Margriet de Moor – Sturmflut

Parallele Leben, bewegende Chronik

Niederlande, Januar 1953. Ein kleines Tiefdruckgebiet setzt sich von Grönland in Richtung Westeuropa in Bewegung. Am gleichen Tag bittet Armanda ihre zwei Jahre ältere Schwester Lidy, am Wochenende einen Besuch bei Armandas Patenkind auf der Insel Zeeland für sie zu übernehmen – ein kleiner Streich, bei dem Lidy als ihre Schwester auftritt. Unterdessen will Armanda Lidys zweijährige Tochter Nadja hüten und mit Lidys Mann auf eine Party im Familienkreis gehen. Der Rollentausch würde doch kaum Aufmerksamkeit erregen, da die beiden Schwestern einander so ähnlich sähen.

Armanda ahnt nicht, dass sie mit ihrer kleinen Komödie das große Schicksal herausfordert. Denn als Lidy am Samstag, den 31. Januar 1953, in Zeeland eintrifft, bricht jenes historische Unwetter los, in dem fast 2000 Menschen den Tod finden werden und der Südwesten der Niederlande von der Landkarte gefegt wird. Und fortan muss Armanda ein geliehenes Leben leben … (abgewandelte Verlagsinfo)

Die Autorin

Margriet de Moor, geboren 1941, studierte Gesang und Klavier. Nach einer Karriere als Sängerin studierte sie in Amsterdam Kunstgeschichte und Architektur. Schon ihr erster Roman „Erst grau, dann weiß, dann blau“ wurde ein sensationeller Erfolg und in alle Weltsprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen außerdem „Der Virtuose“ (1994), „Ich träume also“ (1996), „Herzog von Ägypten“ (1997), „Die Verabredung“ (2000) und „Kreutzersonate“ (2002).

http://www.margriet-de-moor.de

Die Sprecherin

Marlen Diekhoff, vielseitige Bühnen- und Filmschauspielerin, gehört nach Verlagsangaben seit vielen Jahren zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Für Hörbuch Hamburg hat sie bereits Texte von A. Baricco, Amélie Nothomb, Colette, Sándor Márai und „Tausendundeine Nacht“ gelesen.

Regie führte Gabriele Kreis, Tonmeister war Fabian Küttner.

Handlung

Lidy und Armanda Brouwer sind die Töchter des Kardiologen Jan Brouwer und leben mit ihrem Bruder Jacob, dreizehn, und ihrer Mutter Nadine lange Zeit im Elternhaus. Doch kürzlich hat Lidy den Bankangestellten Schur Blau geheiratet und vor zwei Jahren eine kleine Tochter namens Nadja geboren. Lidys Haus steht am anderen Ende eines kleinen Parks, an dem das Haus der Brouwers steht. Armanda studiert Geschichte und werkelt an ihrer Vordiplomarbeit.

Am Montag hat Armanda ihre Schwester angerufen und vorgeschlagen, ihrem Patenkind einen kleinen Streich zu spielen. Lidy soll statt ihrer selbst auf die Insel Zeeland fahren und dort das Geschenk überbringen. Mal sehen, ob der Schwindel bemerkt wird. Die Chancen stehen gut, dass niemand den Schwindel bemerkt, denn Lidy und die jüngere Armanda sehen einander sehr ähnlich. Während Lidy weg ist, werde sie, Armanda, auf ihre kleine Tochter Nadja aufpassen und mit Schur auf eine Party im Familienkreis gehen. Bestimmt wird alles glattgehen. Und weil sich Lidy und Armanda so gut verstehen, willigt Lidy ein. Was sie nicht ahnt: Armanda hat es auf Lidys Mann abgesehen.

Am Samstag, den 31. Januar 1953, fährt sie mit dem Auto ihres Vaters, einem Citroën, los, braucht aber durch die Fähren und das Warten fast den ganzen Tag, bis sie die Strecke Amsterdam – Zieriksee zurückgelegt hat. Ein starker Wind ist aufgekommen, die See ist aufgewühlt, und die letzte Fähre, die sie nach Zeeland bringt, kollidiert mit Karacho mit dem Anlegesteg. Zum Glück wird niemand verletzt. Es wird schon dunkel, als sie den Binnenhafen umrundet, eine Fußgängerin nach der Adresse fragen kann und endlich das richtige Haus findet.

