Alle Beiträge von Alf Stiegler

Ligotti, Thomas – Alptraum-Netzwerk, Das (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 2)

_Der Fänger im Schlafmohnfeld._

Edgar Allen Poe ist eine wichtige Persönlichkeit der phantastischen Literatur, so weit nichts Neues. Seine teils delirierenden Streifzüge durch bizarre Alpdruckwelten sind noch heute Inspiration für Autoren. Um dem Rechnung zu tragen, hat der |BLITZ|-Verlag „Edgar Allen Poes Phantastische Bibliothek“ ins Leben gerufen, eine literarische Verbeugung vor dem opiumschmauchenden Wort-Virtuosen. Aber es irrt sich, wer glaubt, dass der |BLITZ|-Verlag eine Horde von Nachwuchstalenten verpflichtet hat, um in Poe’schen Werken zu wildern. Natürlich hat Herausgeber Markus K. Korb den deutschen Phantastik-Underground nicht außen vor gelassen, (er selbst hat ja den ersten Band zu der Reihe beigesteuert), aber gleichzeitig hat er einige Schätze von Autoren geborgen, die dem deutschsprachigen Leser bisher nicht zugänglich waren.

_Veteran gegen Nachwuchs: K.O. in der 2. Runde._

Markus K. Korb hat in „Grausame Städte“ (Band 1 der Phantastischen Bibliothek) gute Arbeit geleistet, aber mit Thomas Ligotti steigt ein Meister in den Ring, der seinen Vorgänger gnadenlos von der Matte putzt. Der 1953 geborene Amerikaner durchlebte eine Phase wachsender Depressionen, die im August 1970 in Agoraphobie gipfelte, der Angst, sich jenseits bekannter Orte zu bewegen. Seine Geschichten sind das Ventil für seine Ängste, das Sprachrohr seiner rabenschwarzen Weltsicht, die in ihrem Nihilismus einem H.P. Lovecraft durchaus ebenbürtig ist. Dabei ist Ligotti aber „realistischer“ (so weit man das bei ihm sagen kann), er streift dem Bösen nicht die Maskerade kosmischer Ungetüme über, sondern sucht es mitten unter uns, beleuchtet den Alltag dabei mit derartig bitterem Humor, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

_Meine Arbeit ist noch nicht erledigt._

Unscheinbarer könnte ein Storytitel kaum sein. Dementsprechend überrascht war ich über die schiere Sprachgewalt, mit der Ligotti den Arbeitsalltag von Frank Dominio darstellt. Ausgeblutet ist dieser, angeekelt vom Karriere-Streben seiner Kollegen, vom Mobbing und vom Schleimen in der Chefetage. Mit bitterstem Zynismus betrachtet er die Beziehungen seiner Kollegen unter sich, muss hilflos mitansehen, wie sie ihm, dem Außenseiter, das berufliche Grab schaufeln, weil er es wagt, sich nicht dem braven Blöken unterwürfiger Angestellter anzuschließen. Dementsprechend vor die Tür gesetzt, sieht er seinen Ausweg nur noch in einem Amoklauf, doch dann kommt plötzlich alles ganz anders …

Hört sich nach Standard an? Nur bis man es gelesen hat! Ligotti möchte in seinen Storys nicht das „echte Leben“ imitieren, von Anfang an ist klar, dass man es hier mit einem Gleichnis zu tun hat, mit einem rabenschwarz gezeichneten Abgesang auf die Welt. Das fängt schon mit Dominios sieben Gegenspielern an, den Sieben Zwergen, (oder sieben Schweine, wie er sie nennt): Barry, Harry, Perry, Mary, Kerrie, Sherry, angeführt von Richard, dem Doc. Man erlebt die komplette Geschichte aus Dominios Perspektive heraus, und es dauert nicht lange, bis man von seinem Ekel angesteckt wurde. Beispiel gefällig? Bitteschön:

|Allgemein gesagt: Erwarte nichts als alptraumhafte Obszönitäten, die geboren werden, wenn menschliche Köpfe miteinander Verkehr haben. Noch allgemeiner gesagt: Was immer geboren wird, wächst letzten Endes zu einer alptraumhaften Obszönität heran – im „großen Ganzen“. Für mich selbst gesagt: Es gibt keine Engel, es sei denn Engel des Todes … und ich würde nie wieder meinen Platz unter ihren Reihen anzweifeln, oder es an Entschlossenheit mangeln lassen, in ihren wilden Reihen zu dienen.|

_Ich habe einen speziellen Plan für diese Welt._

Wiederum eine Horror-Story, die sich innerhalb einer seelenlosen Firma abspielt. In einer unbenannten Stadt mit dem wenig verheißungsvollen Spitznamen „Murder City“ hat diese Firma ihren Sitz, und wie jede Firma will sie wachsen, sich durch Umstrukturierungsmaßnahmen optimieren, um aus „Murder City“ schließlich wieder eine „Golden City“ zu machen. Stattdessen verdrängen bizarre Zombie-Mitarbeiter die Belegschaft, und ein ätzender, gelber Nebel breitet sozialen Verfall über die Stadt …

Stilistisch ähnlich zum Vorgänger, von dünnerer Handlung, aber von massiver sprachlicher Dichte, die unter die Haut geht. Mehr über die Story zu verraten, hieße den Leser vorab eines bitteren Erlebnisses zu berauben.

_Das Alptraum-Netzwerk._

Nur zehn Seiten lang, aber mit Abstand das verstörendste Werk aus diesem Sammelband: Es ist keine Erzählung im eigentlichen Sinn, sondern ein Flickwerk aus „Kleinanzeigen“, Videosequenzen, Träumen, Gedankenblitzen und vielem mehr, die alle die Entwicklung eines Mega-Konzerns beschreiben, beginnend im Jetzt und in einer weit entfernten, ultra-bizarren Zukunft endend. Nirgends ist Ligottis Zynismus so ätzend, sein Menschenekel so ausgeprägt wie im Alptraum-Netzwerk. Seine Sprache ist kalt, abstrakt, teilnahmslos und zeichnet den Wolf im Menschen mit skalpellartiger Schärfe:

|Aus dem Notizbuch eines Leiters:
Und wäre ich dazu entschlossen, mich nur vom Fleisch meines eigenen Personals zu ernähren, ohne Zugang zu den Leuten der anderen überlebenden Aufseher oder sonstigem Personal zu haben, so bestünde die größte Herausforderung darin, jeden von ihnen im essbaren Zustand zu halten und zugleich meinen Verbrauch zu regulieren.|

_Erzähltechnische Kreativität vs. Lesefluss._

Nun zeichnet sich bei den Zitaten eines ab: Ligotti erzählt kraftvoll und gewählt, aber er hält sich nicht an die Konventionen der Mainstream-Literatur. Seine Sätze sind mitunter lang und kompliziert, seine Vergleiche sind eher abstrakt als bildreich und gerne verzichtet er auf die klare Auflösung der Fragen, die sich während der Erzählungen ergeben mögen. Dabei merkt man ihm aber an, dass er das mit voller Absicht tut, Verstörung ist sein elementarstes Stilmittel, und nichts liegt ihm ferner als eine Anbiederung an den Entspannungs-Leser.

Dementsprechend ist „Das Alptraum Netzwerk“ ein Sammelband, der polarisieren dürfte: Wer sich unter gutem Horror eine Ansammlung rotgetränkter Phantastereien erwartet, liegt hier vollkommen falsch. Zynische Kreaturen allerdings finden hier eine heilsam boshafte Abrechnung mit den alltäglichen Perversionen der „Normalgesellschaft“. Und wenn ich schon so oft zitiert habe in dieser Rezension, kommt es auf ein drittes Mal auch nicht an. So soll der geneigte Leser selbst entscheiden, ob ihm das gewisse Quäntchen Misanthropie zueigen ist, um Werke genießen zu können, über deren Motive der Autor Folgendes schreibt:

|Haß auf das System im weitestmöglichen Sinn. In diesem Fall diente das System der Firmenumgebung als Mikrokosmos für das größere System des Lebens, das sich schließlich eindeutig als das ultimate Objekt des Abscheus herausstellt.|

Da lacht einem doch das schwarze Herz in der modrigen Brust! Eine Schande nur, dass es gerade mal ein Bruchteil von Ligottis Werk in den deutschen Sprachraum geschafft hat. Eine Schande vor allem, wenn man bedenkt, dass der nihilistische Kurzgeschichten-Autor schon seit zwanzig Jahren seine giftige Feder schwingt …

http://www.BLITZ-Verlag.de

Korb, Markus K. – Grausame Städte (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 1)

_Der Fänger im Schlafmohnfeld._

Edgar Allen Poe ist eine wichtige Persönlichkeit der phantastischen Literatur, so weit nichts Neues. Seine teils delirierenden Streifzüge durch bizarre Alpdruckwelten sind noch heute Inspiration für Autoren. Um dem Rechnung zu tragen, hat der BLITZ-Verlag „Edgar Allen Poes Phantastische Bibliothek“ ins Leben gerufen, eine literarische Verbeugung vor dem opiumschmauchenden Wort-Virtuosen. Aber es irrt sich, wer glaubt, dass der BLITZ-Verlag eine Horde von Nachwuchstalenten verpflichtet hat, um in poeschen Werken zu wildern. Natürlich hat Herausgeber Markus K. Korb den deutschen Phantastik-Underground nicht außen vor gelassen, (er selbst hat ja diesen ersten Band zu der Reihe beigesteuert), aber gleichzeitig hat er einige Schätze von Autoren geborgen, die dem deutschsprachigen Leser bisher nicht zugänglich waren.

_Der Herausgeber hat das erste Wort!_

Markus K. Korb, 1971 in Weimar geboren, hat sich der düsteren Phantastik verschrieben und widmet diesen ersten Band der „Edgar Allen Poe“-Reihe seinen „Zwei-Städte-Zyklus“. Insgesamt acht Geschichten entführen den Leser in die dunklen Eingeweide von Venedig und von Berlin. Vier Storys pro Stadt, nicht zusammenhängend, aber durch Anspielungen und einen kalkulierten Aufbau miteinander verflochten. Hiermit seien sie vorgestellt:

_Venezia Vicioso._

Die ersten beiden Geschichten „Concetta“ und „Carnevale in Venecia“ sind keine „Geschichten“ im klassischen Sinn: Es gibt nur einen einzigen Protagonisten, den Ich-Erzähler, der seine jeweilige Situation darstellt. Es sind innere Monologe mit düsterem Ausgang („Concetta“), oder von allegorischer Qualität („Carnevale in Venecia“). Es ist schwierig, den Leser zu unterhalten, wenn es keine „Spannung“ im eigentlichen Sinn gibt, und Korb hat es hier nicht wirklich geschafft, den Gedankenwelten seiner Protagonisten so viel Atmosphäre zu verleihen, dass dieser Spannungsmangel kompensiert werden könnte. Wenigstens „Concetta“ lebt von seiner morbiden Stimmung, aber der philosophische Streifzug durch den „Carnevale in Venecia“ ist einfach zu schwach, um mitzureißen.

