Hügel unternimmt entdeckt ihr peripheres Sehen einen Leichenzug, der zu einem abgelegenen Friedhof unterwegs ist. Diesmal kann sie sogar die Gedanken der Beteiligten hören, und erfährt auf diese Weise, dass sie ein „sündiges“ Mädchen namens Gayla zu Grabe tragen.

In einer weiteren Vision, die sie mitten im Supermarkt erwischt, erfährt sie sehr viel mehr über besagte Gayla. Die 13-jährige will die Schule verlassen, ein Jahr vor dem Abschluss. Sie will frei sein, andere Menschen und orte kennenlernen. Sie leidet unter Lebenshunger, denn ihre Tante – sie ist offenbar eine Vollwaise – unterdrückt sie. Auf dem nächsten Ausflug werden Peter Jessimyn und seine Geisterseherin fast von einem Wolkenbruch fortgeschwemmt – ein böses Omen, wie ihr scheint.

Die Krise der Entwicklung wird erreicht, als unsere Chronistin Zeugin einer Geburt wird. Die Mutter ist Vesta, ihre Hebamme Harriet hat jedoch keine Ahnung, warum das Neugeborene nicht atmet, und weiß nicht, was zu tun ist. Unsere Heldin aber schon! Es kommt zu einem dramatischen Spagat, als sie dem kleinen Mädchen, aus dem späten Gayla wird, ihren eigenen Atem einhaucht – während ihr Mann Peter versucht, sie nicht an die Vergangenheit zu verlieren…

Mein Eindruck

Mrs. Jessimyn sieht die Geister der Vergangenheit. Wie jeder weiß, sind Geister Erinnerungen. Diesmal sind ihre Geister so lebendig, dass sie sie sogar ohne Doppelstärkenbrille sehen kann. Sie kann sie riechen, hören und sogar ihre Gedanken vernehmen. Da die Vergangenheit so lebendig ist, braucht es nicht viel, bis Mrs. Jessimyn in die beobachteten Vorgänge hineingezogen wird. Erst wird sie Zeuge von Gaylas Beerdigung, dann von ihrer Geburt. Ohne Mrs. Jessimyns Eingreifen wäre das Mädchen bei der Geburt gestorben, wie könnte sie also nicht Anteil an ihrem Leben nehmen.

Wie Gayla zu Tode gekommen ist, weiß Mrs. Jessimyn nicht, aber darum geht es auch nicht: Die Geschichte soll die Leserin daran erinnern, wie gering die Chancen eines Mädchens anno 1897 gewesen waren, sich selbst verwirklichen zu können. Der Umstand, dass Gayla ohne geistlichen Beistand zu Grabe getragen wird, weist darauf hin, dass sie entweder Selbstmord begangen hat oder als Sünderin angesehen wurde, als Prostituierte oder ähnliches „gefallenes Mädchen“. Ein paar böse Zungen reichten bereits für Rufmord aus.

Indirekt klagt die Autorin also die viktorianische Moral an, die Mädchen wie Gayla einen frühen Tod bescherte, aber auch eine Neubewertung der geschichtlichen Überlieferung im Sinne des Feminismus ein. Mrs. Jessimyn ist keineswegs Feministin, sondern Humanistin. Ihre DIREKTE Erfahrung eines Mädchenschicksals ähnelt der DIREKTEN Gotteserfahrung, die sich die Protestanten im 16. Jahrhundert von der katholischen Kirche erkämpften. Weder Priester noch Historiker stellen sich zwischen Gaylas Schicksal und dem Erleben Mrs. Jessimyns. Diese UNMITTELBARKEIT sorgt für die emotionale Teilhabe, schließlich sogar für das Eingreifen in Gaylas Schicksal. Der Leser erfährt diese DIREKTHEIT ungefiltert. Entsprechend dramatisch ist das Finale der Geschichte.