Die Hockes halten sie zunächst tatsächlich für Armanda Brower, bis sie aus Gutmütigkeit das Missverständnis aufklärt. Es ist schon spät, als der Mann der Gastgeberin, Isaak Hocke, dem Deichvogt Simon Kau seinen Wagen leiht, damit er nach dem Rechten sehen kann. Der Sturm pfeift weiterhin um die Häuser. Müde geht Lidy zu Bett, doch sie wird mitten in der Nacht vom Deichvogt und Frau Hocke geweckt. Die Lage ist ernst, und man braucht Lidys Wagen. Sie kommt mit, um zu helfen.

Draußen auf den tiefliegenden Poldern brennen noch die Lichter auf den Höfen, die sich unter dem Fast-Orkan ducken, der mit Stärke elf über sie hinwegfegt. Regen wechselt sich mit Schnee ab, der Mond ist von dahinrasenden Wolken verdunkelt. Die Flutsperren, die der Deichvogt inspiziert, halten noch, doch was er nicht sieht, ist der Deichbruch fünfzehn Kilometer weiter südlich. Manche der verrosteten Schleusen lassen sich nicht schließen. Nun rächt sich die Vernachlässigung der Infrastruktur, die Polder laufen schnell voll, und Kau macht sich Vorwürfe. Hocke, Kau und Lidy Brouwer-Blau machen sich auf den Weg, um die Dorfbewohner von Zieriksee zu alarmieren …

Am Sonntag macht das Militär mobil. Armandas Familie vernimmt mit Erstaunen, was der Radiosprecher ihnen mitteilt. Schur Blau bekommt keine Verbindung mit Zeeland. Jacob fragt, ob der Krieg ausgebrochen ist, und Schur geht wieder. Das Radio sagt, die Deiche seien gebrochen und Menschen seien in Gefahr. Um 18:00 Uhr wird wie immer zu Abend gegessen. Am Montag verkündet die Zeitung, Zeeland sei „von der Karte gefegt worden“. Was soll das heißen, fragt sich Armanda ungläubig. Sie denkt an die heldenhafte, tragische Figur ihrer Schwester. Schur ist ins Katastrophengebiet gefahren, um seine Frau zu suchen.

Sie geht ins Kino, um die Wochenschau zu sehen. Die Bilder der überschwemmten Region sind entsetzlich, und Armanda beginnt zu schwitzen. Über Lidys Zielort wird nichts verlautet. Da ahnt sie, dass sie ihre Schwester verloren hat. Zum ersten Mal schießt ihr der Gedanke durch den Kopf: „Du bist eine andere.“ Sie soll diesen Gedanken noch viele Male haben. Von nun an führt sie das Leben einer Stellvertreterin, geliehen, nichts Eigenes, scheinlebendig. Nadja fragt nach ihrer Mutter …

In der Nacht von Sonntag auf Montag beginnen die Häuser, auf deren Dachböden die Dorfbewohner von Zieriksee Zuflucht gefunden haben, unter dem Ansturm der vor- und zurückströmenden Sturmfluten zu zerbröckeln und einzustürzen. Ein Neugeborenes findet mit seiner Mutter ein wackeliges Zuhause auf einer dahintreibenden Stalltür. Lidy, die dem Kleinen ins Leben geholfen hat, sieht sich mit Überlebenden durch die Nacht treiben, und nur die entfesselten Elemente wissen, wohin die Reise geht. Die Kälte vermittelt ihr das entmutigende Gefühl, bereits scheintot zu sein.

Mein Eindruck

Die Autorin braucht keine Science-Fiction-Spezialeffekte, um ein Garn zu spinnen, das man durchaus auch mit einer Zeitmaschine oder einem Bewusstseinstausch hätte bewerkstelligen können. Sie hätte auch einen gewöhnlichen Katastrophenthriller schreiben können. Durch einen kleinen Twist im Verlauf der Ereignisse geraten die beiden Schwestern Lidy und Armanda auf Lebensbahnen, die sich ausschließlich durch ihr Erzähltwerden und ihre Wahrnehmung als außergewöhnlich bewerten lassen. Durch ihre geschickte Erzählkunst gewährt uns die Autorin einen Blick in das Bewusstsein ihrer beiden Hauptfiguren: das richtige Leben im falschen – und doch mehr.

