Ian Rankin – Puppenspiel

Inspektor Rebus ermittelt in einem Frauenmord, verärgert dabei prominente Bürger, wird quasi strafversetzt und mit dem bizarren Rätsel kleiner Modell-Särge konfrontiert, die seit zwei Jahrhunderten an späteren Mordschauplätzen entdeckt werden … – Der 12. Band der Rebus-Serie ist einer der besten. Trotz eines hohen Mystery-Faktors bleibt die Handlung kriminell und der ‚realen‘ Gegenwart verhaftet: ein Lektüre-Genuss.

Das geschieht:

John Rebus, Inspektor der Mordkommission im Revier St. Leonard’s Street in der schottischen Metropole Edinburgh, ist kein Freund prominentenstreichelnder Diplomatie, was er in seinem neuen Fall wieder unter Beweis stellt: Die junge Studentin Philippa, Tochter des steinreichen Privatbankiers John Balfour, ist spurlos aus ihrem Luxusappartement verschwunden. Hauptverdächtiger ist Freund David Costello, der zugeben muss, sich im heftigen Streit von Philippa getrennt zu haben.

Als Rebus mit Balfour Senior, der politische Verbindungen spielen lässt, aneinandergerät, nimmt ihn Hauptkommissarin Templer aus der Schusslinie. Sie schickt Rebus in das Landstädtchen Falls, über dem der schlossähnlichen Stammsitz der Balfours thront. Dort wurde an einer Quelle ein bizarrer Miniatursarg gefunden, in dem eine grob geschnitzte Puppenfrau lag. Rebus stellt Nachforschungen an und findet heraus, dass solche Puppensärge in Schottland schon früher auftauchten: in den Jahren 1972, 1977, 1982 und 1995 und stets dort, wo wenig später Mordopfer gefunden wurden. Diese Fälle blieben stets ungeklärt.

Es wird noch seltsamer: Dr. Jean Burchill, die als Historikerin im Schottischen Nationalmuseum arbeitet, setzt Rebus über ein Rätsel der Edinburgher Lokalgeschichte in Kenntnis: Schon 1836 hatten Kinder in einer Höhle nahe der Stadt 17 Särge der bekannten Machart entdeckt. Die Zahl der Särge entsprach der Zahl jener unglücklichen Männer und Frauen, die von den berüchtigten Leichenhändlern Burke & Hare in den späten 1820er Jahren in Edinburgh ermordet und an die Anatomie der Universität verschachert wurden.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen einer X-Akte würdigen Vorfällen und womöglich eine Verbindung zum Verschwinden von Philippa Balfour, oder versucht ein kriminalhistorisch bewanderter Verbrecher Verwirrung zu stiften? Aber auch die Moderne kommt ins Ermittlungsspiel, als sich herausstellt, dass Philippa Teilnehmerin eines Online-Rollenspieles war, dessen Erfinder, der mysteriöse „Quizmaster“, die mit Philippas Tod zu Ende gegangene Partie mit der Kriminalpolizei von Edinburgh fortzusetzen gedenkt …

Rückkehr zu alten Qualitäten

Nicht das Maß, aber das Dutzend ist voll – und John Rebus wieder voll da! Nach „Der kalte Hauch der Nacht“, dem überfrachteten 11. Band der Serie, besinnt sich Ian Rankin wieder auf seine Stärken. Er verschlankt den Plot (was bei einem mehr als 600 Seiten starken Buch paradox erscheint; dazu unten mehr) und vermeidet vor allem die endlosen Handlungs-Ellipsen und Nebenfiguren, die den „Hauch“-Lesern ihren Lesespaß ziemlich vergällt hatten, weil es einfach zu schwer fiel, sich in diesem Dickicht noch zurechtzufinden.

Stattdessen gibt es Rebus pur, und das bedeutet – wenn man denn eine Schublade sucht – ein neues Kapitel im Leben des schottischen Wallander-Bruders. Nie traf dieser zunächst verblüffende Vergleich so ins Schwarze wie dieses Mal, denn die Parallelen sind inzwischen mehr als deutlich. Das beginnt beim stets trostlosen Wetter, setzt sich in den bekannten Klageliedern über die verrottende Welt der Gegenwart fort und mündet in der Lebensbeschreibung eines Mannes im scheinbar ungebremsten Fall. Einen gravierenden Unterschied gibt es – glücklicherweise: Rankin ist gern und wirklich witzig, wo seinem schwedischen Schriftsteller-Kollegen jeglichen Humor abgeht.

Hinzu kommt Rankins Hassliebe zu Edinburgh und seinen Bewohnern, die er als Produkt einer bewegten, insgesamt recht düsteren Vergangenheit betrachtet: „Offenbar hatte sich in Edinburgh das Geschäft mit der Grausamkeit schon von jeher großer Beliebtheit erfreut, eine Barbarei, die sich nur notdürftig hinter einer Fassade der Wohlanständigkeit und der strikten Gesetzestreue verborgen hatte.“ (S. 533) Rankin ist ein ausgewiesener Kenner der Edinburgher Stadtgeschichte, was er u. a. durch eine Reihe von Radio-Kurzgeschichten um den Dienstmann und Reisebegleiter Cullender im ausgehenden 18. Jahrhunderts unter Beweis stellte.