„Das Ikarus Prinzip“ versucht sich dann an einer „wirklichen“ Story, und das funktioniert auch gar nicht schlecht. Ganove Mario hat es sich zum Ziel gemacht, im Palazzo Dario einen Rubin zu stehlen, um sich endlich zur Ruhe setzen zu können. Während seiner Anfahrt mit einer Touristengruppe erfährt Mario von mysteriösen Geschehnissen im Palazzo. Natürlich glaubt er kein Wort davon, bis er in ein lebendiges Fresko stürzt, um dort mit Dionysos höchstpersönlich einen zu bechern. Die Story macht Spaß, und die Auflösung ist nett, allerdings merkt man auch, wo Korb seine Schwächen hat: in den Dialogen. Aber was soll’s, in dieser Disziplin waren seine beiden Vorbilder Lovecraft und Poe ja auch keine Weltmeister.

Während sich die ersten beiden Storys an Poe’schen Prosa-Streifzügen orientieren, greift „Die Insel der Gräber“ auf Lovecraft-Thematik zurück: Die Leichen von Venedig werden auf die Insel der Gräber geschafft, wo sie der Totengräber bestattet. Diese Insel hat einen morbiden Ruf und eine noch morbidere Ausstrahlung, der Pfarrer bittet den Ministranten Paolo darum, dass er nicht an der Zeremonie teilnimmt, sondern sich mit dem missgebildeten Totengräbersohn abgibt. Wiederum keine schlechte Stimmung, die Korb hier entfesselt, aber ähnlich wie bei den ersten beiden Storys, hat man ständig das Gefühl, dass er unbedingt etwas Ähnliches schaffen möchte wie seine Vorbilder – und das kann eben keiner.

_Bizarres Berlin._

In „Insomnia“ darf der Leser einen jungen Dandy begleiten, der sich in das Nachtleben des betuchten Berlin stürzt, um seine Vergnügungssucht zu stillen. Recht bald erfährt man dann auch, wie besagter Nachtwandler das zu erreichen gedenkt …
Also, das alte Berlin (20er, 30er Jahre) hat Korb hier wirklich spürbar werden lassen (zumindest so, wie er es sich vorstellt); beschreiben kann er! Nur der Story fehlt der rechte Drive, Spannung ist kaum vorhanden, und sehr schnell errät man das bizarre Hobby, mit dem sich der Protagonist die Zeit vertreibt. Schade!

„Der Schlafgänger“ beleuchtet stattdessen die Armenviertel im Berlin von 1842, und erneut hat Korb die Stimmung beklemmend und spürbar eingefangen. Die Familie des Ich-Erzählers lebt am Existenzminimum und muss sich daher „Schlafgänger“ in die Wohnung holen, um sie finanzieren zu können, eine Art Untermieter, die sich in der Stube der Familie zum Schlafen legen. Eines Nachts nimmt eine vermummte Gestalt dieses Angebot in Anspruch und verbreitet alleine durch ihre Anwesenheit eisiges Unbehagen. Der Bruder des Erzählers erkrankt plötzlich, und schnell ist ein Verdächtiger gefunden …

Diese Story wurde bereits im „phantastisch!“-Magazin veröffentlicht, zu Recht, denn in dieser Sammlung ist sie die stärkste. Ähnlich wie der Erzähler fragt man sich ständig, ob der Schlafgänger nun tatsächlich das Böse in die Familie bringt. Beklommen zittert man um das Schicksal des Bruders und teilt den Verdacht des Erzählers. Erinnert ein wenig an „Die Nacht des Roten Todes“ von Poe.

„Wir sehen alle besser aus in Schwarz und Weiß“ dagegen ist wieder schwächer: Ähnlich wie „Concetta“ ein Ich-Bericht über ein Leben, das in Wahnsinn mündet, aber der Grund dafür, warum wir denn nun alle besser aussehen in Schwarz und Weiß, klingt arg konstruiert und will sich aus dem Mund des Protagonisten einfach nicht nachvollziehbar anhören.

„Tief unten“ ist die Geschichte von „Woffo“, einem menschenscheuen Caver, der seine Zeit am liebsten damit verbringt, durch die Katakomben Berlins zu kraxeln, um dort Geheimes zu entdecken. Eines Abends bekommt Woffo eine Karte in die Hand gedrückt, die ihn zu verstecktem Nazi-Gold führen soll. Anstelle von gelbem Edelmetall erschließt sich ihm eine Verbindung zwischen nordischer Mythologie und der Nazi-Ideologie, die von einschneidender Bedeutung ist …

Qualitativ würde ich die „Tief unten“ in die Liga von „Der Flug des Ikarus“ packen: eine interessante und mitreißende Geschichte, die in ein überraschendes Ende mündet. Hier höre ich den Autor selbst: kein Nacheifern, keine Anklänge, Anspielungen und Zitate, und das steht Korb einfach am besten.

_Aufwärmübung für eine interessante Reihe._

Ehrlich gesagt halte ich „Grausame Städte“ für einen recht ungeschickt gewählten Auftakt der „phantastischen Bibliothek“. Korb macht seine Sache nicht schlecht, und Unterhaltungswert bietet seine Storysammlung allemal, aber an der schieren qualitativen Übermacht des zweiten Bandes zerschellt er einfach: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023 von Thomas Ligotti türmt sich wie ein Wolkenkratzer über Korbs „Grausame Städte“. So weit wird ein mancher Leser aber vielleicht gar nicht kommen, wenn seine Erwartungen von Band 1 geprägt worden sind: Korb liefert solide Qualität, die man haben kann, aber nicht haben muss, für Freunde wortgewandter Phantastik interessant, aber keinesfalls unverzichtbar.

_Nachwort: zum Nachwort._

Die Idee, zu jedem Autor der Reihe ein informatives Nachwort zu verfassen, ist stimmig und sinnvoll, aber was Eddie Angerhuber da über Korb und seine „Grausamen Städte“ vom Stapel lässt, ist teilweise zu putzig. Mit tiefschürfender Metaphorik ergründet sie die Genialität des deutschen Nachwuchsautors und garniert ihre Lobeshymnen mit germanistischem Imponierjargon. Bitte nicht falsch verstehen, Markus K. Korb verfügt über eine gute Sprache und seine Storys heben sich durchaus ab vom Standard, aber „Carnevale in Venecia“ als „atmosphärisch-desillusionierte Kontemplation“ zu bezeichnen, ist so, als würde man einen BigMac als „Garniertes Angus-Flambét zwischen temperiertem Sesam-Weizen-Baguette“ umschreiben. Lieber Himmel …

Beddor, Frank – Spiegellabyrinth, Das

_Frankie comes from Hollywood._

Schamlos und doch voller Respekt hat sich Hollywood-Produzent und Skiakrobat Frank Beddor an das Wunderland angepirscht, er hat es dermaßen auf den Kopf gestellt, dass es nur noch wenig mit der schwebenden Niedlichkeit zu tun hat, mit der Lewis Carrol seine jungen Leser zu verzaubern beabsichtigte.

„Das Spiegellabyrinth“ ist der Auftakt zu einer Trilogie, die die „wahre“ Geschichte um das Wunderland erzählt, mit all den blutigen und gewalttätigen Details um die Herzkönigin und ihre Tochter, mit allen scheußlichen Fakten um die Farbfamilien und die Bürgerkriege, die sie anzettelten.

_Erwischt, Lewis Caroll!_

Reverend Charles Dodgson, seines Zeichens Autor unter dem Pseudonym Lewis Carroll, bekommt im Prolog dieses Buches erst einmal ein solches gegen den Kopf geworfen – bildlich gesprochen. Welches? Sein eigenes. Von wem? Von seiner Protagonistin. Alice Lidell ist nämlich zutiefst empört darüber, wie der Geistliche ihre Geschichte verniedlicht hat, wie er sie zu einem netten Kinderbuch verstümmelt hat, das alles enthält, nur nicht die betrübliche Geschichte der jungen Prinzessin, die die moderne Welt irrtümlicherweise als „Alice im Wunderland“ kennt …

Also muss die junge Alice das eben selbst besorgen: Zunächst, so klärt sie den Leser auf, ist ihr wirklicher Name nicht Alice, sondern Alyss, und die Welt, der sie entrissen wurde, kennt keine Grinsekatze, keine Hutmacher, keine knubbeligen kleinen Kartensoldaten und kein weißes Kaninchen.

Stattdessen gibt es da Nanik Schneeweiß, einen äußerst scharfsinnigen Albino-Gelehrten, der sich ziemlich darüber mokieren würde, wenn er wüsste, dass ihn ein britischer Autor als Kaninchen skizziert hat, es gibt Todesschwadronen gedrillter Kartensoldaten, die mehr können als putzig auszusehen, statt eines Hutmachers gibt es Mac Rehhut, eine klingenschwingende Einmann-Armee mit dem Auftrag, Prinzessin Alyss mit dem Leben zu beschützen, und die Grinsekatze … nun ja, sagen wir es so: Alleine für diese Bezeichnung würde Lewis Caroll den qualvollsten aller Tode sterben, den sich diese mit neun Leben bewehrte Killermaschine ausdenken könnte.

_Aber von Anfang an …_

Wunderland ist ein politisches Pulverfass, die Vier Farben (Karo, Bube, Kreuz und Herz) sind Herrscherdynastien mit ausgeglichenem Kräfteverhältnis, ständig schwelen Konflikte zwischen ihnen, und nicht selten entladen sie sich in Bürgerkriege. Im Augenblick aber wird der Frieden durch Königin Genevieve gesichert, Herrscherin der Herzdynastie und Mutter von Prinzessin Alyss.

Als ob der Ärger zwischen den Herrscherdynastien nicht schon genug wäre, bedroht auch noch Redd den Frieden von Wunderland: Die böse Schwester von Königin Genevieve wurde ihrerzeit von der Thronfolge ausgeschlossen, weil sie sonst mit schwarzer Imagination das ganze Wunderland zerstört hätte. Die derartig Gehörnte sieht das natürlich völlig anders und strebt nun mit unersättlichem Hass nach dem Thron, um den sie sich betrogen wähnt.

Unglücklicherweise wählt Redd den Geburtstag von Prinzessin Alyss für ihren Ursurpationsversuch … voll ins Schwarze, könnte man sagen: Sie überrascht ganz Wunderland an empfindlicher Stelle, und die wahre Thronerbin muss Hals über Kopf vor Redds Häschern fliehen, die ihr nach dem Leben trachten. Alyss verliert sich auf ihrer Flucht in einem antiquierten London und versucht verzweifelt wieder zurückzufinden, aber der Einzige, der ihrer Geschichte Glauben schenkt, ist besagter Revererend Dodgson … Währenddessen formieren sich die Überlebenden des Angriffes zu einer Rebellion, um Redd wieder vom Thron zu stoßen.

