Kinkel, Tanja – König der Narren, Der (Die Legenden von Phantásien)

Die Weberinnen von Siridom sind berühmt für ihre kunstvollen Teppiche, und das zu Recht, denn diese Teppiche zeigen nicht nur irgendwelche beliebigen Muster, sondern Bilder. Bilder von längst vergangenen und fast vergessenen Geschehnissen aus Phantásien. Auf ihre Weise sind die Weberinnen Bewahrer der Geschichte, Historiker, und zu ihnen zu gehören, ist eine große Ehre.

Eine Ehre, mit der die junge Res nicht viel anfangen kann! Die Aussicht, ihr ganzes Leben in Siridom am Webstuhl zu verbringen, ödet sie an! Sie würde viel lieber mit den Trossen der Handelswagen auf Reisen gehen, um die Welt, die sie in ihre Bilder webt, selbst zu sehen! Völlig überraschend erhält sie die Gelegenheit: Ein Handelstross ist dem Nichts begegnet und kehrt völlig leer und grau zurück, nur die Zugtiere und eine Katze sind noch da. Der Gildenmeister verspricht zwar, eine Gesandtschaft zur Kindlichen Kaiserin zu schicken, macht sich aber stattdessen mit seiner ganzen Familie aus dem Staub! Res beschließt, selbst etwas zur Rettung Phantásiens zu unternehmen. Sie will den Verlorenen Kaiser finden. Ein einziger, uralter Wandteppich erzählt davon, dass dieser Kaiser Phantásien schon einmal gerettet hat, allerdings starb die Weberin vor der Vollendung des Teppichs, sodass niemand weiß, was aus dem Kaiser geworden ist. Bestellt wurde der Teppich von der Fürstin der Stadt Kading, deshalb beschließt Res, ihre Suche dort zu beginnen. Die Katze, die sie in dem leeren Handelstross gefunden hat, nimmt sie mit, denn die Katze hat behauptet, den Weg nach Kading zu kennen. Aber kann Res der Katze trauen?

Tanja Kinkels Phantásien-Geschichte spielt zeitgleich zu den Erlebnissen von Atréju, obwohl dieser namentlich kein einziges Mal erwähnt wird. Die Autorin spricht von einem Gesandten, den die Kindliche Kaiserin ausgesandt hat. Den genauen Zeitpunkt erfährt der Leser jedoch erst gegen Ende, als Res dem Wandernden Berg begegnet.

Res ist ein recht burschikoses Mädchen. Häuslichkeit liegt ihr nicht, sie will Abenteuer erleben. Vor allem aber will sie nicht alles, was es zu wissen gibt, aus zweiter Hand erfahren! Sie will ihre eigenen Erfahrungen machen! Allerdings hat sie sich diese Erfahrungen anders vorgestellt. Ganz allein in die Welt hinauszuziehen, ist eben bei weitem nicht so einfach wie in einer Gruppe, zumal eine der Erfahrungen zeigt, dass gute Absichten nicht unbedingt gute Taten, und gute Taten nicht unbedingt gute Folgen nach sich ziehen! Überhaupt ist das mit dem Gut und Böse gar nicht so einfach. So sind die Federwesen aus Haruspex überhaupt nicht erbaut von Res‘ Lebensrettungsaktion, und Haruspex ist nicht der einzige Ort, wo Res sich Feinde macht.

Die Katze unterstützt sie darin höchst erfolgreich. Nicht, weil sie Res wirklich schaden will! Nur liegt es eben nun mal im Naturell einer Katze, dass sie selbstsüchtig denkt. Die Katze ist meiner Meinung nach der gelungenste Charakter des ganzen Buches: Abgesehen von ihrem Egoismus ist sie auch noch ein bisschen arrogant, unberechenbar und gelegentlich auch hinterlistig. Sie hilft Res immer nur dann, wenn es ihren eigenen Interessen dient. Und sie hält sich immer und überall ein Hintertürchen offen. Dass sie mehr ist als eine Katze, hört Res zum ersten Mal von ihrem zweiten Begleiter Yen Tao-Tzu. Der Katze ist das gar nicht recht, denn er rührt damit unwissentlich an ein Geheimnis, das gerade Res keinesfalls erfahren darf.

