Washington Irving – Die Legende von Sleepy Hollow (Gruselkabinett 68)

_Der kopflose Reiter: eine Dreiecksgeschichte _

An den Ufern des Hudson Rivers befindet sich ein von den Einwohnern des beschaulichen Städtchens Tarrytown gemiedenes Tal, welches Sleepy Hollow genannt wird. Dort ist es, zumindest der Meinung der niederländischen Siedler nach, nicht geheuer, denn der Geist eines hessischen Söldners wurde schon einige Male als grauenvoll anzuschauender kopfloser Reiter dort gesichtet. Auch der neue Dorfschullehrer Ichabod Crane hört schon bald nach seiner Ankunft von diesen Spuk-Geschichten … (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14. Jahren.

_Der Autor_

Washington Irving (* 3. April 1783 in New York; † 28. November 1859 in Sunnyside, Tarrytown) war ein amerikanischer Schriftsteller. Mit an englischen Stilvorbildern geschulten Satiren über die Gesellschaft und Geschichte der Stadt New York wurde er im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zunächst in seiner Heimat bekannt. Mit seinem „Skizzenbuch“ (1819-20) wandte er sich zunehmend Einflüssen der europäischen Romantik zu und wurde so der erste amerikanische Schriftsteller, der auch in Europa Erfolge feiern konnte.

Mit den in diesem Band enthaltenen Erzählungen „Rip Van Winkle“ und „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“ (Sleepy Hollow) begründete Irving die Gattung der Kurzgeschichte. In späteren Jahren verfasste Irving vor allem Biografien, unter anderem über Christoph Kolumbus und George Washington. (Quelle: Wikipedia)

_Die Sprecher/Die Inszenierung_

Jens Wawrczeck: Ichabod Crane
Hasso Zorn: Erzähler
Anna Grisebach: Katrina van Tassel
Filipe Pirl: Nathan van Holten
Konrad Bösherz: Jost van Winkel
Martin Kautz: Brom van Brunt
Katarina Tomaschewsky: Juliana van Tassel
Hans-Jürgen Dittberner: Baltus van Tassel
Wilfried Herbst: Hans van Ripper
Benjamin Kiesewetter: Rob
Dirk Petrick: Bob

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand in den Titania Medien Studio & Planet Earth Studios statt und wurde bei Kazuya abgemischt. Die Illustration stammt von Firuz Askin.

_Handlung_

Im Jahr 1830 trifft in Sleepy Hollow, einem Tal nahe dem Hudson River, ein neuer Dorfschulmeister ein. Der Mann, der sich den beiden Jungs Josh und Nathan vorstellt, stellt sich als Schulmeister Ichabod Crane (crane = Kranich) vor, „einer der schlauesten der Pioniere aus Connecticut“, wie er prahlt. Doch Josh und Nathan sind Nachfahren niederländischer Siedler und betrachten diesen schrägen Vogel mit – höflich verborgenen – Zweifeln.

Seine menschlichen Schwächen offenbart der Hungerhaken gleich, als Katrina van Tassel auftaucht und „Hallo“ sagt. Nicht nur scheint Crane sofort in sie vernarrt zu sein. Die Aussicht, ihren Vater, den reichsten Bauern im Tal zu beerben, lässt ihm Visionen von Festschmäusen förmlich vor Augen tanzen. Die Aussicht, die Dorfschönheit in der Singschule, die er eröffnen will, unterrichten zu dürfen, scheint ihn geradezu in Ekstase zu versetzen. Jost und Nathan vergessen jedoch nicht, ihn vor Katrinas ernsthaftem Verehrer Abraham Brom „Bones“ zu warnen, dem stärksten – und fiesesten – Kerl im Tal. Crane scheint ihnen kein ebenbürtiger Gegner für Bones und seine Bande zu sein.

In der Tat erkennt Brom sofort die Gefahr, die ihm von dieser lächerlichen Vogelscheuche droht, denn Katrina erweist dem Hungerhaken eine Gunst nach der anderen. Das zahlt Brom seinem Rivalen mit einem Streich nach dem anderen heim. Crane erweist sich jedoch als leichtgläubig, indem er die unerklärlichen Ereignisse auf die Hexen und Geister schiebt. Josh und Nathan haben ihm nämlich weisgemacht, das Tal sei von einem alten Indianerhäuptling verwunschen worden und sei voller Geister. Der Schlimmste davon sei der Kopflose Reiter …

|Halloween|

Als der Sommer ohne übernatürlichen Zwischenfall vorübergegangen ist, erhält Crane die ersehnte Einladung zum Halloweenessen bei den van Tassels. Endlich Katrina wiedersehen! Endlich futtern bis zum Umfallen! Sein Auftritt auf dem Hof des reichsten Bauern gerät jedoch weniger als würdelos, denn sein Logisherr, der Bauer van Ripper, hat ihm den eigensinnigsten und hässlichsten Gaul seines Hofes geliehen: Gunpowder sieht aus wie eine Kreuzung aus Schindmähre und Ziege. Katrina lacht sich schlapp.

