Gerard Donovan – Der Rächer aus den Wäldern. Einsiedler-Thriller


Der Winter in den Wäldern von Maine ist kalt und einsam. Bisher hat das Julius Winsome nicht gestört, er lebt schon lange allein, und er hat einen treuen Gefährten, seinen Pitbullterrier Hobbes. Als sein Hund eines Nachmittags offenbar absichtlich erschossen wird, bricht Julius Welt zusammen. Und er fasst einen erschreckenden Entschluss … (Verleihinfo)

Der Autor

Gerard Donovan wurde 1959 in Wexford, Irland, geboren und lebt heute im Staat New York. Er studierte Philosophie und Germanistik in Irland, arbeitete in einer bayerischen Käsefabrik, studierte klassische Gitarre in Dublin und trat als Musiker mit Schwerpunkt J. S. Bach auf. Er veröffentlichte Gedichtbände, Shortstorys und Romane und wurde mit dem „Kerry Group Irish Fiction Award“ ausgezeichnet.

Der Sprecher

Markus Hoffmann ist einer der bekanntesten Rundfunk- und Hörbuchsprecher. Zwei seiner Lesungen wurden mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.

Aufnahmeleiter war Andreas Fuhrmann.

Handlung

Der 51-jährige Einsiedler Julius Winsome lebt zurückgezogen in einer Jagdhütte in den Wäldern von Maine. Der Winter steht vor der Tür, er ist allein, aber er hat die über dreitausend Bücher seines Vaters zur Gesellschaft und vor allem seinen Hund Hobbes, einen treuen und verspielten Pitbullterrier.

Eines Nachmittags, als er gerade vor dem Feuer sitzt und liest, hört er einen Schuss. Eigentlich nichts Besonderes, denn es ist in Maine gerade Jagdsaison. Dennoch wundert sich Winsome, weil der Schuss ganz in seiner Nähe gefallen ist, zu nahe. Als er vor die Tür geht, entdeckt er, dass Hobbes erschossen wurde – offenbar mit Absicht, denn der Schuss wurde aus allernächster Nähe abgefeuert. Aber von wem? Von jemandem, den Hobbes gut kannte…

Der Verlust trifft Julius mit ungeahnter Wucht. Er denkt an all die anderen Verluste in seinem Leben: die Mutter, die er gar nicht kannte, weil sie bei seiner Geburt starb, den Vater, der nie wieder heiratete, der ihn allein großzog und ihm die Sprache Shakespeares beibrachte und jetzt auch schon zwanzig Jahre nicht mehr da ist; an Claire, die einzige Frau in seinem Leben, die ihn einen Sommer lang liebte und dann wieder verschwand. Und jetzt Hobbes, sein letzter wahrer Freund.

Am nächsten Tag holt Julies das Scharfschützengewehr, das sein Großvater im Ersten Weltkrieg benutzte, aus der Scheune und zieht los, um seinen Hund zu rächen. Er macht Jagd auf die Jäger.

Mein Eindruck

Obwohl der Einsiedler ein Anachronismus ist, verspüren wir schon bald Sympathie mit ihm. Wir nehmen teil an seinem Schicksal und erinnern uns mit ihm an schöne und schlimme Stunden. Er ist ein Anachronismus sowohl in seiner Einsamkeit als auch in seiner Sprache: Elisabethanisch wurde vor rund 500 Jahren gesprochen, und es ist eine komplexe Sprache voller Anspielungen und Umschreibungen.

Als Julius den Mörder seines Hundes endlich gestellt hat und mit ihm redet, um die Beweggründe zur Tat zu erfahren, versteht ihn dieser kaum. Julius muss sich praktisch selbst übersetzen. Und seine Denkvorgänge natürlich auch. Auf seine verquere Art hat er die Jagdtaktik des Mörders durchschaut und ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen – alles aufgrund der Denkweise der Elisabethaner. Erstaunlich. Was nur beweist, dass sich die Jagdtaktiken des 21. Jahrhunderts nicht sehr von denen des 15. Jahrhunderts unterscheiden. Der Jäger und Krieger im Mann ist gleich geblieben.