31) Richard Cowper: Morgendämmerung (Piper at the Gates of Dawn, 1976)

Die Wasser des Ozeans sind gestiegen, und von Merry Old England sind nur noch die höchsten Gipfel des Pennine-Gebirges in den Midlands übrig. Die Jahreswende zum Jahr 3000 steht bevor, und im (immer noch) kühlen Klima des Gebirges schlagen sich Einsiedler, Bauern und Jäger durch. Solche wie Norris mit seiner Frau und drei Kindern. Sie bekommen diesmal Besuch von einem Paar Wanderer, die recht bemerkenswert sind.

Der alte Peter, der wohl schon auf die sechzig zugeht, ist ein berühmter Geschichtenerzähler, der zuletzt vor 20 Jahren hier war. Er erzählt die Geschichte eines vom Onkel um seinen Thron betrogenen Dänenprinzen namens Amulet, der nun um Thron und Prinzessin kämpfen muss. In seiner Begleitung befindet sich Tom, der (titelgebende) Flötenspieler. Tom ist bei dem Magier Morfedd in die Lehre gegangen und spielt ein Mittelding aus Block- und Panflöte, allerdings mit gespaltener Zunge, so dass er beide Flötenmundstücke bedienen kann. Das Ergebnis seiner Kunst ist pure Magier, die keinen unberührt lässt. Und die drei Hofhunde gehorchen ihm aufs Wort.

Ganz besonders Katie, die etwa zehn Jahre alte Tochter von Norris, ist von Toms Musik berührt. Sie schenkt ihm zum Abschied ein selbst gemachtes Andenken, einen grünen Stein. Er will weiter zu einem Münster in York, um von den Mönchen Schreiben und Lesen zu lernen. Peter ist von dieser Idee nicht begeistert, denn er findet, die Lebensweisheit sollte man von den Menschen und nicht aus Büchern erwerben. Tom hat von Morfedd einen geistigen Auftrag erhalten, nämlich die Gleichheit unter den Menschen mithilfe seiner Musik zu verkünden. Peter ahnt, dass mit dem Symbol des weißen Vogels nur Ärger herbeibeschworen wird.

Als sie auf der Straße nach York reiten, schließt sich ihnen ein Mitglied der Falken an, jener Soldaten der Militanten Kirche der Sieben Königreiche, die den rechten Glauben überwachen und Aufruhr im Keim ersticken sollen. Der Mann, der sich Gyre nennt, trägt eine Armbrust bei sich. Doch als sich Peter als harmlosen Geschichtenerzähler bezeichnet und Tom nur seine Flöte vorweisen kann, legt sich Gyres Argwohn. Er lässt Tom spielen, nicht ahnend, dass er ein Damaskus-Erlebnis haben wird. Gyre wird zum Glauben an Tom bekehrt.

Der Weihnachtsjahrmarkt ist in York, dem Zentrum der Ostküste, eine gewaltige Veranstaltung. Während Peter mit dem Sekretär des Münsterkapitels über Toms Ausbildung verhandelt – sie sind verschwägerte Vettern – trifft sich der Schwarze Bischof mit seinen „Falken“ zur Planung der Überwachung des Volks. Der Bischof verweist den Glauben an den weißen Vogel ins Reich der Einhörner, lässt aber alle Augen wachsam offen halten. Sicher ist sicher.

Wenige Stunden vor Neujahr hört Peter überrascht Tom seine Flöte spielen. Er ersteigt die Stadtmauer und blickt auf eine große Menschenansammlung. Sie alle lauschen den Melodien, die der junge Flötenspieler spielt und träumen vom Weißen Vogel der Hoffnung der brüderlichen Gleichheit. Da verstummt die Musik schlagartig. Peter schaut nach. Tom ist von einem gut gezielten Armbrustbolzen ins Herz getroffen worden. Peter kann nicht fassen, wer den Bolzen abgeschossen hat. Auch der Bischof hat keine Erklärung. Doch der Zauber funktioniert auf ganz eigene Weise. Toms Märtyrertod bringt, so fürchtet der Bischof, zahlreiche Nachahmer hervor. Und Peter muss dem Schützen vergeben…