Yen Tao-Tzu wird zu diesem Zeitpunkt allerdings von Res nicht ernst genommen, denn er ist geistig verwirrt. Für den Leser ist relativ schnell klar, dass er ein Menschenkind ohne Erinnerungen sein muss, aber Res ist Phantásierin und weiß nichts von Menschenkindern. Und es ist schwer, selbst die einfachsten Lösungen zu entdecken, wenn man nicht wissen kann, dass man die falschen Fragen stellt.

So fliegt Res mit ihren Begleitern einen langen Weg durch Phantásien, um ein Mittel gegen das Nichts zu finden, und kommt dabei zu vielen verschiedenen Orten und Wesen. Fast ein paar zu viele, könnte man meinen. Tanja Kinkels Geschichte beinhaltet fast doppelt so viele Stationen wie [„Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ 1095 von Ralf Isau, aber die Ausarbeitung ist sehr unterschiedlich. Manche werden nur kurz gestreift, manche etwas ausführlicher behandelt. Insgesamt bleibt die Ausarbeitung Kinkels jedoch weit hinter Isaus zurück. Mag sein, dass die gut 350 Seiten nicht genug Platz hergaben für eine detailliertere Beschreibung, andererseits hätte mehr Raum dafür zur Verfügung gestanden, wenn Res ein paar Orte weniger bereist hätte. Stattdessen sind die Ausgestaltungen der verschiedenen Orte ziemlich oberflächlich geblieben und Kinkels Phantásien damit fern und diffus.

Auch die Charaktere der meisten Wesen, denen Res begegnet, haben nur wenig Tiefe. Einzige Ausnahme bilden diejenigen, die Res folgen bzw. verfolgen.
Die Leonesen wollen den Tod eines der Ihren rächen. Dass an diesem Tod nicht allein Res schuld ist, ist ihnen dabei völlig unwichtig. Aber Blutrache hatte ja auch noch nie etwas mit Logik oder Vernunft zu tun. Die Federwesen machen Res für den Untergang ihres Dorfes verantwortlich. Auf den Gedanken, dass das Nichts ihr Dorf auf jeden Fall verschlungen hätte, kommen sie nicht im Traum. Es ist einfacher, einen Schuldigen zu suchen! Die Fürstin von Kading schließlich ist eine Herrscherin, die fast ein wenig an Kaiser Nero erinnert: eitel, gelangweilt, gleichgültig und grausam. Im Laufe ihrer Reise trifft Res diese Wesen immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen. Zusammen mit dem Umstand, dass auch in diesen Fällen das erste Zusammentreffen in der jeweiligen Heimat recht knapp ausfällt, vermitteln diese ständigen, vorübergehenden Treffen den Eindruck von Zerissenheit. Der Handlungsverlauf scheint irgendwie zerfasert und zerfleddert, was schade ist. Auch hier gilt: weniger wäre mehr gewesen, und ein Verfolger besser als drei.

Der Handlungsverlauf schwächelt auch noch an anderen Stellen.
So wird zum Beispiel nicht ganz klar, warum die Fürstin Res überhaupt verfolgt. Vielleicht wollte sie einfach nur die Scharte auswetzen, dass Res die Flucht gelungen ist, vielleicht empfand sie tatsächlich so etwas wie Respekt für diese Leistung und wollte Res deshalb als Verbündete, oder vielleicht befürchtete sie Konkurrenz. Wie auch immer, hier verliert sich Kinkel in Andeutungen, die entweder nur für höchst intelligente Leute nachvollziehbar oder generell einfach etwas zu wirr sind, um die Beweggründe und Ziele der Fürstin wirklich zu verstehen.

Ein weiterer Punkt, der ungeklärt bleibt, ist der, wie und warum Yen Tao-Tzu das Betreten von Kading überleben konnte. Die Autorin bietet lediglich einen Erklärungsversuch der Katze, der aber unlogisch ist, denn Yen Tao-Tzu ist ein Menschenkind und sein Leben daher, anders als vielleicht bei Phantásiern, nicht nur Gedanke sondern auch Körper. Yen Tao-Tzu selbst widerspricht der Katze unmittelbar, seine eigene Deutung aber erfährt der Leser nicht, weil die Autorin ihn von einem Federwesen unterbrechen lässt!