Nach Essen und Tanz – Crane schwingt begnadet die Hufe – führt sie ihn zum Kaminfeuer, wo sich die Herrschaften traditionsgemäß Geistergeschichten erzählen. Die Weiße Dame erscheint mit einem schauerlichen Schrei stets am Rabenfels, doch schlimmer sei sicherlich der Kopflose Reiter. Von Josh und Nathan weiß Crane noch, dass es sich um den geist eines hessischen Söldners aus dem Unabhängigkeitskrieg handeln soll, der auf seinem Rappen die Schlachtfelder heimsuche, um seinen verlorenen Kopf zu suchen. Den schoss ihm jedoch eine Kanonenkugel weg. Brom freut sich schon auf den Moment, wenn Crane durch den Wald nach Hause reiten muss.

|Der Kopflose|

In der Tat erweist sich Ichabod Cranes Heimritt um Mitternacht als ereignisreiche und schauerliche Angelegenheit. Er verliert zwar nicht seinen Kopf, wohl aber seinen Sattel und den Hut. Das ist alles, was die Bauern im Tal später von ihm finden. Denn er hat eine schicksalhafte Begegnung mit dem Kopflosen Reiter …

_Mein Eindruck_

Der Leser merkt schnell, dass diese Fassung weit weg ist von allen schauerlichen Film- und Audio-Versionen, von denen Tim Burtons Filmversion sicherlich die bekannteste ist. Es gibt aber auch eine in der POE-Hörspielreihe. Marc Gruppes Drehbuch konzentriert sich zunächst auf die Dreiecksgeschichte zwischen Katrina, Ichabod und Abraham Brom. Diese romantische Seite ist von Humor und Heiterkeit erfüllt, denn die Eifersüchteleien und Rivalitäten nehmen unvermeidlich komische Formen an. So etwa, als Brom sein Hündchen „Ichabod“ nennt.

Dann aber gibt es eine dunkle Seite des Tales, und das ist die der Geister. Abraham prahlt, er habe mal ein Wettrennen mit dem Kopflosen Reiter um ein Haar gewonnen – und überlebt. Das ist natürlich geprahlt, aber Hauptsache, seine Zuhörerinnen hängen an seinen Lippen. Schließlich gab es um 1830 noch kein Fernsehen, und auch das Radio harrte noch seiner Erfindung. Selbst die meisten Zeitungen mussten erst noch gegründet werden. Da konnte man noch ans Hörensagen glauben, ganz besonders an einem so abgeschiedenen Ort wie Sleepy Hollow.

Nachdem der Kopflose zweimal ausgiebig beschrieben worden ist, tritt er kurz vor Schluss doch noch persönlich auf. Es ist ein dramatisches Finale. Darüber soll jedoch nichts weiter verraten werden, denn sonst ist ja der ganze Spaß verdorben.

|Schmelztiegel|

Die Geschichte präsentiert die gerade unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten als Schmelztiegel aus verschiedensten Traditionen und Kultureinflüssen. Das Tal ist von Holländern besiedelt, aber auch Deutsche tauchen in der Vergangenheit auf, und sogar ein Indianer kommt in den Legenden vor – wahrscheinlich der Letzte Mohikaner. (Es gibt auf Wikipedia ein Gemälde, das Washington Irving neben James Fenimore Cooper zeigt.)