Mein Eindruck

Der zeitliche und räumliche Schauplatz dieser Geschichte ist bekannt: Schon Keith Roberts und Kingsley Amis haben einen alternativen Geschichtsverlauf in ihren Romanen gezeichnet, in dem die katholische Kirche England erobert hat. Hinzukommt nun der Klimawandel mit seinem erhöhten Meeresspiegel. Was den Schnee allerdings nicht daran hindert, ausgiebig zwischen Weihnachten und Neujahr zu rieseln – ein wichtiges Symbol.

Der junge Tom, ein Zauberlehrling, ist die Verkörperung eines Rattenfängers, und der wird von der militanten Kirche wie die Pest gefürchtet. Die Idee, dass alle Menschen gleich sein könnten und es folglich keine Hierarchie mehr geben müsse, sind so ketzerisch wie nur was. Der Schwarze Bischof unterdrückt Ketzerei mit seinen Falken, aber er legt fest, wo die rote Linie zur Ketzerei verläuft.

Die traurige Geschichte von Tom mit dem Flötenzauber ist leicht verständlich und stimmungsvoll erzählt, so dass sich Emotion und Verstand die Waage halten. So bleibt es dem Leser überlassen, sich ein Urteil über die Handlungsweisen Toms, Peters, des Bischofs und des Todesschützen zu bilden. Ohne Zweifel ist dies einer der besten Beiträge in dieser Auswahl, und ich bin froh, diese Novelle entdeckt zu haben.

30) Zenna Henderson: Sichtverschiebung (Through a Glass – Darkly, 1970)

An allem sind die Doppelgläser schuld. Mrs. Jessimyn hat sich wegen ihres fortgeschrittenen Alters eine neue Brille machen lassen, doch neuerdings sieht sie aus dem Augenwinkel Dinge – Tiere, Leute, Wetterphänomene – die in der Vergangenheit passiert sind. Denkt sie zumindest, und der Augenarzt Dr. Barlow ist der gleichen Meinung. Wird sie nun verrückt, fragt sie verzagt.

Keineswegs, tröstet sie der Arzt, aber sie sollte, äh, die Augen offenhalten. Denn die Ursache läge im peripheren Sehen, also im Augenwinkel. Als sie ihn anruft und fragt, wie lange seine Vorfahren schon hier in Tucson, Arizona, lebten, antwortet er: seit 1897. Sie stehe gerade vor einem Gemischtwarenladen. Mit oder ohne Veranda, will er wissen. Ohne, sagt sie, und er erwidert, dann sei das vor dem großen Brand gewesen.

Als sie mit ihrem Mann Peter mit dem Fahrrad einen Ausflug in die umliegenden Hügel unternimmt entdeckt ihr peripheres Sehen einen Leichenzug, der zu einem abgelegenen Friedhof unterwegs ist. Diesmal kann sie sogar die Gedanken der Beteiligten hören, und erfährt auf diese Weise, dass sie ein „sündiges“ Mädchen namens Gayla zu Grabe tragen.

In einer weiteren Vision, die sie mitten im Supermarkt erwischt, erfährt sie sehr viel mehr über besagte Gayla. Die 13-jährige will die Schule verlassen, ein Jahr vor dem Abschluss. Sie will frei sein, andere Menschen und orte kennenlernen. Sie leidet unter Lebenshunger, denn ihre Tante – sie ist offenbar eine Vollwaise – unterdrückt sie. Auf dem nächsten Ausflug werden Peter Jessimyn und seine Geisterseherin fast von einem Wolkenbruch fortgeschwemmt – ein böses Omen, wie ihr scheint.

