Ursula K. Le Guin – Das Wort für Welt ist Wald

Früher Meilenstein der sozialkritischen Science Fiction
Auf einer paradiesischen Welt mit dem bezeichnenden Namen New Tahiti treffen Kolonisten und Ureinwohner hart aufeinander. Die Geschichte greift nicht nur die Untaten an den verschwundenen Eingeborenenvölker der eroberten und ausgebeuteten Kolonien auf. Sie prangert auch die militärische Präsenz der USA in Vietnam an. Denn dieses Buch entstand während der Endphase jenes für die Amerikaner ruhmlosen Konflikts.

Die Autorin

In Kalifornien als Tochter eines Kulturanthropologen geboren, studierte Ursula Kroeber Le Guin am Radcliffe College und an der Columbia University, lebt aber seit 1962 als freie Schriftstellerin in Portland, Oregon, wo sie an der Uni lehrt. 1962 erschien ihre erste Story („April in Paris“) und 1966 ihr erster Roman, „Rocannons Welt“. Die ersten Romane zeigen bereits Le Guins Verfahren, eine Geschichte über einer (mythologischen) Grundstruktur um bestimmte Metaphern herum anzulegen.

Viele ihrer Geschichten und Romane spielen in einem fiktiven Universum, dem der Ekumen (dt. „Ökumene“). Botschafter und Agenten tauchen auf, die neue Welten für die Planetenliga der Ekumen gewinnen sollen, so etwa in ihrem berühmten Roman „Die linke Hand der Dunkelheit“. In der Fantasy ragt ihr „Erdsee“-Zyklus über die Masse der Produktion turmhoch hinaus. Erst 2002 erhielt sie für ihren neuesten Erdsee-Roman den World Fantasy Award.

Wiederholt wurde Le Guin mit den wichtigsten Preisen der Science Fiction, der Fantasy, aber auch des Mainstream ausgezeichnet. „Sie gehört zu den führenden und formenden Kräften der Science Fiction in den 70er Jahren, und sie fand [als eine der wenigen AutorInnen] auch außerhalb der Science Fiction breite Anerkennung.“ (Reclams Science Fiction Lexikon, 1982) So erhielt sie beispielsweise den National Book Award der USA. Sie starb 2018.

Handlung

Captain Davidson ist der Chef im Holzfällerlager auf der Insel Smith Land, die nur eine von mehreren hundert Inseln im Ozean von New Tahiti darstellt. Alle Inseln sind dicht mit Wald bedeckt, umgeben von Meer: Es ist eine Landschaft wie auf Hawaii (oder Tahiti), bevor die Weißen kamen. Nun haben die Terraner ihren Flottenstützpunkt errichtet, roden das Land und bereiten alles für die Siedler, die Farmer, vor.

Fauna und Flora sind äußerst erdähnlich. Kein Wunder, denn beide Planeten wurden vor Jahrmillionen von den Hainish besiedelt, die auf friedliche Weise die Galaxis beherrschen. Doch während sich auf der Erde der Mensch zum Eroberer der Natur entwickelte, bildeten die Ureinwohner von New Tahiti sich zurück, um sich ihrer natürlichen Umwelt vollkommen anzupassen. (Wir werden noch sehen, warum.)

Denn New Tahiti hat bereits eine eigene Bevölkerung. Die Terraner nennen sie die Creechies, abgeleitet von „creature“, Lebewesen, und behandeln sie wie Sklaven und Untermenschen. Diese Humanoiden sind nur etwa einen Meter groß, haben ein dichtes grünliches Fell (sie sind Waldbewohner) und kennen keine Aggression. Die Terraner haben sie als Hilfsarbeiter rekrutiert. Nun schleppen sie die zubehauenen Stämme zu den Bauplätzen, wo die Häuser für die Holzfäller auf- und ausgebaut werden. Andere Stämme werden zur völlig ausgebeuteten Erde transportiert, wo sie mehr wert sind als Gold. Kein Wunder, dass die Terraner die Wälder vernichten. Doch diese sind die Lebensgrundlage der Athsheaner, wie sie sich selbst nennen: „athshe“ ist das Wort, das sowohl Welt als auch Wald bedeutet, genauso wie „Erde“ (terra) die Welt meint als auch den Boden und das Land.

Als Captain Davidson von einem Kurztrip ins Hauptquartier zurückkehrt, ist sein Camp dem Erdboben gleichgemacht: 200 Menschen tot, ebenso 90 Creechies. Die Maschinen sind ebenso zerstört worden wie sämtliche Bauten. Fassungslos überrascht er vier Creechies, von denen er einen wiedererkennt: Selver. Er ist derjenige, der ihn schon einmal angegriffen hat, nachdem Davidson seine Frau vergewaltigt und getötet hatte. Sie machen Davidson fertig und schicken ihn weg, um von diesem Vorfall zu berichten.