_Alyss and the Furious._

„Das Spiegellabyrinth“ gibt schon von der ersten Seite an mächtig Gas, stellt das Carollsche Universum mit freudiger Häme auf den Kopf und karikiert seine Elemente mit knochentrockenem Humor (So macht sich der sprechende Wald über die „Grinsekatze“ lustig, weil die sich voller kätzischer Wasserscheu weigert, Alyss durch den Tränensee zu folgen … Schon mal einen großmäuligen Flieder beim Stänkern betrachtet? Köstlich!)

Bei dem Popcorn-Drive bleibt es dann auch. Von Anfang an ist klar, wohin die Geschichte steuert: Alyss verliert in unserer Welt ihre Fähigkeit, Dinge durch Imagination zu beeinflussen, und sie verliert schließlich den Glauben an Wunderland selbst. Redds Terrorherrschaft hingegen dezimiert die Rebellen einschneidend, nur ihre Hoffnung auf die Rückkehr der Prinzessin gibt ihnen noch Kraft, und Mac Rehhut setzt alles daran, sie zu finden, um sie auf den alles entscheidenden Kampf vorzubereiten.

Schade, dass sich der Zauber der ersten Seiten zum Schluss hin verflüchtigt. Zwar hält die Story ihre Geschwindigkeit, aber der Entdecker-Anreiz bleibt auf der Strecke, und, was noch viel bedauerlicher ist, der Humor auch. Wo man Anfangs noch über die schwarzhumorig dargestellte Funktionsweise Wunderlands kichern kann, regieren zum Schluss wilde Effekt-Orgien, deren Ausgang wenig überraschend ist. Liebe und Krieg, Hoffnung und Wut steuern gegenseitig auf einen Showdown zu, wie man ihn von Hollywood erwarten würde. Nun, seine Wurzeln kann Monsieur Beddor eben nicht verleugnen.

Trotz dieses Wermutstropfens bleibt „Das Spiegellabyrinth“ einen Besuch wert. Es ist sozusagen „The Fast and the Furious“ für die Fantasy-Literatur: Nicht so viel fürs Hirn, aber umso mehr fürs Auge; ironisch lockere Vollgas-Unterhaltung eben. Ganz mag ich mich den Begeisterungsstürmen der Presse zwar nicht hingeben, aber ein gutes Buch bleibt es dennoch.

http://www.dtv.de/special__beddor/flash/alyss__new.htm

Jeffrey Thomas – MonstroCity

Die amorphe Allesstadt.

Jeffrey Thomas ist ein impulsiver Schreiber, einer, der seine Geschichten aus der Feder fließen lässt, ohne sich mit großmächtiger Szenenarchitektur aufzuhalten; Kunst ist etwas Spontanes, sagt er, und ein Verbrechen wäre es, dem frischen Moment der Schöpfung durch Planung das Blut abzuschnüren. Dementsprechend ist die Kurzgeschichte sein Revier, inspiriert durch die Werke von Barker und Lovecraft schreibt er sich durch sein 1980 erschaffenes Universum, das mit jeder neuen Geschichte wächst: Punktown. Es ist eine Stadt auf einem fremden Planeten, sie ist keinen Regeln unterworfen, es gibt keine Karte, auf der man ihrem Verlauf folgen könnte, keine Chronologie, die ihre Geschichte nachzeichnete, in Punktown kann alles geschehen, es ist der Ort, an dem Thomas seine Ängste auslebt, sein persönliches Oz, sein morbides Wunderland, Punktown ist die amorphe Allesstadt.

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Erskine, Barbara – Fluch von Belheddon Hall, Der

_Historikerin mit einem Bein in der Grusel-Gruft_

Barabara Erskine hat mittelalterliche Geschichte studiert und diese Passion in Geschichten verwandelt: [„Die Herrin von Hay“ 151 (1986), „Die Tochter des Phönix“ (1992) und „Mitternacht ist eine einsame Stunde“ (1994) haben ihr den Welterfolg eingebracht. Neben zwei Bänden mit Kurzgeschichten kann man noch „Königreich der Schatten“ (1988) von ihr erstehen, „Am Rande der Dunkelheit“ (1998), und „Das Lied der alten Steine“ (2001). Sie hat den Ruf, dass sie auf außergewöhnliche Weise in der Lage ist, Spannung, Romantik und Übernatürliches unter zwei Buchdeckeln zusammenfassen zu können. „Der Fluch von Belheddon Hall“ (1996) soll diesen Ruf bestätigen:

_Die Sehnsucht einer Waise_

Jocelyn Grant ist auf der Suche nach ihrer Mutter; Laura Duncan ist nirgendwo aufzutreiben, nur ihr alter, verlassener Wohnsitz. Belheddon Hall ist ein altes Landhaus, für das die Einheimischen nur Misstrauen und Angst übrig haben: Joss solle doch wieder nach Hause fahren, sie soll das Haus links liegen lassen und mit ihrer Familie ein gewöhnliches Leben führen. Eine Mutter, die keinen Kontakt mit ihrer Tochter aufnimmt, hat es nicht verdient, dass man ihr hinterherläuft, sagen sie, noch dazu, wenn das Ziel ihrer Forschungen Belheddon Hall ist …

Jocelyn gibt natürlich nicht auf. Bei ihren Nachforschungen erfährt sie, dass im ehemaligen Wohnsitz ihrer Mutter so mancher kleine Junge ums Leben gekommen ist, unter ziemlich mysteriösen Umständen, und dass ihre Mutter mit einem geheimnisvollen Fremden nach Frankreich ausgewandert ist. Nicht, ohne Belheddon Hall an Jocelyn zu vererben.

Zwar darf Jocelyn das Haus nicht verkaufen, aber das macht ihr nichts aus. Sie verliebt sich sofort in den Gedanken, Ahnenforschung vor Ort betreiben zu können, und die Warnungen von Pfarrern, Nachbarn und Einheimischen schlägt sie in den Wind. Da just zu dem Zeitpunkt auch noch das Geschäft ihres Mannes den Bach runtergeht, ist auch Luke Grant Feuer und Flamme bei dem Gedanken, ein Haus beziehen zu können, ohne Miete zahlen zu müssen. Lyn Davies, Jocelyns Adoptivschwester, zieht mit ein, und kümmert sich um Tom, den kleinen Sohn der Grants.

So weit, so gut. Joss vertieft sich während ihres Aufenthaltes in Belheddon Hall in die Erforschung ihrer Vergangenheit, und entdeckt dabei, dass ihre Mutter vor irgendetwas schreckliche Angst gehabt hatte. Sie zieht den Historiker David zu Rate, ein alter Freund und Kollege, der so manche unheimliche Geschichte über das Haus herauskramt: Kein Junge, der in dem Haus gelebt hat, ist älter als elf Jahre geworden, und alle sind sie unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Ein Fluch, behaupten die einen, der Teufel gar, behauptet manch anderer.

Jocelyn nimmt das nicht wirklich ernst, aber die Saat des Zweifels ist gesät. Sie nimmt die Atmosphäre in Belheddon Hall als bedrohlich wahr, spürt seltsame Anwesenheiten, Stille, die sich verdichtet, und sie hört Kinderstimmen. Besonders auf ihren Sohn hat sie ein ängstliches Auge. Dann, eines nachts, beginnt Tom zu schreien und zu weinen, ein Blechmann hätte ihn angegriffen, behauptet er. „Albträume“ erklärt Jocelyns Mann, „Albträume“ versichert ihr Lyn.

Aber die Albträume werden schlimmer, bald hat Tom die ersten Blutergüsse. Jocelyn ist sich sicher, dass etwas in dem Haus umgeht, aber niemand glaubt ihr. Als sie dann noch einen Sohn zur Welt bringt, laufen die Dinge aus dem Ruder: Jocelyn fürchtet um das Leben ihrer Kinder, aber niemand hört ihr zu. Als die ersten Verletzungen bei Tom zu sehen sind, beschuldigt man sie gar der Misshandlung …

_Im Landhaus nichts Neues_

Da gibt es nichts drumherum zu reden, die Zutaten, die Barbara Erskine in ihrem Roman verrührt, sind auf diese Weise schon oft verrührt worden. Zwar muss das nichts über die Qualität des Ergebnisses aussagen, aber im Falle „Belheddon Hall“ ist das eine zwiespältige Geschichte.

Zum einen haben wir da einen ziemlich mickrigen Gruselfaktor. Die Erscheinungen in Belheddon Hall spitzen sich nur sehr langsam zu, und ein Gefühl von echter Bedrohung will sich nie einstellen. Zu gewöhnlich sind die Stilmittel: Temperaturen, die plötzlich fallen, Katzen, die ohne Grund das Weite suchen, und natürlich die unaufhörliche Warnungslitanei aller Einheimischen.

Aber das ist auch nicht der Punkt, an dem Erskine den Spannungshebel ansetzt, der entfaltet sein volles Potenzial nämlich zwischen den Figuren: Jocelyn wird von niemandem ernst genommen, man unterstellt ihr, sie sei überreizt und überfordert mit der Tatsache, so viel über ihre Vergangenheit zu erfahren; Luke, ihr Mann, ist eifersüchtig auf David, den Historiker, und unterstellt ihm, Jocelyn verrückt zu machen, damit sie sich in seine rettenden Arme flüchtet; und Lyn suhlt sich darin, einmal nicht im Schatten ihrer Adoptivschwester zu stehen, genüsslich stichelt sie gegen Jocelyn Grant, behauptet gar, dass sie nicht fähig sei, ihre eigenen Kinder großzuziehen….

Zwischendrin gibt´s da ja noch die Frage nach Jocelyns Vergangenheit: Was ist denn nun mit ihrer Mutter geschehen? Wer war der mysteriöse Franzose, mit dem sie nach Frankreich geflohen ist? Warum hat sie mit ihrer Tochter nie Kontakt aufgenommen? Und vor allem: Wer steckt hinter den Erscheinungen und den nächtlichen Kinderstimmen?

_Metschlürfer vs. Weintrinker_

Im „Fluch von Belheddon Hall“ vermengen sich also tatsächlich Romantik, Familiendrama und Übernatürliches zu einem ganz eigenen Cocktail, der dem einen oder anderen Leser sicher munden wird.

Mir nicht, aber das ist nur die subjektive Seite meines Urteils. Objektiv kann man nämlich nicht meckern: Die Story ist schlüssig, die Figuren sind lebensecht und facettenreich, zum Schluss gibt es sogar noch ein paar nette Wendepunkte, und Erskine hat es zu wahrer Meisterschaft gebracht, wenn es darum geht, die Liebe zwischen Mutter und Kind spürbar werden zu lassen.