Die Krise der Entwicklung wird erreicht, als unsere Chronistin Zeugin einer Geburt wird. Die Mutter ist Vesta, ihre Hebamme Harriet hat jedoch keine Ahnung, warum das Neugeborene nicht atmet, und weiß nicht, was zu tun ist. Unsere Heldin aber schon! Es kommt zu einem dramatischen Spagat, als sie dem kleinen Mädchen, aus dem späten Gayla wird, ihren eigenen Atem einhaucht – während ihr Mann Peter versucht, sie nicht an die Vergangenheit zu verlieren…

Mein Eindruck

Mrs. Jessimyn sieht die Geister der Vergangenheit. Wie jeder weiß, sind Geister Erinnerungen. Diesmal sind ihre Geister so lebendig, dass sie sie sogar ohne Doppelstärkenbrille sehen kann. Sie kann sie riechen, hören und sogar ihre Gedanken vernehmen. Da die Vergangenheit so lebendig ist, braucht es nicht viel, bis Mrs. Jessimyn in die beobachteten Vorgänge hineingezogen wird. Erst wird sie Zeuge von Gaylas Beerdigung, dann von ihrer Geburt. Ohne Mrs. Jessimyns Eingreifen wäre das Mädchen bei der Geburt gestorben, wie könnte sie also nicht Anteil an ihrem Leben nehmen.

Wie Gayla zu Tode gekommen ist, weiß Mrs. Jessimyn nicht, aber darum geht es auch nicht: Die Geschichte soll die Leserin daran erinnern, wie gering die Chancen eines Mädchens anno 1897 gewesen waren, sich selbst verwirklichen zu können. Der Umstand, dass Gayla ohne geistlichen Beistand zu Grabe getragen wird, weist darauf hin, dass sie entweder Selbstmord begangen hat oder als Sünderin angesehen wurde, als Prostituierte oder ähnliches „gefallenes Mädchen“. Ein paar böse Zungen reichten bereits für Rufmord aus.

Indirekt klagt die Autorin also die viktorianische Moral an, die Mädchen wie Gayla einen frühen Tod bescherte, aber auch eine Neubewertung der geschichtlichen Überlieferung im Sinne des Feminismus ein. Mrs. Jessimyn ist keineswegs Feministin, sondern Humanistin. Ihre DIREKTE Erfahrung eines Mädchenschicksals ähnelt der DIREKTEN Gotteserfahrung, die sich die Protestanten im 16. Jahrhundert von der katholischen Kirche erkämpften. Weder Priester noch Historiker stellen sich zwischen Gaylas Schicksal und dem Erleben Mrs. Jessimyns. Diese UNMITTELBARKEIT sorgt für die emotionale Teilhabe, schließlich sogar für das Eingreifen in Gaylas Schicksal. Der Leser erfährt diese DIREKTHEIT ungefiltert. Entsprechend dramatisch ist das Finale der Geschichte.

31) Richard Cowper: Morgendämmerung (Piper at the Gates of Dawn, 1976)

Die Wasser des Ozeans sind gestiegen, und von Merry Old England sind nur noch die höchsten Gipfel des Pennine-Gebirges in den Midlands übrig. Die Jahreswende zum Jahr 3000 steht bevor, und im (immer noch) kühlen Klima des Gebirges schlagen Einsiedler, Bauern und Jäger durch. Solche wie Norris mit seiner Frau und drei Kindern. Sie bekommen diesmal Besuch von einem Paar Wanderer, die recht bemerkenswert sind.

Der alte Peter, der wohl schon auf die sechzig zugeht, ist ein berühmter Geschichtenerzähler, der zuletzt vor 20 Jahren hier war. Er erzählt die Geschichte eines vom Onkel um seinen Thron betrogenen Dänenprinzen namens Amulet, der nun um Thron und Prinzessin kämpfen muss. In seiner Begleitung befindet sich Tom, der (titelgebende) Flötenspieler. Tom ist bei dem Magier Morfedd in die Lehre gegangen und spielt ein Mittelding aus Block- und Panflöte, allerdings mit gespaltener Zunge, so dass er beide Flötenmundstücke bedienen kann. Das Ergebnis seiner Kunst ist pure Magier, die keinen unberührt lässt. Und die drei Hofhunde gehorchen ihm aufs Wort.