Ungewissheit

Statt auf der immensen Ironie der Konstellation herumzureiten, lässt sich die Autorin einfach auf den Verlauf der Dinge ein, um zu sehen, was passiert. Dass Lidy umkommen wird, ist keineswegs absolut sicher. Zwar werden jahrelang Leichen und Überreste aus dem Schlick vor der Küste geborgen, doch insgeheim besteht noch Hoffnung – vielleicht wurde sie irgendwo angespült und hat das Gedächtnis verloren. Selbst als schon die Trauerfeier für Lidy abgehalten wurde und sie offiziell für tot erklärt worden ist, damit das Leben ihrer Angehörigen weitergehen kann, könnte sie doch wieder vor der Tür ihres Elternhauses stehen. Oder noch schlimmer, vor ihrem eigenen Haus. Denn dort ist inzwischen Armanda eingezogen, hat Schur geheiratet und mit ihm zwei Kinder gezeugt. Was hätte Lidy wohl dazu gesagt?

Scheinleben

Zunehmend wird deutlich, dass die Tote in den Gedanken, Gefühlen und Informationsstrukturen ihrer Angehörigen weiterlebt: ein Scheinleben zwar, aber eines, wie es im Bewusstsein vieler Menschen alltäglich ist. Eines Tages muss auch Nadja davon erfahren, dass Armanda gar nicht ihre leibliche Mutter ist, sondern die junge Frau da auf dem vergilbten Foto, das sie auf dem Speicher gefunden hat. Was sie bisher für wirklich gehalten hat, ist nur eine Selbsttäuschung. Später ergeht es Nadja erneut so, als ein Mann, den sie liebt, sie sitzenlässt, weil er verheiratet ist. Nadja erleidet einen sehr merkwürdigen Tod – doch mehr verrate ich nicht.

Armanda

Armanda lebt ein Stellvertreterleben, ein Scheinleben, das sie von ihrer Schwester geliehen hat, komplett ausgestattet mit Ehegatten und Tochter, vom Haus ganz zu schweigen. Das Gefühl der Entfremdung ist sehr stark, und dass Schur sie nicht begehrt, verstärkt das Gefühl einer undefinierbaren Minderwertigkeit nur noch. Natürlich gibt sie sich die Schuld am Tod ihrer Schwester, aber wer hätte ahnen können, dass Lidy auf Zeeland spurlos verschwinden würde?

Seltsamerweise erwartet jeder von Armanda, dass sie in die Fußstapfen ihrer Schwester tritt. Das scheint gar keiner Diskussion zu bedürfen. Das neue, geliehene Leben fällt ihr nicht in den Schoß, es wird ihr in die Hände gedrückt, denn schließlich muss jemand die Verantwortung für Nadja und auch für Schur, den Witwer, übernehmen. Nicht dass sie etwas dagegen hätte: Sie wollte Kinder und begehrte Schur. Doch vielleicht ist dieses Leben auch nur eine Illusion? Sie ist gar nicht dazu gekommen, ihr eigenes originäres Potenzial auszuleben. Als wäre sie ein Roboter, der eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat. Manchmal fragt sie sich, ob Gott dafür eine Antwort hat – der Pfarrer hat bestimmt keine.

Lidy

Lidy schließlich hat ebenfalls eine existenzielle Erfahrung. Sie ist eine Geworfene, wie sie Camus und Sartre erfunden hätten. In den tosenden Nachtstunden auf den Poldern von Zeeland, im eisigen Wasser, am Fenster des rettenden Dachbodens, zwischen den Schenkeln einer Gebärenden – Situationen, die sie noch nie erfahren hat und sich nie hätte vorstellen können. (Selbst zu gebären ist etwas völlig anderes als dabei zuzusehen.)