In dieses alte Wurzelgeflecht stößt nun Ichabod Crane wie ein Fremdkörper hinein. Ein „Pionier“ aus Connecticut, wo man offenbar eine sehr hohe Meinung von sich selbst hat. Wie dämlich dieser Vertreter aus der Außenwelt ist, zeigt sich nicht nur an seiner leichten Durchschaubarkeit, sondern an seiner Leichtgläubigkeit, als ihn die Bewohner mit den Geistern konfrontiert. Diese sind Repräsentanten der Vergangenheit. Die Art, wie Crane mit den Geistern umgeht, ist bezeichnend: Er hat keinerlei Bezug dazu, schiebt alle Streiche Broms sogar auf Hexenwerk. Von Aufklärung also keine Spur.

|Die Kirche|

Es ist kein Zufall, dass der Reiter meist im Wald vor der Kirche und dem daneben liegenden Friedhof auftaucht. Puritaner scheuen ja den Gedanken an den Tod wie der Teufel das Weihwasser. Aber auch Holländer sind Protestanten, und wir sehen sie nie zur Kirche gehen. Dennoch führt das Wettrennen, das der Kopflose Reiter sowohl Brom als auch Ichabod liefert, stets zur Kirche. Vor ihr löst er sich regelmäßig auf. Zufall oder Verweis auf eine religiösere Tradition?

|Geister & Legenden|

Cranes denkwürdiger Heimritt wird bewusst im Zwielicht des Zweifels gelassen. Ist der Kopflose Reiter wirklich als Geist aufgetreten – oder war es nur wieder einer von Broms Streichen? Man sieht also, dass die Dreiecksgeschichte direkt in das Finale eingeflochten ist und eine wichtige Funktion erfüllt. Sie liefert eine weltliche, „vernünftige“ Erklärung für das, was Crane vor seinem Verschwinden erlebt.

Es ist bezeichnend, dass auch Crane selbst zum Geist wird. Eine lokale Legende, wenn man den alten Weibern glauben soll, die in lauen Sommernächten als Geist über die Hügel tänzelt und dabei singt: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt …“ Der Humor ist durchweg augenzwinkernd und wehe dem, der dies alles ernst nimmt.

_Die Sprecher/Die Inszenierung_

Die Sprecherstimmen entsprechen genau ihren festgelegten Stereotypen. Da ist die Jungfrau Katrina, die auch ständig lacht und für jeden ein freundliches Wort übrighat. Ihre Eltern werden nicht näher vorgestellt. Da sind die zwei Halbwüchsigen, die sich dennoch bereits ihr Teil über diesen schrägen Vogel namens Ichabod Crane zu denken wissen, ohne jedoch unhöflich zu sein. Die Kluft zwischen Denken und Sagen ist bei ihnen ein besonderer Anlass zum Schmunzeln.

Ichabods Rivale Abraham Brom „Bones“ ist wie sein Name: stark, autoritär – und fies. Seine Autorität wird noch unterstrichen durch die Blödheit, mit der seine beiden Helfer, die Zwillinge Rob und Bob, geschlagen sind. Dass er sie nie auseinanderhalten kann, ist ein weiterer Anlass zur Heiterkeit.

Schließlich also Ichabod Crane, der von dem Profi Jens Wawrczeck – war er nicht auch bei den drei Fragezeichen??? – mit umwerfender Naivität gesprochen wird. Man kann sich Johnny Depp in der Rolle des Schulmeisterleins lebhaft vorstellen: leichtgläubig, ängstlich, von sich eingenommen, fressgierig und sehr romantisch veranlagt. Kurzum: ein Charakter, den sich jeder Schauspieler zu verkörpern wünscht, denn so viele Kanten haben Figuren selten. Man kann sich in dieser Rolle so richtig schön zum Narren machen.

|Geräusche|

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. Wenn es Geruchs-Hörspiele gäbe, so wäre dieses Hörspiel angefüllt mit „ländlich-würzigen Düften“ *hust*, die zu den tierischen Lauten passen, die wir zu hören bekommen: Muhen, Mähen, Gackern, Bellen, Wiehern und noch vieles mehr. Auch Glocken, Bäche, Musik und Lachen kommen nie zu kurz.

Da es um den Kopflosen Reiter geht, spielen Pferde – oder das, was man Ichabod stattdessen andreht – eine große Rolle. Ständig wird irgendwo getrabt, gewiehert, geschnaubt und schließlich doch tatsächlich auch galoppiert, denn die Vierbeiner kommen im letzten Viertel doch recht prominent zum Zuge.