Dabei ist Julius, der literarische Einsiedler, eigentlich gar kein Jäger. Lediglich seine Familientradition versetzt ihn dazu in die Lage. Großvater war Schütze im Ersten Weltkrieg und bekam von einem Engländer ein echtes Sniper-Gewehr – bevor dieser in der letzten Minute vor dem Waffenstillstand am 11.11.1918 noch von den Deutschen erschossen wurde. Das Buch ist voll von solchen bitteren Ironien. Und Julius‘ Vater war natürlich auch im Krieg, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Er brachte seinem Sohnemann nicht nur Shakespeare bei, sondern auch das korrekte Schießen.

Die Waffe hätte Julius nie hervorgeholt, wenn er sich nicht bedroht gefühlt hätte. Der kaltblütige Mord an seinem besten Freund, Hobbes, und die ständig näherkommenden Schüsse der Jäger in den Wäldern Maines – ein Mann müsste ihnen mal eine Lektion erteilen, die sie nicht so schnell vergessen. Schon wenige Wochen später ist der Bundesstaat in Aufruhr und die Medien überschlagen sich vor Hysterie: Ein Serienkiller geht um und hat es auf unschuldige Waidmänner abgesehen!

Die Behörden rufen eilends zur Hatz auf den Aufmüpfigen, den Außenseiter, den Feind im Inneren, der dem Staat den Krieg zu erklärt haben scheint. Eine weitere Ironie: „Hobbes“ war derjenige Philosoph, der erklärte, dass der Mensch dem anderen Menschen ein Wolf sei („homo homini lupus“***). Der Name des Hundes erweist sich als Wink mit dem Zaunpfahl.

Julius hegt zunächst einen finsteren Verdacht. Aber er kann sich nie sicher sein. Deshalb hängt er regelmäßig in der nächsten Stadt Plakate auf, um den Mörder seines Hundes ausfindig zu machen. Das ist natürlich rührend naiv. Welcher Mörder würde sich schon selbst stellen? Aber die Botschaft bleibt nie unbeantwortet, denn Julius findet stets einen fiesen Kommentar auf seinen Suchplakaten. Dass er geduldig wie ein Jäger in einem nahen Café auf diesen Kommentator wartet, hilft nichts, denn immer wieder taucht seine alte Flamme Claire auf und lenkt ihn ab.

Rätsel der Liebe

Warum ist Claire, diese weibliche Sphinx, zu ihm hinaus in die Wälder gekommen – und warum ging sie wieder? Kurze Zeit schliefen sie miteinander und Claire freundete sich mit dem Hund an. Doch eines Tages war sie wieder fort, keineswegs schwanger, wie Julius weiß. Jetzt ist sie mit dem US-Polizisten Troy zusammen, der nicht gut auf seinen Vorgänger zu sprechen ist. Sie sagt, sie wolle mit ihm eine Familie gründen. Am Schluss soll diese Hoffnung den Ausschlag geben. Denn für sich selbst hegt Julius keine Hoffnung mehr: Sein Leben ohne Familie ist eine Sackgasse.

Der Sprecher

Markus Hoffmann schafft es mit seinem ruhigen, einfühlsamen Vortrag, den Hörer in die seltsame Geschichte und Welt des Julius Winsome hineinzuziehen. Ihm unterlaufen weder Aussprachefehler im Englischen noch im Französischen. Wie man elisabethanisch korrekt ausspricht, weiß heute nur noch ein Spezialist – und das ist hier nicht wichtig.

Es mag merkwürdig anmuten, dass die Jagdszenen, die regelmäßig tödlich enden, ebenso ruhig und gleichmütig erzählt werden wie die Rückblenden und die Denkvorgänge der Hauptfiguren. Für Julius ist dies natürlich ein Kontinuum, in dem es keine Brüche gibt.

Weder Geräusche noch Musik stören oder ergänzen den Vortrag, also brauche ich darüber keine Worte zu verlieren. Man sollte aber auf jeden Fall die Anmerkungen des Autors im Booklet lesen. Dieses findet sich möglicherweise nur in der teuren Erstausgabe des Hörbuchs von 2010, nicht aber in der preiswerteren Neuausgabe.