Dennoch hat sie keine einzige Stunde der Verzweiflung, versucht niemals, sich den Tod zu geben, sondern denkt stets an ihre Liebe zu ihrem Mann und ihrer Tochter und dass sie diesen gegenüber eine Verantwortung hat – obwohl sie doch genau sieht, dass die Lage um das zerbröckelnde Haus ihrer Zuflucht hoffnungslos geworden ist. In diesen Szenen wird – wie in Armandas Augen – Lidy zu einer tragischen Heldin in einem großen Naturdrama. Durch sie können wir an dieser Katastrophe teilnehmen.

Der Verlauf der Katastrophe durchzieht bis zu Lidys Ende das ganze Buch, parallel geschnitten zu Armandas weiterem Leben. Der Effekt ist kurios: Stets ist Armandas geliehenes Leben überschattet vom Schicksal ihrer Schwester. Und stünde Armanda für die Niederlande, so würde klar werden, dass erst Lidys Albtraum den Traum der Niederlande hervorgebracht hat, sich gegen solche Verheerungen zu wappnen. Im Jahr 1980 ist das gigantische Deltaprojekt mit seinen Schleusen, Dämmen und Deichen schon fast fertig, nach fast zwanzig Jahren Bauzeit.

Der Roman ist also auch ein Monument für eine Art Umwandlungsprozess des Landes von einer fast noch mittelalterlichen Kultur auf den Inseln zu einer modernen Industrienation. Solche Verbindungen zwischen den Zeitebenen halten den Roman zusammen und machen ihn kompakt. Sie fordern vom Leser bzw. Hörer aber auch ständige Aufmerksamkeit (siehe „Sprecherin“).

Joyce lässt grüßen

Der Schluss der Roman ist bemerkenswert. Wer befürchtet hat, dass sich die Schwestern niemals wiederbegegnen, wird hier erleichtert eines Besseren belehrt. Die Frage ist nur, wo sie sich begegnen. Denn sicherlich ist dies kein physischer und objektiv festlegbarer Ort, an dem die Begegnung stattfindet. Es muss sich um einen geistigen Ort handeln.

Die Autorin erklärt nichts dazu. Das letzte Kapitel besteht nämlich nur aus wörtlicher Rede und trägt den bezeichnenden Titel „Responsorium“. Dieser Begriff aus dem katholischen Kulturgut bezeichnet einen liturgischen Wechselgesang, und dieser wurde laut Duden meist nachts gesungen. Beim Wechselgesang stimmt die eine Hälfte des Chores einen Liedteil an, und der andere Chorteil antwortet mit einem entsprechenden Gegenstück.

Die beiden Sänger sind in unserem Fall natürlich Lidy und Armanda. Und keine der beiden gibt bis zum Schluss nach. Wir erfahren noch einiges darüber, wie es Armanda erging – sie starb mit 92 – und Nadja und natürlich auch Lidy. Lidy ertrank nicht. Das dürfte einigermaßen verblüffend sein. Wären irgendwelche Rettungstrupps am Abend des 2. Februar unterwegs gewesen, hätte sie überleben können. Dies ist wohl als Anklage gegen die laschen Sicherheitsmaßnahmen jener Zeit zu werten.

Das Responsorium ist zwar ein Dialog, aber hier ist wie im Monolog die Erzählerrolle aufgehoben, die halbwegs für einen objektiven Standpunkt sorgt. Das erinnert mich an das Schlusskapitel in James Joyces epochalem Roman „Ulysses“, in dem Leopold Blooms Frau – quasi als Penelope für seinen Odysseus / Ulysses – ihr Herz ausschüttet, und zwar das ganze und ohne Rückhalt oder Rücksichtnahme auf irgendwelche moralischen Vorbehalte. Nicht zuletzt deswegen wurde sein Roman sofort anno 1922 verboten.

Auch die Autorin von „Sturmflut“ nimmt in sexuellen Dingen kein Blatt vor den Mund, doch sie tut es so dezent, dass sich niemand auf die Zehen getreten fühlen dürfte. Was sich in Armandas Schlafzimmer abspielt, ist heute so normal, dass es schon wieder langweilig wirkt.