Im Finale heißt es aufpassen: Die Szene ist ein Wettrennen zwischen Ichabods Gunpowder und dem feurigen Rappen des Kopflosen Reiters. Im Verlauf des Wettrennens verliert Ichabod seinen Sattel, bleibt aber offenbar dennoch auf seinem Pferd sitzen. Tolle Leistung, klar, aber wir müssen dem weiteren Verlauf folgen. Schafft es Ichabod bis zur rettenden Kirche? Selber hören!

|Musik|

Die Musik entspricht selten dem Score für ein klassisches Horrormovie, denn während vier Fünfteln des Hörspiels herrscht eitel Freude und Idylle. Dann spielt die Hintergrundmusik auch schon mal mir recht bekannt vorkommende Festmusik aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert, ganz besonders im Hintergrund des Festabends bei Baltus van Tassel zu Halloween.

Bei den Geistergeschichten, die die Festteilnehmer am Kamin zum Besten geben, untermalt die Musik die Weiße Frau und den Kopflosen Reiter mit unheimlicher und dramatischer Intonation. Um Mitternacht, nach dem Ende des Festes, ändert sich die Stimmung völlig: Ruhige Akkorde aus einem Synthesizer lassen nicht vermuten, dass gleich das furiose Finale beginnt. Selbiges steigert sich zusammen mit der dramatisch werdenden Musik zu einem Crescendo.

Der Schlussakkord, der an Fausts Verdammnis in die Hölle gemahnt, wird verblüffenderweise von einer heiteren Idyllenmelodie abgelöst, die wiederum den Bauernhof van Rippers charakterisiert. Es ist der nächste Tag, alles ist in schönster Ordnung – nur von Ichabod Crane finden sich nur noch ein paar letzte Spuren. Im Outro klingen noch ein letztes Mal die wichtigsten Melodien an, so etwa das Volkslied „Wem Gott will rechte Gunst erweisen …“.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

|Das Booklet|

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Eine Seite bewirbt die Werke des verstorbenen Künstlers Firuz Askin.

Im Booklet finden sich Verweise auf die kommenden Hörspiele aufgeführt:
Nr. 68: W. Irving: Die Legende von Sleepy Hollow (10/12)
Nr. 69: W.H. Hodgson: Stimme in der Nacht (10/12)
Nr. 70: Robert E. Howard: Schwarze Krallen (11/12)
Nr. 71: M.R. James: Der Eschenbaum (11/12)
Nr. 72: R.L. Stevenson: Markheim (03/13)
Nr. 73: A. Conan Doyle: Das Grauen im Blue-John-Stollen (03/13)
Nr. 74: E. Nesbit: Die Macht der Dunkelheit (04/13)
Nr. 75: Mary Fortune: Weiß (04/13)
Nr. 76: Bram Stoker: Das Teufelsloch (05/13)
Nr. 77: R. E. Howard: Das Feuer von Asshurbanipal (05/13)

_Unterm Strich_

Diese Fassung der bekannten Irving-Geschichte lässt es sehr behutsam und gemütlich angehen. Nur sehr allmählich schleichen sich die dunklen Fäden ins Geflecht, die andeuten, dass in diesem Tal der Schläfer – hier spielt auch „Rip van Winkle“ – nicht alles zum Besten bestellt ist, ja, dass es hier auch eine dunkle Seite der Realität geben könnte.

Mir war dies alles viel kuschelig nett, und selbst die Dreiecksgeschichte sorgte nur für Komik. Wo aber blieb die Hauptattraktion, die das Titelbild verspricht, der Kopflose Reiter? Ich musste mich bis zur letzten Viertelstunde gedulden, bis sich Ichabod Crane auf seinen letzten Ritt durch den Kirchwald aufmachte, wo die Geister hausen. Es dauerte noch einmal eine Weile, bis der Reiter auftauchte.

Ich hätte mir gewünscht, das Drehbuch hätte die dunkle Seite der Idylle im Tal etwas häufiger oder wenigstens stärker betont. So aber sieht es am Schluss so aus, als wäre der Kopflose Reiter keineswegs ein reales Gespenst, sondern ein Popanz, den die Bauern aufgebaut haben, um ihr Tal vor unerwünschten Fremden wie dem Schulmeister zu schützen.

|Das Hörspiel|

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis. Diesmal wird, wie gesagt, die Idylle stark betont. Diese wird von dem Fremden, Ichabod Crane, indirekt bedroht, weil er es auf die Tochter des reichsten Bauern abgesehen hat. Dem Hörer bleibt eine Menge Muße, um die heitere Idylle und die Komik zu genießen, die mit Crane verbunden ist. Leider muss der Action- und Gruselfreund bis zur letzten Viertelstunde warten, bis er auf seine Kosten kommt.

1 Audio-CD, ca. 70 Minuten Spieldauer
ISBN-13: 9783785747179

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