Nun endlich erfahren wir etwas von der Zivilisation der Athsheaner. Sie selbst nennen sich natürlich „Menschen“, wie es praktisch alle Völker tun, die Terraner aber „Humaner“. Geführt von einer „Großfrau“, siedelt jedes Volk nur auf einer bestimmten Region der fünf großen Inseln des Planeten. Jedes Volk hat eine spezielle Loge, in der besondere Männer sich um Medizin, Schrift und die Alte Sprache kümmern. Die Logenmänner oder Schamanen sind die einzigen, die auf kontrollierte Weise von der „Weltzeit“ in die „Traumzeit“ und zurück wechseln können, genau wie die Aborigines in Australien. Und in der Traumzeit erscheinen ihnen die Humaner als bedrohliche Riesen, die alles töten.

Selver, der Davidson angegriffen und dessen Camp zerstört hat, berichtet in der Loge von Ethshen von den mörderischen Vorgängen auf der Insel Sornol. Die Großfrau lässt Selvers Bericht, den ihr Bruder, Der Seher, überbracht hat, in der gesamten Welt verbreiten, die Stadt Cadast verlassen und ihr Volk in die fernen Hügel ziehen.

Eine unruhige Spannung liegt über der Welt. Was werden die Terraner tun?

Auf der einen Seite die friedlichen Eingeborenen, auf der anderen die aggressiven Terraner. Doch die Dialektik des Erstkontakts verlangt nach einer Brücke zwischen These und Antithese, zwischen Frieden und Aggression. Diese Brücke stellt der Wissenschaftler Dr. Raj Ljubow dar, der nur eine untergeordnete Beraterfunktion hat, aber die Athsheaner am besten kennt und bislang Selver seinen Freund nennen durfte. Ljubow muss sich zwischen den Seiten entscheiden.

Als die Hainish ein Kommunikationsgerät ohne Zeitverzögerung auf New Tahiti bereitstellen, erhält die Kolonie von der fast 27 Lichtjahre entfernten Erde neue Befehle zum Schutz der Eingeborenen. Aber die beeindrucken aggressive Typen wie Captain Don Davidson nicht im geringsten. Im Gegenteil: Er geht zum Angriff über.

Mein Eindruck

In diesem kurzen Roman knüpft Ursula Le Guin einerseits an ihre drei vorausgegangenen Romane des Hainish-Zyklus (darunter „Rocannons Welt“) an, in denen sie Kulturforscher auf fremde Völker treffen ließ. Dr. Ljubow ist diesmal der Wissenschaftler vor Ort. Doch diesmal geht Le Guin einen Schritt weiter, indem sie auch Konfliktforschung betreibt und die Ergebnisse auf die Kriege anwendbar macht, die die Vereinigten Staaten gegen die indianische Urbevölkerung führten und später gegen die nordvietnamesischen Truppen.

Bei ihr gipfelt die durch das aggressive Verhalten der Weißen und deren Landraubs entfremdeten Lebewesen (der Athsheaner) in Wahnsinn und brutaler Gewalt. Immer wieder lässt sie die Protagonisten auf beiden Seiten – Selver, Davidson und Ljubow – erörtern, wer denn nun den größten „Realitätsverlust“ erlitten habe, wer wirklich „wahnsinnig“ geworden sei. Die Ergebnisse, zu denen der Krieg führt, geben Selver Recht. Doch um welchen Preis? Was vorher ein unschuldiges Volk war, für das gegenseitiges Töten überhaupt nicht denkbar gewesen war, ist durch das Auftauchen des Begriffs „Mord“ und seine reale Anwendung im Krieg gegen die Konquistadoren für immer gezeichnet. Tahiti hat seinen Sündenfall erlebt.

Dieser Roman ist das entschiedenste Plädoyer Le Guins für den Frieden und eine deutliche Absage an alle, die die Menschen von ihrer Natur und angestammten Kultur entfremden wollen und damit ihre eigene Kultur und deren Werte zerstören.

Unterm Strich

Der Roman ist für mich in erster Linie ein Wissenschaftsroman, der geschichtliche Ereignisse auf der Erde kommentiert. Aber er lässt sich auch als Kriegs- und Actionroman lesen, denn Davidson und Selver sind Krieger. Allerdings erscheinen sie beide nicht glorifiziert, sondern werden jeweils in ihrem eigenen Umfeld als Ausnahmen, als „wahnsinnige Götter“, betrachtet und entsprechend behandelt.

„Das Wort für Welt ist Wald“ – der Titel spielt bereits auf den Zusammenhang zwischen Lebensbereich und Weltauffassung an. Dieser linguistisch-epistemologische Zusammenhang wurde von Prof. Le Guin später in ihren preisgekrönten Romanen „The left hand of darkness“ und „The dispossessed“ (Planet der Habenichtse) noch wesentlich vertieft und mit Leben erfüllt. Diese Bücher seien dem ernsthaft an Science Fiction Interessierten anempfohlen.

Taschenbuch: 125 Seiten
Originaltitel: The word for world is forest, 1972.
Aus dem Englischen von Gisela Stege.
ISBN-13: 978-3453303782

www.heyne.de

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