Ganz besonders nicht Katie, die etwa zehn Jahre alte Tochter von Norris. Sie schenkt ihm zum Abschied ein selbst gemachtes Andenken, einen grünen Stein. Er will weiter zu einem Münster in York, um von den Mönchen Schreiben und lesen zu lernen. Peter ist von dieser Idee nicht begeistert, denn er findet, die Lebensweisheit sollte man von den Menschen und nicht aus Büchern erwerben. Tom hat von Morfedd einen geistigen Auftrag erhalten, nämlich die Gleichheit unter den Menschen mithilfe seiner Musik zu verkünden. Peter ahnt, dass mit dem Symbol des weißen Vogels nur Ärger herbeibeschworen wird.

Als sie auf der Straße nach York reiten, schließt sich ihnen ein Mitglied der Falken an, jener Soldaten der Militanten Kirche der Sieben Königreiche, die den rechten Glauben überwachen und Aufruhr im Keim ersticken sollen. Der Mann, der sich Gyre nennt, trägt eine Armbrust bei sich. Doch als sich Peter als harmlosen Geschichtenerzähler bezeichnet und Tom nur seine Flöte vorweisen kann, legt sich Gyres Argwohn. Er lässt Tom spielen, nicht ahnend, dass er ein Damaskus-Erlebnis haben wird. Gyre wird zum Glauben an Tom bekehrt.

Der Weihnachtsjahrmarkt ist in York, dem Zentrum der Ostküste, eine gewaltige Veranstaltung. Während Peter mit dem Sekretär des Münsterkapitels über Toms Ausbildung verhandelt – sie sind verschwägerte Vettern – trifft sich der Schwarze Bischof mit seinen „Falken“ zur Planung der Überwachung des Volks. Der Bischof verweist den Glauben an den weißen Vogel ins Reich der Einhörner, lässt aber alle Augen wachsam offen halten.

Wenige Stunden vor Neujahr hört Peter überrascht Tom seine Flöte spielen. Er ersteigt die Stadtmauer und blickt auf eine große Menschenansammlung. Sie alle lauschen den Melodien, die der junge Flötenspieler spielt und träumen vom Weißen Hoffnung der brüderlichen Gleichheit. Da verstummt die Musik schlagartig. Peter schaut nach. Tom ist von einem gut gezielten Armbrustbolzen ins Herz getroffen worden. Peter kann nicht fassen, wer den Bolzen abgeschossen hat. Auch der Bischof hat keine Erklärung. Doch der Zauber funktioniert auf ganz eigene Weise. Toms Märtyrertod bringt, so fürchtet der Bischof, zahlreiche Nachahmer hervor. Und Peter muss dem Schützen vergeben…

Mein Eindruck

Der zeitliche und räumliche Schauplatz dieser Geschichte ist bekannt: Keith Roberts und Kingsley Amis haben einen alternativen Geschichtsverlauf in ihren Romanen gezeichnet, in dem die katholische Kirche England erobert hat. Hinzukommt nun der Klimawandel mit seinem erhöhten Meeresspiegel. Was den Schnee allerdings nicht daran hindert, ausgiebig zwischen Weihnachten und Neujahr zu rieseln – ein wichtiges Symbol.

Der junge Tom, ein Zauberlehrling, ist die Verkörperung eines Rattenfängers, und der wird von der militanten Kirche wie die Pest gefürchtet. Die Idee, dass alle Menschen gleich sein könnten und es keine Hierarchie mehr geben müsse, sind so ketzerisch wie nur was. Der Schwarze Bischof unterdrückt Ketzerei mit seinen Falken, aber er legt fest, wo die rote Linie zur Ketzerei verläuft.

