Als ein Skandal-Schriftsteller erst verschwindet und dann ausgeweidet aufgefunden wird, muss der einbeinige Privatdetektiv Cormoran Strike im winterlicher London nach dem wahren Täter fahnden, um eine fälschlich beschuldigte Klientin zu entlasten … – Der zweite Strike-„Whodunit“ ist angenehm geschrieben und mit gut gezeichneten Krimi-Figuren besetzt, leidet aber unter Überlänge und vielen zwischenmenschlichen Abschweifungen: lesbarer aber (unnötig) gehypter Mainstream-Krimi, hinter dessen Autorenpseudonym sich R. K. Rowling („Harry Potter“) ‚verbirgt‘.
Das geschieht:
Nachdem ihm in Afghanistan eine Mine den rechten Unterschenkel abriss, versucht sich Ex-Militärpolizist Cormoran Strike in London als Privatdetektiv. Da er vor einigen Monaten einen spektakulären Mordfall klären konnte sowie gelernt hat, sich auf langweilige aber lukrative Überwachungsaufträge zu konzentrieren, laufen die Geschäfte endlich besser. Dennoch ist Strike der alte Spürhund geblieben, der zudem mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn geschlagen ist. Deshalb sagt er der schroffen und zahlungsschwachen Leonora Quine seine Hilfe zu, als sie ihn bittet, nach ihrem schon vor Tagen verschwundenen Gatten zu fahnden. Die Polizei will sie nicht hinzuziehen, da Owen Quine sich schon oft von daheim abgesetzt hat, um einer seiner zahlreichen Liebschaften zu frönen.
Quine ist als Autor skandalträchtiger Literatur mit quasi-pornografischen Einschüben halbwegs bekannt geworden. Sein aktuelles Werk droht jedoch einzuschlagen wie eine Bombe: „Bombyx mori“ – nach dem lateinisch-wissenschaftlichen Namen für den Seidenspinner, einen in China beheimatete Schmetterling – erzählt eine Geschichte von Gier, Perversionen und Verfehlungen, deren Protagonisten ebenso raffiniert verschlüsselt wie für Eingeweihte erkennbar Familienmitglieder, Kollegen und vor allem die Mitarbeiter diverser Verlage darstellen, mit denen der streitsüchtige Quine sich überworfen hat.
Offenbar um dem anstehenden Skandal zu entwischen, ist Quine untergetaucht und hat Leonora und die geistig behinderte Tochter Orlando zurückgelassen. Strike findet den Schriftsteller tatsächlich: ausgeweidet und mit Säure verätzt liegt er in einem leerstehenden Haus. Als Mörderin verhaftet die Polizei Leonora. Strike hält sie für unschuldig und begibt sich auf eine Odyssee durch die Verlagsszene, um die Vorgeschichte zur Tat zu klären und damit den wahren Mörder zu finden …
Robert Galbraith ist J. K. Rowling!
Manchmal sind nicht literaturqualitative Gründe verantwortlich dafür, dass die Einordnung oder Bewertung eines Titels schwerfällt. Seit jeher werden Bücher auch und manchmal vor allem über die Prominenz ihrer Verfasser verkauft. Der Unterhaltungsfaktor scheint zumindest für die Werbung vorausgesetzt zu werden bzw. nebensächlich zu sein. Manchmal genügt ein einziger, nicht unbedingt guter, sondern erfolgreicher Titel, um eine Werberelevanz zu gewinnen, die sich selbst dann gut ausschlachten lässt, sollte besagter Autor zukünftig nur noch Buchstabenmist produzieren.
Die Literaturgeschichte ist reich an tragischen Gestalten, die von längst verblichenem Ruhm zehren. Joanne K. Rowling ist noch zu jung, um auf diese Weise abgestempelt zu werden. Nichtsdestotrotz steht relativ felsenfest, dass ihr ein Erfolg, der sich mit dem ihrer „Harry-Potter“-Serie messen ließe, nicht mehr gelingen wird. Mit diesen sieben Romanen war Rowling zur rechten Zeit am rechten Ort, d. h. multimedial auf dem gesamten Globus präsent. Die Pottermania hat sie berühmt und reich gemacht, sodass für Rowlings Karriereplanung zumindest finanzielle Erwägungen weit in den Hintergrund getreten sind.
Aus diesem Grund erfand sie sich – dies zweifellos auch ein Befreiungsschlag – als Autorin neu, indem sie sich das männliche Pseudonym „Robert Galbraith“ zulegte und sich zumindest anfänglich unbemerkt und unbelästigt von den Medien und einem Publikum, das gierig darauf lauerte, was nach Harry Potter kam, in einem gänzlich anderen Genre versuchte.