Wo liegt dann das Problem? Beim Tempo. Die Story entwickelt sich quälend langsam, es gibt Spekulationen über historische Figuren, die mit Belheddon zu tun haben könnten, es werden Familienangelegenheiten diskutiert, während immer wieder kleine Grusel-Happen das Blut in Wallung bringen sollen. Oh, stellenweise gelingt das ausgezeichnet, aber zu oft fällt mir „Der Fluch von Belheddon Hall“ in atmosphärische Beschaulichkeit.

Vergleichen kann man es vielleicht mit einem guten Wein: Geöffnet werden möchte er, und in eine Karaffe gegossen, da er unbedingt nach ein paar Augenblicken des Atmens verlangt. Und dann, nachdem das Kaminfeuer entfacht und Vivaldi auf den Plattenteller gelegt wurde, nachdem die Glühbirnen verlöscht und die Kerzen entzündet wurden, dann gönnt man sich sein Glas, erfreut an den bunten Aromen, mit denen das Bouquet die Geruchsknospen belebt, ehe man seiner Zungenspitze erlaubt, vom ersten Tropfen benetzt zu werden …

Um es kurz zu machen: Was den einen vor Ungeduld in den Wahnsinn treibt, ist für den anderen der Inbegriff des Genusses. Vor dem Kauf dieses Buches sollte man sich also eines überlegen: Bin ich ein lesetechnischer Weintrinker mit einem Faible für detailierte Langsamkeit? Fein! Rein in den Buchladen und antesten, hier warten ein paar vergnügliche Lesestunden. Bin ich allerdings ein methornschwingender Wikinger, der seine Storys am liebsten in einem Zug herunterstürzt, der es kochend heiß mag oder eiskalt, dem es nicht stark genug sein kann, und der es auch mal verträgt, wenn es ihm nach einem Gelage schwindelig und speiübel wird, dann könnte der Bogen um Erskines „Der Fluch von Belheddon Hall“ nicht groß genug sein. Man möge selbst entscheiden.

Clark, Mary Higgins – Mein ist die Stunde der Nacht

_Die Frau, die die Eule erschuf._

Mary Higgins Clark wurde 1928 geboren, und ihre Thriller führen stets die Bestsellerlisten an. So hat sich auch der |Heyne|-Verlag die „Königin der Spannung“ unter den Nagel gerissen, und die meisten ihrer Bücher veröffentlicht, das ZDF hat sich sogar die Filmrechte von zwei Erzählungen und vier Romanen gesichert: „Haben wir uns nicht schon mal gesehen?“, „Schwesterlein, komm tanz mit mir“, „Sieh dich nicht um“, „Dass du ewig denkst an mich“ und „Glückstag“.

Die Irin hat 25 Romane und zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht, auch weiterhin schreibt sie fleißig weiter, ihr großes Ziel ist es, eines Tages die „100-Romane-Barriere“ von Agatha Christie zu knacken.

„Mein ist der Stunde der Nacht“ ist einer dieser Romane und nun erstmals als Taschenbuch erhältlich. Er ist nicht der aktuellste ([„Hab Acht auf meine Schritte“ 1799 ist es), aber das ändert an der Qualität der Story natürlich nichts:

_Der Mörder ist immer der Loser._

Sam Deegan will in Pension gehen, der einzige Fall, der ihn noch an seinen Job fesselt, ist der Mord an Karen Sommers, ein Mord, der ohne erkennbares Motiv stattfand, und ein Mord, den Deegan zwanzig Jahre lang nicht lösen konnte. Am Ende seiner Kräfte entschließt er sich dazu, die Akte zu schließen, bis ihn die Mutter von Karen Sommers bittet, sich um einen weiteren Mordfall zu kümmern: Alison Kendall wurde tot in ihrem Swimmingpool aufgefunden, sie war eine enge Freundin von Jean Sheridan, die ihrerseits eine Freundin von Karen Sommers war.

Mörder ist ein mysteriöser Jemand, der sich selbst die Eule nennt, schon zu Beginn informiert er den Leser über seine Motive, ohne seine Identität zu lüften: Er ist ein weinerlicher Hosenpiesler, der von seinem Vater geschlagen, von seiner Mutter verhöhnt und von niemandem an der Schule ernst genommen wurde. Der Mörder in ihm wurde wach, als ihn eine Gruppe von Klassenkameradinnen verspottete, da er seine Sprechrolle als Eule nicht stotterfrei formulieren konnte: „Ich b-b-bin die Eu-Eule, und l-l-lebe in ei-ei-einem B-Baum …“ Alison Kendall war eine der Frauen, aus dieser Spöttergruppe.

Dieser Mord war sein Auftakt, der Beginn seines Planes, auch noch die letzten beiden Frauen um die Ecke zu bringen, die ihm diese Schmach angetan haben: Laura Wilcox und Jean Sheridan, und das lang geplante Klassentreffen ist die ideale Kulisse für ihn, um seinen Plan zu vollenden.

Und dieses Klassentreffen ist es dann auch, auf dem sich der Thriller abspielt: Ein ganzes Ensemble möglicher Täter trifft dort zusammen, jeder von ihnen könnte der ehemalige Loser sein, der den beiden Frauen an den Kragen will: Da wäre Carter Stewart, ein bösartiger und scharfzüngiger Dramaturg, der sich mit seinen rabenschwarzen Stücken aus der Unterschicht schreiben konnte; Robby Brent, der ungeliebte Sohn und unbegabte Schüler, der sich zum Komiker gemausert hatte und nichts mehr liebt, als Schläge unter der Gürtellinie zu verteilen; Gordon Amory, erfolgreicher Fernsehproduzent, der sich durch plastische Chirurgie seiner körperlichen Unzulänglichkeiten entledigt hat; Mark Fleischman, berühmter TV-Psychiater, dem nachgesagt wurde, seinen beliebten Bruder getötet zu haben; und Jack Emerson, ein reicher Immobilienmakler, der noch immer darunter leidet, dass ihn die schöne Laura Wilcox seinerzeit abgewiesen hatte.

Jean Sheridan ist die Erste, die die Drohung der Eule zu spüren bekommt, aber schließlich ist es Laura Wilcox, die verschwindet …

_Puzzle-Krimi´s Paradise._

Mary Higgins Clark steht nicht nur in dem Ruf, die Königin der Spannung zu sein, man sagt ihr außerdem nach, dass es ihre Spezialität sei, falsche Fährten zu legen und den Leser in die Irre zu führen. Eines jedenfalls stimmt: Sie ist eine Meisterin der Andeutung. An jedem Teilnehmer des Klassentreffen zeigt sie Verdächtiges auf, stupst den Leser an, in eine bestimmte Richtung zu denken, nur um dann woanders ein Verhalten zu zeigen, das noch viel verdächtiger wirkt. Überall sind Spuren; immer wenn man glaubt, den Täter zu kennen, oder wenn man annimmt, dass Clark zu viel verraten hat, bekommt man schon den nächsten Brocken an den Kopf geknallt.

Clark zeichnet dabei den Hintergrund der Figuren als klug verwobenes Patchwork: Manche Szenen werden aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt; zwar werden dadurch einige Ereignisse mehrmals rückgeblendet, aber sie macht das so geschickt, dass die Rückblende weitere Feinheiten aufdeckt, und ganz nebenbei die „rückblendende“ Figur durch ihren Standpunkt mitcharakterisiert.

Eine besondere Rolle hat dabei Jake Perkins inne: Er ist Schüler der Stonecroft Academy, und interessiert sich brennend für das Phänomen der dezimierten Frauenrunde. Er möchte unbedingt einen Artikel darüber verfassen und kennt keine Skrupel dabei, sich Informationen zu verschaffen. Für den Leser ist Perkins ein Quell unbequemer Informationen über die Besucher des Klassentreffens, er stochert überall hinein und trägt einiges dazu bei, den Leser zu erhellen (und ihn dabei natürlich weiterhin auf falsche Fährten zu locken).

Jedenfalls spitzen sich die Konflikte bis zum Ende hin zu, der finale Showdown bleibt nicht aus und Clark zieht die Spannungsschraube ständig an – erst auf den letzten Seiten lüftet sich, wer die Eule tatsächlich ist.

_Schmackhaftes Thriller Fast Food._

„Mein ist die Stunde der Nacht“ bietet all die Zutaten, die einen Thrillersüchtigen zum Nägelkauen verleiten: Ein Puzzle aus Verdächtigen und Informationen, die sich nach und nach aneinander reihen, dazu Konflikte, Bedrohungen für die Protagonisten und eine Atmosphäre aus Angst und Misstrauen.

Clark hat hier wirklich solide Arbeit geleistet und unterhält bis zum Schluss, die Story steht nie still und löst am Ende alle Fragen. Um auf ihre Fähigkeiten als Fährtenlegerin zurückzukommen: Ja, sie schafft es, den Leser zu irritieren, aber sie bedient sich dabei einiger unlauterer Tricks. Clark lässt ihre Figuren Dinge tun, die nur dazu dienen, um sie verdächtig zu machen. Nicht selten handeln Figuren nach einer Art, die nicht der ihren entspricht, manchmal sogar haben diese Handlungen nicht den geringsten Sinn – außer eben den, den Leser zu irritieren.

Das wiederum hat zur Folge, dass man irgendwann aufgibt, das Rätsel selbst knacken zu wollen. Man lehnt sich zurück und lässt sich passiv durch die Geschichte treiben: Aha, jetzt soll dieser verdächtig erscheinen, oho, jetzt ist es jener.

Trotzdem. „Mein ist die Stunde der Nacht“ ist bis zum Schluss spannend und unterhaltsam, es liest sich flüssig, hat keine Längen und wurde geschickt konstruiert. Ein Thriller-Imbiss für zwischendurch, schmackhaft und sättigend, aber sobald man ihn vertilgt hat, wird man ihn vergessen. Da kann man nur noch guten Appetit wünschen.

Meißner, Tobias O. – dunkle Quelle, Die (Im Zeichen des Mammuts 1)

_Odyssee einer Idee._

Das Mammut ist ein spannendes Projekt, ein ehrgeiziges Projekt, und hat eine äußerst ungewöhnliche Entstehungsgeschichte: Meißner hatte das Universum des Zyklus schon in den Neunzigerjahren skizziert, im Alter von 23 Jahren, ohne nennenswerte schriftstellerische Erfahrung, und ohne eine Vorstellung, wie ein Projekt von der angestrebten Größe bewältigt werden könnte.

Daher beschritt er andere Wege und rief eine Fantasy-Rollenspiel-Kampagne ins Leben, die auf seiner Skizze basierte, eine Kampagne für sieben Mitspieler, mit einer Laufzeit von sieben Jahren (!!!). Am Ende der Kampagne hatte Meißner 230 handbeschriebene Seiten, ein voll entwickeltes Universum, einen voll entwickelten Plot und Figuren, die über sieben Jahre in unterschiedlichen Köpfen reifen konnten. Die Geschichte ruhte. Wiederum sieben Jahre, bis Meißner [„Das Paradies der Schwerter“]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=35 veröffentlichte und damit, wie er sagt, das Mammut geweckt hatte.