Die traurige Geschichte von Tom mit dem Flötenzauber ist leicht verständlich und stimmungsvoll erzählt, so dass sich Emotion und Verstand die Waage halten. So bleibt es dem Leser überlassen, sich ein Urteil über die Handlungsweisen Toms, Peters, des Bischofs und des Todesschützen zu bilden. Ohne Zweifel ist dies einer der besten Beiträge in dieser Auswahl, und ich bin froh, diese Novelle entdeckt zu haben.

32) Harlan Ellison: Jeffty ist fünf (Jeffty Is Five, 1977)

Don Horton wächst mit Jeffty Kinzer auf, seinem besten Freund. Zusammen lauschen sie den aufregenden Hörspielserien um The Lone Ranger, Captain Midnight und viele andere Helden der Kriegszeit. Doch aus kleinen Leuten werden schließlich große – nur Jeffty nicht. Er hat zwar die Körpermaße eines kleinwüchsigen 22-Jährigen, aber sein Geist ist immer noch der eines Fünfjährigen. Sein Freund Donny lässt ihn zwar nicht im Stich, aber seine Eltern sind das Inbild stiller Verzweiflung.

Das wäre alles nicht so wahnsinnig interessant, wenn Donny nicht eines Tages das Wunder entdecken würde, das Jeffty darstellt. In seinem Geheimversteck unter der Veranda des Elternhauses sammelt Jeffty immer noch Comics seiner Serienhelden – und sie sind aus neuester Produktion! Ebenso die Hardware wie etwa der „Codeograph“, den die Hörer von „Captain Midnight“ bis anno 1949 gewinnen konnten – und er trägt das Datum des aktuellen Jahres!

Nicht genug damit, gelingt es Jeffty auch, moderne Fortsetzungen der alten Hörspielserien auf seinem Radio zu hören. Donny beginnt zu weinen, als ihn diese Erlebnisse an die alten Tage seliger Unschuld erinnern, dabei ist er längst ein erfolgreicher Geschäftmann mit Familie. Zusammen schauen sie Fortsetzungen oder Neuverfilmungen alter Kinofilme, und an einem dieser Abende, als sie ins Kino wollen, vergisst Donny die Regel Nummer eins: Jeffty niemals der Gegenwart auszusetzen…

Mein Eindruck

Die wunderschöne und mit den wichtigsten SF-Preisen (Hugo, Nebula, Jupiter, BSFA) ausgezeichnete Erzählung beschäftigt sich in ganz konkreten Bildern mit dem Thema Nostalgie. Jeffty ist ein Junge, der nicht nur aus der Zeit gefallen ist, sondern die Vergangenheit auch noch weiterspinnt. Sein Freund Donny, der Ich-Erzähler, muss sich damit auseinandersetzen, ob er seiner Nostalgie frönt oder doch lieber dem Fortschritt huldigt.

Die Gegenwart ist die tödliche Feindin der Vergangenheit, und dass er dies noch nicht gelernt hat und lieber der Gegenwart und dem Fortschritt (in Gestalt neuester TV-Geräte) huldigt, bringt seinem Freund Jeffty, der Verkörperung der Vergangenheit, den Tod. In einem unbeobachteten Moment wird Jeffty von Halbstarken zusammengeschlagen und schwer verletzt. Dann begeht Donny einen zweiten Fehler: Er bringt seinen Freund nicht ins Krankenhaus, sondern ins Haus seiner Eltern. Schon bald dröhnt Rockmusik aus Jefftys Radio. Rockmusik?!!…

Die beiden Helden sind keine direkten Alter Egos des Autors. Ellison wurde bereits 1934 geboren, war also fünf Jahre alt, als es „Captain Midnight“, der ab 1940 Heldentaten beging, noch gar nicht gab. Dennoch beschreibt er jene Kinderzeit ganz genau in vielen Details und vergleicht sie mit dem, was als „Fortschritt“ durchgeht. So wird die Lektüre für den Leser zur Entdeckungsreise. Tolle SF-Autoren wie Stanley Weinbaum und Henry Kuttner, die viel zu früh verstarben, leben hier wieder auf, und selbst Edgar Rice Burroughs schickt seinen John Carter von Barsoom zu den Monden des Jupiter – ein Fest für den Freund von wundersamen Zukunftserzählungen. „Jeffty ist fünf“ ist eine meiner Lieblingsgeschichten in der Phantastik.