Unterm Strich

Julius Winsome erinnert ein wenig an Jeremiah Johnson und andere „Mountain Men“, also Einsiedler, die selbstgenügsam fernab der Zivilisation in den Wäldern leben. Der Abstand dieser urwüchsiger Kerle zum Rest der zivilisatorischen Entwicklung ist immer groß, nicht nur in Sachen Technik, sondern vor allem bezüglich ihrer Moral. Manche hängen noch dem alttestamentarischen Prinzip des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. So auch Julius, den von den Amis unterscheidet, dass er über die Mutter ein halber Franzose ist. Sie stammte aus einer alten kanadischen Familie. Er ist quasi halb ein Fremder im eigenen Land.

Bei ihm kommt noch erschwerend hinzu, dass er auch sprachlich ein Anachronismus ist. Er liebt die Elisabethaner und lernt jeden Tag mindestens vier ihrer anspielungsreichen Vokabeln. So gesehen ist Julius auch aus der Zeit gefallen. Deshalb ist es umso verblüffender, dass er seinen Jägern immer einen Schritt voraus ist und die Oberhand behält. Der Grund: Sie wenden die gleichen Taktiken an wie die Elisabethaner vor 500 Jahren. Das besagt nichts Gutes über die archaische Kultur der Jäger in den Wäldern von Maine – selbst wenn sie als Polizisten daherkommen.

Nachwirkung

In seiner Nachbemerkung, die im Booklet nachzulesen ist, erwähnt der Autor, dass sein Buch in vielen Lesezirkeln der Welt kontrovers diskutiert wurde. Und in Israel, das ja (notgedrungen) auch eine kriegerische Kultur aufweist, trat ein langjähriges Mitglied aus soclh einem Lesezirkel aus, weil ihn die Aussagen des Buches dazu gebracht hatten. Das kann ich bestens nachvollziehen. Der Autor kommentiert die Kultur der Scharfschützen, ohne sie zu verurteilen, doch der Sinn hinter den Aussagen ist als sehr kritisch zu bewerten.

Ich selbst fand die Geschichte äußerst faszinierend, denn ich wusste nie, wohin sie steuerte. Die Rückblenden zu Vater, Großvater und Claire verschmolzen nahtlos mit den aktuellen Jagdszenen, die an Spannung Schritt für Schritt zunehmen. Schließlich steht der Showdown in Eis und Schnee an, und der letzte lange Dialog muss über Leben und Tod des Mörders entscheiden. Es hat mich lediglich etwas gewundert, dass Julius nicht seine Hütte mit der Bibliothek anzündet, bevor er sie endgültig verlässt. So würde es jedenfalls Hollywood inszenieren.

Das Hörbuch

Obwohl dies die Geschichte eines Serienmörders ist, mutet sie doch völlig anders an, nämlich wie die Tragödie eines Außenseiters, den man ins Unglück treiben will. Als er sich, wie weiland Jeremiah Johnson oder Michael Kohlhaas, zur Wehr setzt, reagiert die Gesellschaft mit hinterlistiger Brutalität. Dass er sich der Bücherwurm dennoch zu behaupten versteht, gehört zu den verblüffenden Erlebnissen, auf die der Hörer aufgrund des ruhigen Vortrags nicht vorbereitet ist.

Ich fand den Vortrag von Markus Hoffmann sehr passend. Wer aber auf Action geeicht ist, dürfte lange Zeit vergebens warten. Dies ist kein Stephen King oder Dean Koontz, sondern eine tiefergehendere Analyse der heutigen Zeit.

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***: Das komplette Zitat stammt ursprünglich vom römischen Philosophen Plautus: „lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“ bedeutet: “ Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, nicht ein Mensch, wenn man sich nicht kennt.“ (zitiert nach der Wikipedia)

Info: Julius Winsome, 2009
328 Minuten
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel
ISBN-13: 978-3869741079

www.sprechendebuecher.de