Und ich habe nun die Ehre, dem Mammut bei seinen ersten Schritten über die Schulter zu lugen:

_Von Bürokraten und Schmetterlingsmenschen._

Es ist auf den ersten Blick ein recht übliches Szenario: Schwerter, Pferde, Magier, Räuber, Ritter, Götter und Zauberwesen bevölkern eine vorindustrielle Welt, die man via Zeigefinger über eine detailreiche Landkarte bereisen kann.

Von jenem glitzernden Fantasy-Zauber bekommt Rodraeg Delbane aber wenig zu spüren. Seine Abenteuerlust ist verpufft, er hat sich als Turnierkämpfer versucht und ist durch den Kontinent gezogen, hat dabei erfahren, dass „Abenteuer“ aus frieren, hungern und weglaufen bestehen, und landete schließlich im Rathaus der kleinen Stadt Kuellen, um als Schreiber des Bürgermeisters höfliche Antragsablehnungen zu verfassen und scheußliche Gedichte für Ehrenbürger.

Dann plötzlich taucht Naenn bei ihm auf. Das zierliche Schmetterlingsmädchen zieht Rodraeg in ihren Bann. Sie erklärt ihm, dass die Menschen des Kontinents nicht mehr auf das Gleichgewicht der Natur achteten, es würde geerntet, was nie gesäht wurde, erklärt sie ihm, und deswegen bräuchte es eine Gruppe, die die Wahrung dieses Gleichgewichts gewährleistete. Er, Rodraeg Talavessa Delbane, sei als Einziger übrig geblieben, der in Frage kommt, eine solche Gruppe zu gründen und zu leiten.

Rodraegs Abenteuerlust befreit sich aus ihrer Gruft, und er willigt ein: Er lernt den |Kreis| kennen, den Geheimbund, der hinter allem steckt, zieht dann mit Naenn in die Stadt Warchaim und errichtet dort den Stützpunkt des Mammuts, wie er seine Gruppe zu nennen beschließt. In Warchaim findet er auch seine ersten Mitstreiter, und die hat er auch bitter nötig, denn schon bald flattert der erste Auftrag des Kreises in die Basis des Mammuts:

Der Lairon-See hat unter schrecklichen Verschmutzungen zu leiden, und das Mammut soll dem einen Riegel vorschieben. Voller Tatendrang macht sich die Gruppe auf den Weg, doch was sich wie ein harmloser Routineauftrag anhört, gerät außer Kontrolle; Rodraeg beginnt allmählich zu begreifen, welche Bürde er sich aufgeladen hat – aber auch wie wichtig das Mammut ist.

_Die sanfte Beschleunigung eines Riesen._

Die Spannungskurve lässt sich Zeit, ehe sie in die Gänge kommt. Im ersten Drittel des Buches erfährt man viel über Rodraeg und über das Schmetterlingsmädchen, man lernt den Kontinent kennen, seine Regeln, seine Götter, seine Rituale, seine Gesetze und seine Geschichte, man lernt den Kreis kennen, die Motive der Auftraggeber und die Auftraggeber selbst.

Man bekommt die Möglichkeit, Rodraeg dabei zu beobachten, wie er in seine Rolle hineinwächst, wie seine naiven Vorstellungen von der Realität verdrängt werden, und wie er wiederum darauf reagiert. Ebenso genau kann man die Gefährten betrachten, die er um sich schart: Bestar und Migal, zwei sympathische Großmäuler, junge Soldaten ohne Kriegserfahrung, die das Herz aber am rechten Fleck tragen, und Hellas, der geheimnisvolle Bogenschütze, der ein düsteres Geheimnis mit sich herumschleppt.

Spannung will dabei nicht wirklich aufkommen, all das erfährt man in der entspannten Atmosphäre der Stadt Warchaim, wo das Mammut ohne jeglichen Druck seinen Stützpunkt errichtet. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, langweilig liest sich das deswegen noch lange nicht. Rodraeg tastet sich an seine Aufgabe heran, der Leser nimmt an seinen Zweifeln und Ängsten teil, spürt die Unsicherheit jeder Entscheidung, die Rodraeg fällt, und wenn er sich einmal sicher ist, bringt ihn das Schmetterlingsmädchen mit ihren Einwürfen wieder ins Wanken. Genauso verhält es sich mit seinen Mitstreitern: Sie öffnen sich nicht sofort, tasten ab, suchen Nähe, ziehen sich wieder zurück, Misstrauen und Vertrauen streiten ständig gegeneinander, und die Motive, warum sie sich der Gruppe angeschlossen haben, könnten unterschiedlicher nicht sein: das Mammut ist alles, nur keine idealistische Heldenvereinigung.

Dann muss sich der zusammengewürfelte Haufen plötzlich dem ersten Auftrag stellen. Die Spannungskurve steigt allmählich. Obwohl sich die Aufgabe trivial anhört, spürt man genau, dass das Mammut keine Ahnung hat, was es anstellen soll, wenn es erst einmal an seinem Ziel angelangt ist. Schließlich steht die Gruppe vor der geheimen Fabrikation am Lairon-See. Jedes Mitglied des Mammuts hat eine eigene Vorstellung davon, wie der Situation zu begegnen ist. Rodraeg setzt die seine durch, er ist der Anführer. Und dann bricht das Chaos los.

_Die Erfahrung eines Rollenspielers._

Auch wenn die Spannung spät anzieht, sie tut es deftig. Plötzlich bekommt nämlich auch die gemächliche Vorgeschichte ein unerwartetes Gewicht: Man fürchtet um jeden einzelnen Gefährten, jetzt erst bemerkt man, wie lieb man sie alle gewonnen hat und man kann das Buch nicht auf die Seite legen, obwohl die Uhr schon lange mahnend in Richtung Schlafzimmer zeigt.

Meißner lässt die Figuren alleine Regie führen, ob das nun Rodraeg betrifft, der sich voll und ganz auf seine Diplomatie verlässt, oder Migal, der seine Wut unkontrolliert aufbrausen lässt: Niemand trifft eine Entscheidung, die nicht seiner tiefsten Überzeugung entspricht, welche fatalen Folgen das auch für den Rest der Gruppe haben mag.

Die Erfahrungen am Lairon-See kehren das Wesen der Figuren heraus, sie tragen Narben davon, schwere, leichte, wenig körperliche und viele seelische. Am Ende des Buches weiß man, dass mit der „dunklen Quelle“ ein Auftakt verglommen ist. Er hinterlässt einen grellen Nachhall und viele Fragen: Was hat es, Teufel auch, mit dem Kreis auf sich? Was ist die tatsächliche Aufgabe des Mammuts? Denn eines ist bis zur letzten Seite spürbar: Jede Information, die Meißner uns gibt, hat einen Sinn, und man kratzt nur an der Oberfläche des Abenteuers, in das die Gefährten geraten sind.

_Also_: Auch wenn sich die Spannung zu Beginn noch in Grenzen hält, oder wenn sich der Plot anfangs wie Öko-Fantasy mit Greenpeace-Botschaft liest, ist dieses Buch eine echte Bereicherung für die Fantasy-Landschaft. Daran ändert auch nichts, dass Meißner recht viel erzählt und es nicht seine Stärke ist, Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen.

„Die dunkle Quelle“ ist ein solides Stück Fantasy, das sich den Konventionen genau an den Stellen verweigert, wo das dringend notwendig ist, ohne dabei den verträumten Elfenstaub vollends zu missachten, den dieses Genre ausmacht. Meißners besondere Stärke sind die Figuren, die einem einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Auch wenn das Mammut noch lange nicht am Thron eines George R. R. Martin rütteln kann, hat es einen spannenden und unterhaltsamen Weg beschritten, dem zu folgen sich lohnt. Respekt, Herr Meißner!

Jackson, Shirley / Gruppe, Marc – Spuk in Hill House (Gruselkabinett 8 & 9)

_Ein Großvater unter den Geisterhäusern._

Shirley Jacksons „Spuk in Hill House“ hat seit seinem Erscheinen 1959 schon einige Wiedergeburten hinter sich gebracht, unter anderem die beiden Verfilmungen „Bis das Blut gefriert“ (1963) und „Das Geisterschloss“ (1999). 2005 also hat sich [Titania Medien]http://www.titania-medien.de/ des Klassikers angenommen und ihn auf zwei CDs in ein melancholisch düsteres Klanggewand gehüllt.

Seinen Klassiker-Status hat „Spuk in Hill House“ nicht umsonst, finden sich doch darin all die Elemente, die noch heutzutage mannigfaltig variiert werden, um dem Gruselsüchtigen eine viktorianische Gänsehaut zu verpassen; Jacksons Roman ist geradezu ein Archetyp der Geisterhaus-Geschichte:

Hill House ist ein uraltes Herrenhaus, in dem sich nachts niemand aufzuhalten wagt; selbst die beiden Haushälter Dudley kehren vor Anbruch der Dämmerung in den Ort zurück, um den Spukerscheinungen des Gemäuers nicht ausgesetzt zu sein.

Das ist für Dr. John Montague ein gefundenes Fressen. Der Professor der Philosophie und Anthropologie ist brennend an der Erforschung übernatürlicher Phänomene interessiert, er erhofft sich von der psychischen Aktivität des Hauses Ergebnisse, die seinen zweifelnden Kollegen das Hohnlachen vom Gesicht wischen sollen. Zu diesem Zweck hat er zwei Versuchspersonen um sich geschart, die mit ihm die Nächte in Hill House verbringen sollen: Theodora, eine quirlige Exzentrikerin, die in dem Ruf steht, telepathische Fähigkeiten zu haben, und Eleanor Vance, eine sensible junge Frau, die mit Poltergeist-Phänomenen in Verbindung gebracht wird.

Mrs. Gloria Sanderson, die aktuelle Eigentümerin von Hill House, zeigt sich mit dem Vorhaben von Dr. Montague einverstanden, knüpft allerdings die Bedingung daran, dass ihr Neffe Luke ebenfalls in die Forschergruppe aufgenommen wird. Ein charmanter Tunichtgut sei er, erklärt sie dem Doktor, der mit sinnvoller Beschäftigung von seinem Dandy-Dasein abgebracht werden soll.