33) Michael Bishop: Hinter den Mauern von Tyros (Within the Walls of Tyre, 1978)

Marilyn Odau ist mit 55 Jahren noch ledig und kinderlos. Dieses Bild vermittelt sie jedenfalls ihren beiden Verkäuferinnen, wenn sie als Leiterin einer Modeboutique im Einkaufszentrum arbeitet. Doch Marilyn hütet seit über 30 Jahren ein düsteres Geheimnis, das niemand erfahren darf, seit ihr geliebter Jordan Burk sie verließ und im Pazifik-Krieg nahe dem Tarawa-Atoll ums Leben kam.

Der Vertreter Nicholas Anson möchte ihr eine „Flüssigen Strümpfe“ andrehen, aber sie sagt nein. Sie ist tief in Gedanken, weil er Jordan so ähnlich sieht, und als er den Laden verlässt, nennt sie ihn aus Versehen tatsächlich „Jordan“. Er besteht auf einem Wiedersehen, und sie willigt ein. Aus dem Stelldichein Schnellimbiss wird eine Einladung zum Abendessen, doch wozu sich die Umstände machen? Er darf bei ihr übernachten.

Er entdeckt ihr Geheimnis: ein Steinkind, das in ihrem Eileiter herangewachsen war und herausoperiert werden musste. Nun hütet sie das Steinding wie ein Baby in einer Krippe. Nun endlich rückt auch er mit der Sprache heraus: Er ist der Sohn der ersten Frau von Jordan Burk, also der Halbbruder des Steinkindes. Marilyn ist so erschüttert, dass sie ihn des Hauses verweist.

Doch das dicke Ende kommt noch, als er sie zu einer weiteren Präsentation im Einkaufszentrum einlädt. Diesmal hat er, als Nikolaus verkleidet, eine ganz besondere Überraschung für sie vorbereitet, ein neues Verkaufsobjekt, das Marilyn bei seinem Anblick zum Schreien bringt…

Mein Eindruck

Die Geschichte spielt in der Weihnachtszeit. Dies wird zur Feier der Ankunft des Christuskindes begangen und mit allerlei Drumherum wie etwa Geschenken versehen, die wichtigste Saison also. Dieses Motiv der Geburt eines Kindes hat der Autor herangezogen, es verdreht und mit einem grausigen Horroreffekt versehen. Auf diese Weise schockt er den Leser und erinnert ihn daran, worum es bei Weihnachten wirklich geht. Und was so eine fehlgeschlagene Geburt für so manche Frau bedeuten kann.

Besonders die Figur der Marilyn Odau ist sehr ausgefeilt beschrieben, so dass sich der Leser rasch mit ihr identifizieren kann. Sie ist keine Mutter Maria, selbst wenn sie ein Kind hat, sondern hütet ein dunkles Geheimnis, von dem sie weiß, dass dessen Entdeckung sie zum Freak stempeln würde. Dass sie Jordan Burks zweites und drittes Opfer ist, realisiert sie in ihrer Trauer nicht. Dazu zwingt sie erst der recht mysteriöse Nicholas Anson. Sein besuch bei Marilyn war keineswegs Zufall, sondern der Beginn seines Racheplans. Seine Rache ist falsch motiviert, aber das hindert ihn nicht daran, den ultimativen Schlag gegen Marilyns Seele auszuführen.

Die Übersetzungen

Die Textbeiträge stammen von den unterschiedlichsten Übersetzern (18, um genau zu sein) aus den verschiedensten Jahrzehnten. Folglich ist die Schreibung uneinheitlich, und viele Druckfehler rühren von fehlender Korrektur her: fehlende bzw. überflüssige Endungen und etliche Buchstabendreher. Die folgende Liste führt nur die auffälligsten Fehler auf.