Historie als Haken

„Puppenspiel“ greift dagegen auf eine jüngere historische Episode zurück, die längst Eingang in den Kanon des klassischen Unterhaltungs-Horrors gefunden hat. „Auferstehungsmänner“, die Leichen stahlen und verkauften, trieben auch in anderen europäischen Städten ihr Unwesen. Mit Edinburgh bringt sie die ganze Welt in Verbindung, weil Burke und Hare, die Tatkräftigsten ihrer berüchtigten Zunft, zu ähnlichen Schauergestalten wie Dr. Jekyll & Mr. Hyde und Jack the Ripper oder hierzulande der Schinderhannes, Klaus Störtebecker oder Dieter Bohlen wurden.

Natürlich gibt es zwischen den seltsamen Särgen von 1836 und denen des späten 20. Jahrhunderts keine direkte Verbindung; das dürfte wohl keine Überraschung sein, denn Rankin schreibt mit den Rebus-Romanen keine historischen Thriller. Er lässt die Gaslicht-Romantik eher beiläufig und niemals aufdringlich einfließen. Hier ist es vor allem die Figur des „Quizmasters“, die nicht nur den Kriminalbeamten aus der St. Leonard’s Street, sondern auch dem Leser einen Grundkurs in Edinburgher Geschichte verschaffen.

Rätsel musste Rebus schon mehrfach lösen; schließlich gaben sie ihm den Namen. Dieses Mal werden sie digital präsentiert, und Rebus selbst hält sich heraus: An solchen Details wird deutlich, dass Rankin dafür sorgt, dass sein ‚Held‘ unter Zeitdruck gerät: Rebus wird älter, er fürchtet die verhasste Pensionierung. „Farmer“ Watson, sein gern gezwiebelter aber respektierter Feind und Vorgesetzter, geht in den Ruhestand. An seine Stelle rückt Gill Templer, deren Geduldsfaden nicht so dick ist wie der ihres Vorgängers. Sie droht Rebus sogar zum Amtsarzt zu schicken, was dieser überaus trickreich zu sabotieren weiß.

Das nächste Dutzend – hoffentlich!

Die Kritik ist ihn im angelsächsischen Sprachraum weiterhin mehr als gewogen, während die Rebus-Rezeption in Deutschland bereits in die nur hier so ausgeprägte nächste Phase eingetreten ist: Der zunächst weitgehend uneingeschränkten Zustimmung folgte inzwischen die partielle oder sogar totale Verdammung, denn wer im Land der Dichter, Denker & Neider allzu groß zu werden droht, wird rasch von der Kritik gestutzt, die auf diese Weise gleichzeitig Wachsam- und Unbestechlichkeit demonstriert. Aber während Rankin-Kollegen wie Elizabeth George oder Martha Grimes mit ähnlich dienstalten Helden nur noch unfreiwillige Krimi-Parodien zusammenpfuschen, ist Rebus immer noch einige Lesestunden wert.

Es sind übrigens nicht so viele, wie der Leser zunächst meint, wenn er die deutsche Ausgabe von „Puppenspiel“ in den Händen hält; es sollten selbst für die Taschenbuch-Ausgabe beide sein, da sonst die Gefahr besteht, sich eine Gelenkzerrung zuzuziehen. Früher hätten wahrscheinlich 400 Papierseiten gereicht, doch diese Geschichte wird hierzulande in wirklich GROSSEN Lettern gedruckt, was eine zwar künstlich aufgeblähte aber wichtig wirkende Schwarte entstehen lässt: Angeblich schätzt der deutsche Leser nicht so sehr das inhaltlich überzeugende, sondern vor allem das dicke Buch, weil es ihm (oder natürlich ihr) die zufriedenstellende Gewissheit beschert, einen anständigen Gegenwert für sauer verdiente Euros zu erhalten.

Autor

Ian Rankin wurde 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studierte er ab 1983 Englisch. Schon früh begann er zu schreiben. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versuchte er sich an einem Roman, fand aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erschien 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Noch im selben Jahr ging Rankin nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitete. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionage-Roman „Watchman“ (1990, dt. „Der diskrete Mr. Flint“). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasste Rankin in rascher Folge drei Action-Thriller. 1991 griff er eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hatte auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. Mit diesem gelang Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftete. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt den dunklen Seiten nach, die den Steuerzahlern von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft und Medien gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Nachdem er Rebus 2007 in den Ruhestand geschickt hatte, begann Rankin 2009 eine neue Serie um den Polizisten Malcolm Fox, kehrte aber bereits 2012 zu seiner Erfolgsfigur zurück.

Ian Rankins Rebus-Romane kamen ab 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnete ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 2004 wurde Rankin für „Resurrection Man“ (dt. „Die Tore der Finsternis“) mit einem „Edgar Award“, 2007 „The Naming of the Dead“ (dt. „Im Namen der Toten“) als „BCA Crime Thriller of the Year“ ausgezeichnet. Rankin gewann weiter an Popularität, als die britische BBC 2000 mit der Verfilmung der Rebus-Romane begann.

Ian Rankins Website ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Taschenbuch: 636 Seiten
Originaltitel: The Falls (London : Orion 2001)
Übersetzung: Christian Quatmann
http://www.randomhouse.de/goldmann

eBook: 1401 KB
ISBN-13: 978-3-89480-770-2
http://www.randomhouse.de/goldmann

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