Als dann die erste Nacht heranbricht, haben sich zwischen den Teilnehmern bereits sympathische Bande geknüpft und das ist auch gut so: Schon jetzt beginnt sich unheimliches Leben in dem Haus zu regen …

_Ein Hauch von Moder._

Eine solche Story klingt heutzutage natürlich etwas staubig, aber andererseits auch nostalgisch und charmant. „Spuk in Hill House“ ist eine Wanderung in die Tiefe: Je tiefer die Forschungsgruppe in die Vergangenheit des Hauses taucht, desto tiefer taucht der Zuhörer in die Vergangenheit der Figuren. Besonders die verletzliche Seele von Eleanor Vance arbeitet sich schärfer heraus, ebenso wie die düsteren Seiten ihrer selbst. Aber auch die Beziehungen der Figuren untereinander differenzieren sich aus, sie entwickeln eine eigene Dynamik, die von den Phänomenen in Hill House vorangetrieben werden.

Das ist dann auch der entscheidende Unterschied zu Jan de Bonds Interpretation „Das Geisterschloss“: Auch wenn sich die Verfilmung ziemlich nah am Original hält, stehen dort die Geistererscheinungen von Hill House im Mittelpunkt; die Quelle dieser Erscheinungen wird ergründet, während die Figuren zwar wichtig sind, aber bei weitem nicht den Stellenwert einnehmen, wie sie es in dieser Hörspiel-Adaption tun.
Aus diesem Gruselgeschichten-Blickwinkel mag der Zuhörer dann vielleicht etwas enttäuscht sein, denn wo „Das Geisterschloss“ den Erscheinungen Namen gibt, bleiben die Ursachen in dieser Version verborgen; der Hörer muss sich mit den Spekulationen begnügen, die sich die Forschungsgruppe erarbeitet.

Über das Finale möchte ich hier natürlich nicht allzu viele Worte verlieren, aber so viel sei gesagt: Von der abgerundeten Konstruktion der 1999er Verfilmung ist es weit entfernt. Ob das nun gut oder schlecht ist, muss der geneigte Hörer entscheiden, beide Versionen befriedigen, wie ich finde, nicht völlig.

_Ohrenkino der Oberliga._

Tontechnisch haben |Titania Medien| hier eine exzellente Leistung vollbracht. Die Musik und die Sounds sorgen für genau die Atmosphäre, die diese Geschichte braucht: ruhig, düster und melancholisch. Man kann das Holz und das Kaminfeuer fast riechen, ständig entstehen Bilder im Kopf und das Echo der Hill House´schen Hallen scheint sich bis ins Wohnzimmer auszubreiten. Wer sich nicht auf mein Wort verlassen möchte, mag sich auf die Homepage von |Titania| begeben, dort nämlich gibt es eine Hörprobe zum kostenlosen Download.

Auch die Wahl der Sprecher ist hervorragend: |Titania Medien| haben für ihre Hörspiele hauptsächlich illustre Stimmen verpflichtet und diese zudem perfekt auf die zu sprechenden Figuren ausgewählt: Da haben wir die freche und selbstbewusste Theodora (Arianne Borbach, u. a. Sprecherin für Catherine Zeta Jones), die schüchterne Eleanor (Evelyn Maron, die u. a. Kim Basinger ihr hauchendes Organ leiht), den sympathisch eloquenten Luke (David Nathan, u.a. Johnny Depp & Christian Bale) oder Dr. John Montague (Christian Rode, u. a. Sean Connery), dessen herrlich knorriges Organ den weisen Wissenschaftler gibt, wie ihn wohl kaum ein anderer hinbekommen hätte.

Zwar kommt, wie gesagt, die Story mit einem Hauch von Gilb und einem schwächelnden Finale daher, aber diese professionelle Produktion lässt einen darüber locker hinweghören. „Spuk in Hill House“ lädt einfach dazu ein, sich behaglich in den Sessel fallen zu lassen, um sich durch eine ruhig erzählte Geschichte tragen zu lassen. Ein wunderbares Mittel gegen die schon jetzt aufkeimenden Ausläufer der Winter-Depression, und ein passender Zeitvertreib für verregnete Abende.
Das „Grusel Kabinett“ von Titania sollte man jedenfalls weiterhin im Auge behalten!

|Infos und Bestellmöglichkeit bei amazon.de:|
[Teil I]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3937273131/powermetalde-21
[Teil II]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/393727314X/powermetalde-21

_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_

[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
[„Das Amulett der Mumie“ 1148 (Gruselkabinett 2)
[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
[„Die Unschuldsengel“ 1383 (Gruselkabinett 5)
[„Das verfluchte Haus“ 1810 (Gruselkabinett 6)
[„Die Totenbraut“ 1854 (Gruselkabinett 7)
[„Spuk in Hill House“ 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
[„Frankenstein. Teil 1 von 2“ 2960 (Gruselkabinett 12)
[„Frankenstein. Teil 2 von 2“ 2965 (Gruselkabinett 13)
[„Frankenstein. Teil 1 und 2“ 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
[„Die Blutbaronin“ 3032 (Gruselkabinett 14)
[„Der Freischütz“ 3038 (Gruselkabinett 15)
[„Dracula“ 3489 (Gruselkabinett 16-19)
[„Der Werwolf“ 4316 (Gruselkabinett 20)
[„Der Hexenfluch“ 4332 (Gruselkabinett 21)
[„Der fliegende Holländer“ 4358 (Gruselkabinett 22)
[„Die Bilder der Ahnen“ 4366 (Gruselkabinett 23)
[„Der Fall Charles Dexter Ward“ 4851 (Gruselkabinett 24/25)
[„Die liebende Tote“ 5021 (Gruselkabinett 26)
[„Der Leichendieb“ 5166 (Gruselkabinett 27)

Masterton, Graham – Opferung, Die

_All die Kinder, oh du Graus, nunmehr sind sie Jenkins Schmaus …_

Brown Jenkin ist für mich eines der furchterregendsten Geschöpfe, die H. P. Lovecraft jemals auf seine Leser losgelassen hat. So groß wie eine Ratte sei es, beschrieb der Meister einst, mit einem pelzigen Gesicht, dessen Züge etwas bösartig Menschliches aufwiesen, während seine schrecklich kichernde Stimme in allen Zungen sprechen konnte …

Dabei ist es der subtile Terror, der Brown Jenkin ausmacht: Es ist kein kriechendes Chaos, das die gesamte Menschheit aus den Abgründen der Zeit heraus zu vernichten versucht, und es ist auch kein tentakelbewehrter Dämon aus den Tiefen äonenalter Ozeane; ein kicherndes kleines Scheusal ist es, das in den fiebrigen Träumen der Bürger von Bonchurch herumkriecht, und zwischen den verfluchten Wänden von Fortyfoot House.

Lovecraft hatte den teuflischen Hybriden schon 1881 durch Gilmans „Träume im Hexenhaus“ schleichen lassen, Graham Masterton indes lässt Brown Jenkin in unserer Zeit wieder auftauchen und verbeugt sich mit „Die Opferung“ tief vor der Ikone des angedeuteten Übels:

_Von nächtlichen Lichtern und menschlichen Ratten._

David Williams hat gerade eine schwere Trennung hinter sich und sucht sich eine zurückgezogene Arbeit, die ihn auf andere Gedanken bringen soll. Zu diesem Zweck scheint Fortyfoot House geradezu einzuladen: Ein altes, viktorianisches Gemäuer, das David renovieren soll. Kurzentschlossen schnappt er sich seinen Sohn Danny und zieht dort ein; Warnungen um nächtliche Lichter und mysteriöse Geschehnisse, die ihm von den Dorfbewohnern entgegenbranden, ignoriert er.

Schon in der ersten Nacht allerdings wird er von nächtlichen Geräuschen um den Schlaf gebracht. Ratten, dessen ist er sich sicher, treiben sich in den Zwischenwänden herum und verleiden ihm eine durchgängige Nachtruhe. Also steigt er auf den Dachboden, um den Ruhestörern den Kampf anzusagen, und auch wenn es überflüssig ist, das anzumerken: Ratten findet er dort keine.

Empfänglicher für übernatürliche Schwingungen, durchforstet David am nächsten Morgen den Garten und findet dort neben einer unheimlichen Kapelle einen Friedhof, auf dem nur Kinder bestattet liegen – die seltsamen Erscheinungen, die ihn schon jetzt heimzusuchen beginnen, schreibt er noch seiner überreizten Fantasie zu.

Dann trifft er Liz. Sie ist eine junge Studentin, und wollte sich aus Geldmangel im verlassenen Fortyfoot House einnisten. David ist heilfroh über einen „vernünftigen Geist“ und lädt das Mädel dazu ein, ihm und seinem Sohn Gesellschaft zu leisten, so lange es möchte – ein Vorschlag, dem Liz nur zu gerne zustimmt.

Schon bald aber bröckelt die Idylle: Die unerklärlichen Erscheinungen werden häufiger und rücken den Bewohnern von Fortyfoot House immer dichter auf den Leib, so dicht, bis David beginnt, Nachforschungen anzustellen, um den Ursachen auf den Grund zu kommen. Hat er die Ängste der Dorfbewohner anfangs noch für maßlose Übertreibungen gehalten, so muss er jetzt einsehen, dass diese nur an der Oberfläche des Schreckens schaben, der hinter dem verrotteten Gemäuer lauert: Raum und Zeit stehen Kopf, Brown Jenkin wird zur Schachfigur eines kosmischen Grauens, das in Fortyfoot House seinen Anfang und seine Vollendung finden soll …

_Frischer Wind in alten Gemäuern._

„Die Opferung“ ist Geisterhaus-Grusel, wie er typischer nicht sein könnte, Punktum.
Ganz im Sinne seines kauzigen Vorbildes lockt Masterton den Leser von Andeutung zu Andeutung, konfrontiert ihn mit verschlossenen Dorfbewohnern, die sich kaum Informationen aus der Nase ziehen lassen, und lässt den Schrecken hinter den Mauern von Fortyfoot House nur schemenhaft erscheinen: Der Leser weiß, dass es sich bei all den Unheimlichkeiten nur um die Spitze des Leichenberges handelt, und fragt sich bange, wann David Williams vollends vom Grauen verschlungen werden wird, das durch seine Ankunft aufgeweckt wurde.

Einen Originalitätspokal bringt das nicht, aber das macht nichts: Es geht um Atmosphäre, und die gibt es in „Die Opferung“ satt. Masterton weiß genau, wie man den Leser nach einem nächtlichen Lesevergnügen dazu bringt, das Licht nur mit Unbehagen zu löschen. Vor allen Dingen die erste Hälfte des Buches zeichnet sich durch das Ungesagte aus, das höchstens im Augenwinkel auftaucht, und damit umso verstörender wirkt. „Die Opferung“ ist eine Story wie ein kühler Abendwind: Geheimnisvoll, frisch und man bekommt eine Gänsehaut davon.

_Schlaglöcher auf der Zielgeraden._

Masterton, der 1946 in Edinburgh geboren wurde, muss ein wahrer Schreib-Besessener sein: Nach [„Manitou“ 754 (1975) hat er 72 weitere Romane veröffentlicht (wenn ich richtig gezählt habe) und dabei habe ich nicht die Sex-Ratgeber berücksichtigt, die er in ebenfalls schwindelerregender Zahl verfasst (über 30) und verkauft (über drei Millionen) hat.