Die (ebenfalls werbungsgestützte) Legende will es, dass „Robert Galbraith“ ebenso erfolgreich wie J. K. Rowling wurde, obwohl die Verlagswelt angeblich nicht wusste, dass sie sich hinter diesem Alibi versteckte. Wer’s glaubt, wird bekanntlich selig; auf jeden Fall war die Identität des ‚Verfasseres‘ spätestens dann ein gläsernes Geheimnis, als der „Galbraith“-Erstling „The Cuckoo’s Calling“ (2013: dt. „Der Ruf des Kuckucks“) zur Veröffentlichung im Ausland anstand.
Hinter allem Staub & Donner
Inzwischen läuft die Verkaufsmaschinerie auf Hochtouren. Um „The Silkwurm“ möglichst rasch als „Der Seidenspinner“ in die deutschen Buchläden zu bringen, warfen sich gleich drei Übersetzer auf das Original. Dieser Aufwand war auch deshalb erforderlich, weil Rowling einem Prinzip treu blieb, das bereits die späteren „Potter“-Bände kennzeichnete: Beschränke dich niemals auf einen einzigen Satz, wenn du daraus auch ein Kapitel walzen kannst!
So ist „Der Seidenspinner“ auch eines jener Krimi-Garne, die Endlos-Schwätzerinnen wie Tana French oder Elizabeth George für ein meist weibliches Publikum spinnen. Das Verbrechen ist hier mindestens so wichtig wie der zwischenmenschliche Faktor. Der nüchterne Krimi-Fan mag dies als Spannungskiller kritisieren, doch die Leserinnen sind süchtig nach komplizierten Love Storys und interessieren sich für die Frage, ob sich Polizist XY und Detektivin XX in Band 12 endlich näherkommen, mindestens ebenso wie für den Verursacher des obligatorischen Mordes, der das gerade Skizzierte in Gang setzt.
Immerhin präsentiert Rowling dies nicht mit dem bitteren Bierernst, der den „Lady-Thriller“ sonst prägt. Erfreulicherweise hat sich das „love interest“ der zentralen Figur in Band 1 aus dem Staub gemacht und ist dieses Mal nur per eMail und in Strikes Erinnerungen präsent. Da er mehr als genug mit dem Fall zu tun hat, bleibt ihm wenig Zeit, sich in entsprechenden Reminiszenzen zu suhlen, was wiederum dem Krimi bekommt.
Das Opfer ohne Füllung
Der ist ein klassischer „Whodunit“ und originell höchstens in der Darstellung des Todes, den Skandalautor Quine findet. Ihn malträtiert die Autorin mit einer Intensität, die an Val McDermid erinnert, was offensichtlich für das entsprechende Aufsehen sorgen sowie Potter-Ferne suggerieren soll. Der Plot ist nicht annähernd so kompliziert, wie die Seitenzahl andeutet. Rowling pflegt einen Hang zum Ab- und Ausschweifenden, der den modernen britischen Krimi – und nicht nur ihn – kennzeichnet (oder brandmarkt).
Dafür kann sie mit einem angenehmen Schreibstil punkten. Wer eine Antenne für entsprechende Plaudereien besitzt und zwischendurch Pausen vom Krimigeschehen akzeptiert, wird sich auch in diesen Passagen unterhalten fühlen. Cormoran Strike ist keine neue i. S. einer originellen Figur, doch er ist gut charakterisiert und sympathisch in seiner genretypischen Eigenwilligkeit. Deshalb erträgt man die eher pauschalen Eskapaden der Nebenfigur Robin Ellacott, die offenbar als Identifikationsfigur für die weibliche Leserschaft gedacht ist.
Amüsant sind verständlicherweise Rowlings Ausflüge in das ihr gut bekannte Verlagsmilieu. Sie hat einen Blick für Details (und Eitelkeiten), trifft den Ton und markiert eine Umbruchsituation, die alte Traditionen und festgefügte Strukturen ins Wanken bringt. Während „Literatur“ einst ein Werturteil darstellte und in Buchform zelebriert wurde, haben eBook und Internet sowie die Möglichkeit, unter Ausschaltung klassischer Verlage selbst zu veröffentlichen, für frischen Wind und Durchzug gleichermaßen gesorgt. Rowling beschreibt ein Buchgeschäft, das auf Bestsellern und „Brandings“ basiert, während inhaltliche und stilistische Qualitäten eher Nebensache sind. In diesem Umfeld erscheint Owen Quines bizarres Ende beinahe normal: Prominenz verdient man sich nicht mehr, sondern inszeniert sie.