Schwächen

Das Einzige, was mich an dem Buch stört, sind die ständigen Vorausverweise der allwissenden Erzählerin in Lidys Handlungsstrang. „Es war alles festgelegt.“ Redet man so über eine Katastrophe? Wer legt denn da die Vernichtung einer Insel fest? Ist es der angeblich allmächtige und barmherzige Gott, zu dem Armanda in der Kirche beten soll? Sicherlich ist es nicht der Gott von Existenzialisten wie Camus und Sartre, die in Lidy ihre Heldin gesehen hätten: eine Geworfene, die sich zu behaupten versucht. Die Existenzialisten sagten ja: „Gott ist tot“ (und das sagte schon Nietzsche). Deshalb stört mich dieses „Es war alles schon festgelegt“, denn es suggeriert, als wäre auch Lidys Tod unausweichlich gewesen. Ganz am Schluss erfahren wir aber, dass er das nicht war. Wie hätte es die Autorin denn nun gern – deterministisch oder existenzialistisch?

Die Sprecherin

Marlen Diekhoff, eine erfahrene Schauspielerin, hat eine ruhige Altstimme, mit der sie selbst die schrecklichsten Dinge beherrscht zu erzählen vermag. In der Rolle der Erzählerin, die das kommende Schicksal kennt, wirkt sie am passendsten zu dem Text, und auch dann, als von der alternden Armanda zu berichten ist. Ich hätte mir allerdings die Stimmen von Lidy, die erst 23 Jahre alt ist, und Armanda, die zwei Jahre jünger ist, viel höher vorgestellt, als Diekhoff sie vorträgt.

Doch sie ist auch flexibel und zu lauten Tönen fähig. Sie ruft „Seht euch das an!“ und „Herrje!“ Unglaube, Entsetzen, Bestürzung fordern andere Stimmlagen. Sie stößt die Worte hervor oder flüstert eindringlich, sie plappert nervös vor sich hin oder nörgelt und tratscht, als seien Pfarrerstöchter unter sich. Dann hört man die Vielfalt des weiblichen Lebens – männliche Figuren sind eher selten in dieser Geschichte. Diekhoff beeindruckt durch die einwandfrei Aussprache der holländischen Namen, soweit ich die Korrektheit beurteilen kann.

Die ruhige Kontrolle der Sprecherin trägt dazu bei, die komplexe Erzählstruktur vorzutragen, aber immer wieder ertappte ich mich dabei, einen Wechsel der Szene oder Zeitebene nicht mitbekommen zu haben, und geriet mehrmals ins Schwimmen. Zum Glück kann man auf einem DVD-Spieler problemlos an eine frühere Stelle springen, um Unklarheiten zu beseitigen.

Allerdings wäre es noch hilfreicher gewesen, diese Unsicherheit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Es gibt verschiedene akustische und sprechkünstlerische Möglichkeiten, den Leser in seinem Verständnis zu unterstützen, doch keine davon wird von Diekhoff genutzt: Pausen, Hall, Musik und Geräusche im Hintergrund usw. Sie verlässt sich ganz auf ihren eigenen Vortrag, und das ist etwas zu wenig. Der Sturm, der Lidy ringsum umgibt, findet nicht in der Aufnahme statt, sondern einzig und allein in der Vorstellung des Hörers. Wohl dem also, der über eine lebhafte Imagination verfügt.

Unterm Strich

Dies hätte auch ein Katastrophenthriller werden können. Lidys Handlungsstrang hat dafür alle nötigen Zutaten, inklusive der üblichen Helden, doch fehlt das obligatorische Happyend. Stattdessen interessiert die Autorin sich stark für die Auswirkungen, welche die Katastrophe und Lidys Verschwinden auf ihre Familie haben, insbesondere auf ihre Schwester. Beides ist gleichermaßen bewegend und in philosophischer Hinsicht interessant.

Es wird klar, dass nicht nur das Leben an sich ein Wert ist, sondern auch dessen Wahrnehmung und Beurteilung. Armanda glaubt, das falsche Leben zu führen, eines, das sie von ihrer Schwester geliehen hat, komplett mit Ehemann, Haus und Tochter. Nur selten hadert Armanda mit dieser Bürde, hat sie doch eine im Grunde gesunde und glückliche Familie (jedenfalls so lange, bis sich ihr Mann scheiden lässt). Doch was wäre, wenn Lidy zurückkäme und das geliehene Glück zurückforderte – so wie es Oberst Chabert bei Balzac und der Graf von Monte Christo bei Dumas tun?