Dazu kommen logische Brüche zur Vorlage Michael Endes. Einen davon nimmt die Autorin bewusst in Kauf, nämlich die Tatsache, dass Yen Tao-Tzu auf irgendeine Weise von allein seine Sprache und seine Erinnerungen zurückerhält. Argax, das Äffchen aus der Alten Kaiser Stadt, stellt lapidar fest, dass das eigentlich nicht möglich sein sollte. Die Tatsache, dass Yen Tao-Tzu als einziges Menschenkind bewusst und freiwillig in die Alte Kaiser Stadt kam, kann dafür keine ausreichende Erklärung sein!

Die kategorische Aussage, dass Yen Tao-Tzu der kindlichen Kaiserin keinen neuen Namen geben kann, weil er es bereits einmal getan hat, ist ebenfalls so nicht richtig. Koreander erklärt Bastian am Ende der „Unendlichen Geschichte“, dass er Mondenkind nur so lange nicht wiedersehen könne, wie sie Mondenkind sei, dass er sie aber wiedersehen könne, wenn er ihr einen neuen Namen gäbe. Die Katze, mit der Res über diese Angelegenheit spricht, muss das wissen, denn sie ist ein Wanderer!

Trotz all dieser Mankos ist das Buch nicht wirklich schlecht. Wo sich die Autorin die Mühe gemacht hat, wirklich ins Detail zu gehen, sind die Darstellungen richtig gut gelungen. Das gilt ganz besonders für die Katze und die Federwesen aus Haruspex. Die übrigen Ideen hatten ebenfalls durchaus Potenzial und hätten im Falle einer genaueren Ausarbeitung eine echte Bereicherung für Phantásien darstellen können, was ja das erklärte Ziel dieser Buchreihe ist.

Bemerkenswert ist das Ende von Res‘ Reise, wo die Protagonistin in einem Aufwallen von Überdruss von der Heldin zur Antiheldin mutiert! Eine Wendung, die nicht unbedingt zu erwarten war und zusammen mit dem Charakter der Federwesen einen wirklich großen Wurf hätte bedeuten können, wenn sich Tanja Kinkel nicht in ihrer Fülle von halb Angedachtem verheddert, sondern sich auf diese Punkte konzentriert hätte.

Insgesamt ist „Der König der Narren“ durchaus lesenswert, auch wenn er meiner Meinung nach mit der „geheimen Bibliothek …“ von Ralf Isau nicht mithalten kann. Dafür fehlt ihm das gewisse Etwas, vielleicht das Quentchen mehr Fingerspitzengefühl, mit dem Isau seine Geschichte an die Vorlage angeschlossen hat, vielleicht auch einfach nur die konsequente und liebevolle Ausgestaltung der wenigen Orte und Personen, denen die Protagonisten begegnen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Frau Kinkel bisher eher Historienromane als Fantasy geschrieben hat. Jedenfalls hatte „Die geheime Bibliothek …“ eine Portion mehr Flair. Bleibt abzuwarten, was die übrigen Bände dieser Reihe noch zu bieten haben.

Tanja Kinkel stammt aus Bamberg, studierte in München unter anderem Germanistik und Theaterwissenschaften, hat mehrere Literaturpreise und Stipendien gewonnen. Außer Historienromanen, die größtenteils im Mittelalter spielen, hat sie inzwischen auch einen Roman über die Gründung Roms und einen „neuzeitlichen“ Roman geschrieben. Auch ein Jugendbuch mit dem Titel „Die Prinzen und der Drache“ findet sich in der Liste. „Der König der Narren“ war ihr letztes Buch, mit dem sie sich Anfang des Jahres auf Lesereise befand. Zur Zeit ist sie mit „Götterdämmerung“ unterwegs.

Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN-13: 978-3-426-19641-0

http://www.droemer-knaur.de/home
http://www.Tanja-Kinkel.de

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