S. 244: „dass ich das Leben in seiner ganzen Härte erst kennenlerne müsse[n].“ Da es sich um indirekte Rede handelt, ist das N überflüssig.

S. 274: „eines Be[n]zingases…“: Das N fehlt.

S. 339: „in rustikalen Bevölkerungsschichten“: Gemeint ist die ländliche Bevölkerung, ob nun „rustikal“ oder nicht.

S. 372: „versuchte dem Mann mit der Kristallkugel seinen Besitz abzusch[w]atzen…“: Das W fehlt.

S. 439: „extrem hart oder ext[r]em weich…“: Das R fehlt.

S. 487: „die Mannschart“ statt „die Mannschaft“.

S. 594: „Anita lehnte sich gehen das windschiefe Gitter…“: Statt „gehen“ sollte es „gegen“ heißen.

S. 604: „Es ist einfach [o]der Lauf der Dinge.“ Das O ist überflüssig.

S. 627: „Nach ein[i]ger Zeit…“: Das i fehlt.

S. 630: „Hab das Fenster gesehen. Sieht so aus, als ist der Rahmen zertrümmert.“ So viel lausiges Deutsch muss nicht sein. Korrekt heißt es: „Sieht so aus, als SEI der Rahmen zertrümmert.“

S. 643: „Mein Bündel mit der (…) Decke und dem Mundvorrat war höllisch [schwer] geworden.“ Hier fehlt ein ganzes Wort!

S. 668: „Strachdrahtzaun“ müsste wohl „Stacheldrahtzaun“ heißen.

S. 793: „Ein ganzer Kontinent lag zwischen ihm in ihr.“ Statt „in“ müsste es wohl „und“ heißen.

Unterm Strich

Bemerkenswert an dieser umfangreichen Auswahl ist nicht nur die Dominanz von Horrorgeschichten, sondern auch der Zeitraum, aus dem die Beiträge ausgewählt wurden: Er reicht von 1924/26 (Merritt und Lovecraft) bis zum Jahr 1978 (Bishop, Cowper). Dieser geringe Zeitraum wirft die Frage auf, ob es sich überhaupt um eine repräsentative Auswahl handelt. Denn der Kenner von Fantasy und Horror, weiß, dass es schon vor diesem Zeitraum maßgebliche Werke gegeben hat, sei es von Poe, sei es von Dunsany und anderen. Und nach dem Jahr 1978 natürlich erst recht.

Der Grund, überhaupt eine solche Anthologie zu veranstalten, wird von den Herausgebern in ihrer Einleitung dargelegt: Die meisten dieser Beiträge seien in der Versenkung verschwunden, nachdem die entsprechenden Magazine eingestellt worden waren. Mithin sei es höchste Zeit, sie wiederzuentdecken: „Weird Tales“, „Unknown“ und viele weitere. Es gibt schlechtere Gründe, die man anführen könnte. Und die Einleitung liefert einen Abriss der Literaturgeschichte in den USA und Großbritannien, die die Entwicklung der genre-Magazine nachzeichnet.

Für den Sammler von Horror und Fantasy ist die Anthologie, in ihrem eng abgesteckten Rahmen von 1926 bis 1978, ein Sammelobjekt. Denn fast jede Erzählung ist mit einer schönen Zeichnung illustiert. Solch edle Ausstattung findet man heute nur noch selten. Wer jedoch romantische Jugend-Fantasy à la C.S. Lewis oder Patricia McKillip sucht, der ist hier auf der falschen Baustelle: Hier treten Werwölfe und vieles ähnliches Gelichter auf, von den Ratten im Gemäuer ganz zu schweigen…

Fazit: 4,5 von 5

Taschenbuch: 795 Seiten
Originaltitel: A Treasury od Modern Fantasy, 1981
ISBN-13: 9783453312623

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