Im Grunde besagt die Geschichte der Autorin also, dass das Glück eine zerbrechliche Sache ist, ebenso wie das Leben und die Wirklichkeit an sich. Scheintod entspricht Scheinleben, und nur Verwaltungsakte scheiden manchmal das eine vom anderen. Es ist, als würde hier ein große Hand – in Gestalt der Sturmflut – eingreifen, um uns zu sagen, wie zerbrechlich und vergänglich ihre Existenz ist. Das Diktum, dass „alles schon festgelegt sei“, ist auch nicht gerade ermutigend. Armanda lebt ein determiniertes Leben, ohne sich im Geringsten gegen diesen Fahrplan aufzulehnen. Sie treibt wie Lidy im Strom der Ereignisse, die andere auslösen. Nadja versucht den Aufstand, indem sie einen Schwarzen liebt, scheitert aber an Illusionen und Lügen.

Möglicherweise hängt die Autorin bestimmten religiösen Vorstellungen an. Dass sie einen katholischen Fachbegriff wie „Responsorium“ verwendet, passt ins Bild. Obwohl es sich um einen frei interpretierbaren Kunstbegriff handelt, hätte die Autorin ja auch einfach „Wechselgesang“ oder „Dialog“ schreiben können. Die lateinische Form wird jedoch nur in der katholischen Liturgie verwendet.

Diese Nähe zu konservativen Haltungen und Werten steht im scheinbaren Widerspruch zu dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel, der in den Niederlanden infolge der Katastrophe eingeleitet wird. Die Autorin könnte jetzt entgegnen, dass man etwas auch auf organische Weise ändern könne, um es zu erhalten. Und dann Armanda als bestes Beispiel anführen: Ihr Leben ändert sich, aber sie zerbricht nicht daran, sondern wird im Gegenteil 92 Jahre alt. Eigentlich eine ermutigende Botschaft.

Das Hörbuch

Der Vortrag der Sprecherin Marlen Diekhoff beeindruckt durch die ruhige Erzählung, die den Hörer selbst schlimmste Szenen aus der Katastrophe fast unberührt überstehen lässt. Diekhoff mischt sich nicht durch Interpretation ein, engagiert sich lediglich bei Ausrufen, Flüstern und dergleichen, besonders im letzten Kapitel. Allerdings fehlt jeder Ansatz zur Charakterisierung, der die Figuren unterscheidbar machen würde. Sie sprechen fast alle gleich – nur die kleine Nadja klingt kindlich, und die ganz Alten natürlich abgeklärt.

Größere Schwierigkeiten hatte ich da schon mit den ständig wechselnden Zeitebenen. Das dichte Gewebe an Bewusstseinssträngen setzt sich aus zahllosen Erinnerungen zusammen. Das macht die Geschichte zwar dicht und kompakt, fordert dem Hörer aber auch höchste Aufmerksamkeit ab. Die Inszenierung, die nur mit Vortrag umgesetzt wurde, gibt dem Hörer keine Hinweise, in welcher Zeit oder welchem Handlungsstrang er sich gerade befindet.

Weil alles zeitlich gleichwertig ist, erscheint Lidys Martyrium so, als stünde es stets im Bewusstsein Armandas, obwohl dies gar nicht der Fall sein kann. Es sei denn, man nimmt aufgrund des imaginären Dialogs am Schluss an, dass Lidy ihrer Schwester alles erzählt habe – sozusagen als „Epilog im Himmel“ (analog zu Goethes „Prolog im Himmel“ im „Faust 1“). Man kann also ohne Übertreibung sagen, dass das Buch in erzählerischer Hinsicht ziemlich bemerkenswert ist. Aber das kann man auch von Mulischs [„Die Entdeckung des Himmels“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=4004 sagen, ebenfalls ein fabelhafter Roman, so dass guter Erzählstil zwar willkommen ist, aber kein Merkmal, das „Sturmflut“ aus der großen Masse guter Romane herausragen lassen würde.

388 Minuten auf 5 CDs
Originaltitel: De Verdronkene, 2005
Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen
www.hoerbuch-hamburg.de
www.margriet-de-moor.de