Ein derart gigantischer Output verlangt natürlich auch eine flotte Schreibe, und zu deren Gunsten hat Masterton im letzten Drittel des Buches ein wenig die Sorgfalt vermissen lassen: Er möchte zu einem Ende kommen, das merkt man besonders daran, dass David Williams nicht immer, sagen wir, lebensnahe Entscheidungen trifft. Auch das Schlachtermesser, das zum Schluss Regie führt, hätte es nicht unbedingt gebraucht.

Dem Lesespaß fügt das aber keinen nennenswerten Schaden zu, denn der Gruselfaktor bleibt enorm. Die vielen Anspielungen auf das Lovecraft-Universum entschädigen überdies für die gelegentlichen Naivitätsanfälle von David Williams und für die Abkehr vom Subtilen.

Masterton kann sich außerdem das eine oder andere Augenzwinkern nicht verkneifen und verdeutlicht somit, dass es eben dieser Spaßfaktor war, der ihn beim Schreiben angetrieben hat: „Die Opferung“ ist somit kein bierernstes Schauermärchen, sondern gruseltechnisches Popkorn-Kino.

_Finale: unbefriedigend befriedigend._

Das wiederum hat zur Folge, dass die Schaueratmosphäre nicht bis zur letzten Seite durchhält. Wo Lovecraft einen verstörten Leser zurücklässt, der die Fundamente seiner vernünftigen Welt plötzlich als bröckelnde Fassaden wahrnimmt, hinterlässt Masterton einen Leser, der mit einem zufriedenen Schaudern sein Buch zuschlägt. „Die Opferung“ ist rund und ausgewogen, es bleiben keine Fragen offen und jeder Handlungsstrang schließt sich. Selbst Brown Jenkin bekommt eine Ursprungserklärung auf den Leib geschneidert. Oh, die ist nicht schlecht, aber die genaue Betrachtung seiner „Kinderstube“ zerstört alles Mystische, das hauptsächlich für sein Grauen verantwortlich war. Man könnte sagen, dass Masterton seinen Stil wechselt: Von anfänglichem Suspense zu schlussendlichem Splatter.

Eine würdige Verbeugung vor dem Meister bleibt „Die Opferung“ dennoch, und auch wenn Masterton damit sicher nicht in der Lovecraft-Liga spielt, hat er dem Horrorfan trotzdem eine kleine Genre-Perle geschenkt, die alles bietet, was das schauerlustige Herz begehrt. Ein Lob also an den |Festa|-Verlag, der mit sicherer Hand in die Klassiker-Kiste gegriffen hat, um etwas zu entstauben, das man sich ruhigen Gewissens ins spinnwebverhangene Gruselregal stellen kann. Wer in „Die Opferung“ hineinschnuppern möchte, kann das auf der [Homepage]http://www.festa-verlag.de/ des |Festa|-Verlages tun, wer Masterton näher kennen lernen möchte, mag sich auf dessen Seite begeben: http://homepage.virgin.net/the.sleepless/masthome.htm.
Lohnen wird sich beides.

Thomas F. Monteleone – Das Blut des Lammes

Vatikan – Stadt des Bösen

Pater Amerigo Ponti wird 1967 Mitglied der „Sonderkommission des Papstes“, einer Kommission, über die niemand auch nur Gerüchte zu spinnen wagt. Er soll etwas stehlen, eine geheimnisvolle Glasphiole, deren mysteriöser Inhalt Ponti in blankes Erstaunen versetzt. Als er die Phiole seinem Auftraggeber übergibt, wird ihm das Lebenslicht ausgepustet.

Nach diesem Prolog richtet Monteleone seine Kamera in das Jahr 1998, auf das Leben von Pater Peter Carenza. Der ist gutaussehend, hat eine wohlklingende Stimme, zeigt massig Einsatz und ist von idealistischer Intelligenz – einfach jeder liebt ihn. Er selbst ist mit seinem Leben zufrieden, bis plötzlich ein Blitz aus seinen Händen schießt und einen Jugendlichen tötet, der Peter gerade hatte überfallen wollen.

Thomas F. Monteleone – Das Blut des Lammes weiterlesen

Interview mit Per Helge Sørensen

|Per Helge Sorensen ist Spezialist für Internetsicherheit und Kryptographie. Mit [„Intrigenspiel“ 1590 hat Lübbe seinen zweiten Roman in die deutschen Buchläden gebracht, der komplexer ist als sein Vorgänger „Mailstorm“, aber erneut faszinierende Blickwinkel auf die Abgründe der Multi-Media-Gesellschaft eröffnet. Grund genug, um einige neugierige Fragen nach Dänemark zu schicken:|

_Alf Stiegler:_
Wie lange hast du an „Intrigenspiel“ gearbeitet und was war der schwierigste Teil seiner Entstehung?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe an dem Roman volle eineinhalb Jahre gearbeitet. Der schwierigste Teil war definitiv der Anfang. Ich musste den ersten Abschnitt mehrere Male neu schreiben, um die richtige Energie in die ersten Kapitel zu bekommen. Außerdem hatten die ersten fünf Kapitel ursprünglich 120 Seiten. Ich habe sie auf nur 70 Seiten heruntergekürzt.

_Alf Stiegler:_
Wie würdest du die Entwicklung beschreiben, die du von „Mailstorm“ bis zum aktuellen „Intrigenspiel“ durchlaufen hast?

_Per Helge Sørensen:_
Mailstorm ist ein recht traditioneller Thriller – trotz der Handlungsplattform Internet. Irgendjemand wird auf Seite sieben umgebracht und die Hauptfigur hat herauszufinden, warum. Verglichen dazu ist „Intrigenspiel“ ein viel komplexerer Roman. Es gibt keinen Mord, der den Plot vorantreibt. Und die Story ist aus vier verschiedenen Perspektiven heraus erzählt. Außerdem hat sich die Sprache verändert: von der traditionellen, kompakten Thrillersprache in „Mailstorm“ zur ausgefeilter satirischen Sprache in „Intrigenspiel“.

_Alf Stiegler:_
Sind deine Storys schon fertig konstruiert, wenn du zu schreiben beginnst? Oder ziehst du es vor loszuschreiben, um dann zu sehen, wohin dich die Geschichte führt?

_Per Helge Sørensen:_
In Mailstorm kannte ich den kompletten Plot, als ich zu schreiben begann, in „Intrigenspiel“ waren es stattdessen anfangs etwa 2/3 der Handlung. Ich hatte keine Vorstellung, wie die Geschichte enden würde. Sollte Herman verhaftet werden? Sollte er verurteilt werden? Ich war darüber wirklich ein wenig beunruhigt, aber als ich den Punkt erreicht hatte, wo nichts mehr geplant war, hatte ich keine Probleme damit. Das letzte Drittel der Story hat sich praktisch von selbst geschrieben.

_Alf Stiegler:_
Bist du als Autor eher ein „einsamer Wolf“ oder engagierst du dich in deiner lokalen Literatur-Szene?

_Per Helge Sørensen:_
Ich bin eingebunden in die lokale Autorengemeinschaft. Tatsächlich war ich ein Jahr Vorsitzender der dänischen Autorengemeinschaft (von 2004 bis 2005). Aber diese Arbeit betrifft hauptsächlich politische Themen: Vertragsverhandlungen mit Verlegern, Entschädigungen von öffentlichen Bibliotheken an Autoren usw. Was mein Schreiben betrifft, bin ich allerdings ein „einsamer Wolf“.

_Alf Stiegler:_
Wie bist du überhaupt mit Literatur und dem Schreiben in Berührung gekommen?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe 1998 für das dänische Ministerium gearbeitet, Internet- und Sicherheitsfragen betreffend. Irgendwann war ich einfach überarbeitet und musste verschwinden. Also habe ich mir ein Flugzeugticket gekauft, um mich in Kuba für sechs Monate zu entspannen. Dort dachte ich mir dann, dass es durchaus den Versuch wert wäre, über manche der Themen einen Roman zu schreiben, die ich im Ministerium bearbeitet habe (Kryptographie etwa, die ja auch in „Mailstorm“ eine Rolle spielt). Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.

_Alf Stiegler:_
Wie wichtig waren deine „digital-rights“-Arbeiten für den Schreibprozess von „Intrigenspiel“ und wie sehr beeinflussen sie deine Autorenarbeit überhaupt?

_Per Helge Sørensen:_
Politik ist ein wichtiger Motor für mein Schreiben. „Mailstorm“ ist auf der Basis von Diskussionen entstanden, die sich um Internetüberwachung und Kryptographie gedreht haben. Eines der wichtigsten Themen in „Intrigenspiel“ ist „freie Meinungsäußerung vs. Pornographie und kontroverse Inhalte“. In dem Zusammenhang sind die Arbeiten, die ich für „digital rights“ verfasse, wichtige Inspirationsquellen.

_Alf Stiegler:_
Beide deiner Bücher behandeln den Missbrauch von Medien – besonders das Internet. Ist dieses Thema dir ein brennendes Anliegen?

_Per Helge Sørensen:_
Auf jeden Fall. Das Internet ist ein sehr mächtiges Medium. Das erste Mal in der Geschichte können sich normale Bürger der ganzen Welt darstellen, ohne von irgendwem zensiert zu werden. Und sie können sich mit Gleichgesinnten austauschen – über den kompletten Globus. Aber die Gesellschaft ist es nicht gewöhnt, mit einer solchen Freiheit umzugehen, vor allem nicht, wenn diese Freiheit dazu verwendet wird, Informationen zu verbreiten, die wir als kontrovers ansehen oder sogar als gefährlich. Wie die Gesellschaft mit dieser Freiheit umgehen soll, ist ein wichtiges Thema der Demokratie. Zum Beispiel: Sollten wir Informationen darüber verbieten, wie man Verbrechen begehen kann (wie man Bomben bauen kann etwa), oder sollen wir nur die Verbrechen selbst verbieten?

_Alf Stiegler:_
Wie viele Erfahrungen aus deinem Alltagsleben haben ihren Weg in „Intrigenspiel“ gefunden? Das Leben von Kristian Nyholm zum Beispiel, oder der Umgang, den die Journalisten des Dagbladet miteinander pflegen – es wirkt so „echt“, dass man es beinahe fühlen kann. Ist das deiner Vorstellungskraft entsprungen, oder gestattest du dem Leser hier Einblicke in frühere Abschnitte deines Lebens?