Der lange Weg zur Auflösung
Nichtsdestotrotz dauert es ungebührlich lange, bis der Täter – dem Strike im großen Finale zahlreiche Fehler nachweist – dingfest gemacht wird. Sicherlich die Hälfte der in der deutschen Fassung knapp 700 Seiten vergeht darüber, dass Strike sich in Ermittlungs-Sackgassen verirrt. Das mag der Realität entsprechen, doch in Romanform zieht es sich. Irgendwann hat man es satt, wenn Strike wieder einmal mit schmerzendem Hinkebein durch das winterliche London kreuzt und mit leeren Händen ins genretypisch kümmerliche Büro zurückkehrt.
Doch was der eine Leser als Längen missbilligt, gefällt der anderen Leserin als Unterfutter einer Handlung, die auf diese Weise nie wirklich aufregend wird. Selbst als Strike die übel zugerichtete Leiche des verschwundenen Schriftstellers entdeckt, verschwindet dies in einem Wust ablenkender Nebensächlichkeiten.
Unterm Strich erweist sich Galbraith/Rowling jedoch als versierte Autorin, die keineswegs im Potter-Universum gefangen sitzt, sondern sich auch außerhalb auf sicherem Boden bewegt. „Der Seidenspinner“ mag zu überbordend geraten zu sein, doch lesenswert ist dieser Roman trotzdem!
Autorin
Joanne Kathleen Rowling wurde am 31. Juli 1965 in der englischen Kleinstadt Yate bei Bristol geboren. Sie wuchs in Winterbourne – ebenfalls in der Grafschaft South Gloucestershire gelegen – und ab 1974 in Tutshill, Wales, auf. Ab 1983 studierte Rowling Französisch und Klassische Altertumswissenschaft an der University of Exeter (Grafschaft Devon), das sie 1987 abschloss. Außerhalb des universitären Elfenbeinturms schlug Rawlings sich anschließend als Bürokraft durch. Mit ihrem damaligen Lebensgefährten zog sie 1989 nach Manchester. In dieser Zeit entstand die Figur Harry Potter.
Schon zuvor hatte Rowling sich als Autorin versucht, die Ergebnisse jedoch niemals veröffentlicht. „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ (dt. „Harry Potter und der Stein der Weisen“) erschien 1995; die inzwischen verheiratete und wieder geschiedene Mutter eines Kindes lebte von Sozialhilfe. Nach zunächst mäßigem Erfolg fand der Roman sein Publikum, und es begann eine der erfolgreichsten Schriftstellerkarrieren aller Zeiten. Harry Potter wurde global & multimedial zum populärkulturellen Phänomen und J. K. Rowling zu einer steinreichen Frau.
Seit 2001 wieder verheiratet und Mutter zweier weiterer Kinder, schloss Rowling – erhoben 2000 zum O.B.E. (Officer of the Order of the British Empire) – mit dem siebten Band die Harry-Potter-Serie 2007 ab. Sie orientierte sich schriftstellerisch neu und ließ sich Zeit dabei; erst 2012 erschien der Kriminalroman „The Casual Vacancy“ (dt. „Ein plötzlicher Todesfall“). Im folgenden Jahr veröffentlichte Rowling unter dem Pseudonym „Robert Galbraith“ einen weiteren Krimi. „The Cuckoo’s Calling“ (dt. „Der Ruf des Kuckucks“) wurde der erste Band einer geplanten Serie um den Privatdetektiv Cormoran Strike. Das Pseudonym blieb nicht lange ungelüftet, woraufhin auch diese Romane zu Bestseller-Ehren gelangten – ein vor allem marketingbeförderter Status, den Literaturkritiker nur bedingt teilten.
Taschenbuch: 672 Seiten
Originaltitel: The Silkworm (London : Sphere/Little, Brown Book Group 2014)
Übersetzung: Wulf Bergner, Christoph Göhler u. Kristof Kurz
www.randomhouse.de/blanvalet
eBook: 2387 KB
ISBN-13: 978-3-641-14595-8
www.randomhouse.de/blanvalet
Hörbuch-Download: 996 min. (ungekürzt; gelesen von Dietmar Wunder)
ISBN-13: 978-3-8371-2862-8
www.randomhouse.de/randomhouseaudio
MP3-CD: 3 CDs = 996 min. (ungekürzt; gelesen von Dietmar Wunder)
ISBN-13: 978-3-8371-2861-1
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