_Per Helge Sørensen:_
Nyholms Figur basiert tatsächlich auf Erfahrungen, die ich während meiner Arbeit im dänischen Ministerium gemacht habe. Und praktisch alle Szenen mit der Journalistin Camilla sind aus meinen Erfahrungen mit Journalisten entstanden, Erfahrungen, die ich sammeln konnte, wenn ich Interviews über digital rights gegeben habe usw. „Intrigenspiel“ ist sehr stark vom „wirklichen Leben“ beeinflusst.

_Alf Stiegler:_
Aufklärung vs. Unterhaltung; was ist dein wichtigster Schreib-Antrieb?

_Per Helge Sørensen:_
Ich würde sagen, Aufklärung. Aber natürlich muss es auch unterhaltsam sein, sonst verliert man seine Leser.

_Alf Stiegler:_
Ich persönlich mochte es, wie du mit Definitionen gespielt hast, das „Spiel der großen Worte“, wie es Kristian Nyholm genannt hat; Ich schätze, Luhman wäre stolz auf dieses „Man gestaltet die Realität, indem man sie formuliert“. War das deine Absicht?

_Per Helge Sørensen:_
Ich würde gerne sagen, dass dem so ist … Aber … wirklich: Ich habe nie viel von Luhmann gelesen. Ich kenne mich mit Mathematik und dem Ingenieurswesen aus. Das Luhman-Zeug in „Intrigenspiel“ basiert auf ein paar oberflächlichen Blicken, die ich auf die Diplomarbeit eines Freundes geworfen habe. Hm. Trotzdem freut es mich, dass dir das „Spiel der großen Worte“ gefällt. Ich bin auch ziemlich stolz darauf.

_Alf Stiegler:_
Was hältst du überhaupt von Cyberpunk und Science-Fiction? Eher eine Erweiterung des geistigen Horizonts oder Verschwendung von Gehirnkapazität?

_Per Helge Sørensen:_
Wenn es gut gemacht ist, mag ich es sehr gerne. Gibson ist natürlich der Meister. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Art von Romanen, die ich hauptsächlich lese. David Mitchell kann ich wärmstens empfehlen – er verbindet Zeitgenössisches mit SF, Cyberpunk und vielen anderen Einflüssen. „Cloud Atlas“ und „Number9Dream“ sind die besten Bücher, die ich seit Jahren gelesen habe.

_Alf Stiegler:_
Okay, lass uns mal etwas spekulieren: Es gibt die Hypothese, dass wir bereits in einer virtuellen Realität leben. Diese Idee wurde von Moores Gesetz abgeleitet: Wenn Computer alle drei Jahre ihre Prozessor-Kapazitäten verdoppeln, wären wir vielleicht irgendwann in der Lage, perfekte Kopien unserer Realität anzufertigen. Solche virtuellen Realitäten hätten dann die Aufgabe, Konsequenzen von Projekten und Handlungen zu ergründen – ein Was-wäre-wenn-Simulator sozusagen.
Aber falls Moores Gesetz tatsächlich so etwas ermöglichen sollte, gäbe es in der Zukunft eine unvorstellbare Menge solcher virtuellen Realitäten – und der Wahrscheinlichkeitsrechnung entsprechend wäre es viel wahrscheinlicher, in einer dieser virtuellen Realitäten zu leben – nicht etwa in der „wirklichen Realität“. Was hält ein IT-Spezialist von solchen Spekulationen?

_Per Helge Sørensen:_
Hm. Interessant. Kann ich einen Freund anrufen?

Nun, ich denke, die Idee ist einfach aufregend, dass wir in einer „gefälschten“ virtuellen Realität existieren könnten. Natürlich ist das auch ein hervorragender Aufhänger für eine Story. Ich glaube, das ist ein sehr grundsätzlicher Menschheitstraum: Es muss einfach mehr geben, wir leben nicht in der wirklichen Welt und es gibt eine Hintertür zu irgendeinem fremden Ort. Es ist wie der Traum vieler Kinder: Die eigenen Eltern sind nicht die echten Eltern, tatsächlich ist man der Sohn eines Königs, und der wird eines Tages kommen, um einen abzuholen. Wie auch immer, meistens stellt sich heraus, dass deine Eltern auch tatsächlich deine Eltern sind. Es stellt sich heraus, dass man hart arbeiten muss, um diese Hintertür zu finden, hinaus in eine Welt voller Magie.

Um zu den virtuellen Realitäten zurückzukehren: So leid es mir tut, dort gilt genau das Gleiche. Diese Welt ist, so fürchte ich, die wirkliche Welt. Aber wenn man hart genug arbeitet, kann man sich die Magie für sich selbst erschaffen.

Um auf die technischen Aspekte einzugehen: Was ist mit den Computern, in denen diese virtuellen Welten existieren sollen? Diese Computer müssten ja Teil der „wirklichen Welt“ sein. Aber müssten sie nicht genauso in der virtuellen Welt existieren? Müsste in dieser virtuellen Welt (einer perfekten Kopie unserer Welt!) nicht ein virtueller Computer existieren, der wiederum diese virtuelle Welt enthalten müsste? (Kann Gott der Allmächtige einen Felsen erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?)

_Alf Stiegler:_
Was hältst du vom „Transhumanismus“ und der dort vertretenen These, dass es eines Tages Super-Intelligenzen geben wird, die über den normalen Menschen bestimmen werden?

_Per Helge Sørensen:_
Ich bin ein Skeptiker. Ich habe während meines Studiums ein wenig mit künstlichen Intelligenzen gearbeitet. Obwohl die Geschwindigkeit der Prozessoren und die Speicherkapazität explodieren, sind Computer immer noch ziemlich dumm. Es ist ein Albtraum, wenn man auch nur versucht, einen Computer menschliche Sprache erkennen zu lassen. Rechner dazu zu bringen, eben Gesagtes auch zu |verstehen|, ist noch immer reine Zukunftsmusik. Man darf keinesfalls unterschätzen, wie komplex der menschliche Geist ist!

_Alf Stiegler:_
Andererseits: Die meisten exponentiellen Funktionen flachen irgendwann ab und Moores Gesetz wird es wahrscheinlich irgendwann genauso ergehen. Glaubst du, dass der Gipfel der Computerentwicklung schon an unsere Tür klopft?

_Per Helge Sørensen:_
Nein. Obwohl die technische Entwicklung sich durchaus verlangsamen könnte, glaube ich, dass es ein gewaltiges Entwicklungspotenzial gibt – neue Wege, wie man Computer oder das Internet nutzen kann. Ich würde sogar sagen, dass wir bisher nicht einmal die Spitze des Eisbergs gesehen haben.

_Alf Stiegler:_
Wie sieht es mit DNA-Computern aus? Handelt es sich dabei noch um Science-Fiction, oder greifen Ingenieure bereits auf diese Idee zurück?

_Per Helge Sørensen:_
Momentan ist das noch reine Science-Fiction. Aber das Bild-Telefon war ebenfalls Science-Fiction, als ich noch ein Kind war. Man braucht ja nur einen Blick auf Star Trek werfen … und einen Vergleich zum neuesten Nokia-Handy ziehen.

_Alf Stiegler:_
Neal Stephensons „Snow Crash“ behandelt auf faszinierende Weise eine „Vermählung“ von Religion mit einer ultra-modernen, Technik-geprägten Gesellschaft. Glaubst du, dass es noch Platz für eine Seele in unserer „postreligiösen Gesellschaft“ gibt?

_Per Helge Sørensen:_
Ich denke, es gibt eine Menge Seele in der postreligiösen Gesellschaft: Die Seele innerhalb eines jeden menschlichen Individuums. In meinen Augen ist Religion hauptsächlich eine Ausrede, die (meist von alten Männern) benutzt wird, um das Leben anderer Menschen zu kontrollieren.

_Alf Stiegler:_
„Sex mit Kindern ist der Ersatz, den die postreligiöse Gesellschaft für Blasphemie gefunden hat.“ – Wahr und zynisch. Was hat dich zu dieser Ansicht geführt?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe nach etwas gesucht, das den modernen, säkularen Menschen auf die selbe Weise vor den Kopf stößt, wie sich Muslime durch Kritik an ihrer Religion vor den Kopf gestoßen fühlen. Pädophilie ist mir als einziges Problem eingefallen. Vielleicht liegt das daran, dass Kinder für viele Menschen den Platz von Gott eingenommen haben – das wichtigste Ziel im Leben.

_Alf Stiegler:_
Kontrolle vs. Entscheidungsfreiheit. Würdest du eine Softwarelösung unterstützen, die „grenzüberschreitende Internetpornographie“ aus dem Internet filtern kann, eine Softwarelösung, wie sie die Softwarespezialisten von Kyner vorgeschlagen haben? Ich weiß, das ist eine gemeine Frage …

_Per Helge Sørensen:_
Das Schlüsselwort ist „grenzüberschreitend“. Kyner erzeugt die Illusion, dass es derart extreme Pornographie gibt, dass wir sie loswerden müssen. Obwohl es zweifellos |nicht| illegal ist (also Pädophilie, etc.)! Was Kyner tatsächlich sagt ist, dass diese Art von Information illegal sein |sollte| – aber solange wir damit nicht durchkommen (wegen irgendwelchem demokratischen Bockmist über „freie Meinungsäußerung“), versuchen wir dergleichen auf andere Weise zu ächten: über Filter.

Indem Kyner Worte verwendet wie „grenzüberschreitend“, erzeugt er die Illusion, dass es ein Problem gibt, welches wir zu lösen haben. Obwohl es keines gibt. Übrigens verwendet die EU-Kommission den Begriff „schädlicher Inhalt“.
Tatsächlich ist die Sache ganz einfach: Es gibt zwei Arten von Inhalten:
– illegale Inhalte, um die sich die Polizei und die Gesetze zu kümmern haben,
– legale Inhalte, die man in Ruhe lassen sollte.
Es gibt keinen Grund für Filter.

_Alf Stiegler:_
Was sind deiner Ansicht nach die widerlichsten Entwicklungen der Multi-Media-Unterhaltung?

_Per Helge Sørensen:_
Wenn Streitkräfte die Sprache und Bilder der Spieleindustrie verwenden, um Soldaten zu rekrutieren. Die dänischen Streitkräfte veröffentlichen beispielsweise eine monatliche Broschüre, die wie Werbung für Counter Strike aussieht. Die US-Streitkräfte haben sogar ihr eigenes Rekrutierungs-Spiel entwickelt. Krieg ist kein Computerspiel. Die Streitkräfte sollten es am besten wissen.

_Alf Stiegler:_
Die dänische Literatur hat es schwer, sich einen Weg in deutsche Buchgeschäfte zu bahnen. Hast Du ein paar Underground-Tipps für Skandinavien-hungrige Sørensen-Süchtige?

_Per Helge Sørensen:_
Es gibt einen neuen Roman von Morten Ramsland. In Dänemark war er sehr erfolgreich und wird wahrscheinlich demnächst in Deutschland veröffentlicht. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Falls eher Kriminalromane bevorzugt werden, sollte man Sara Blaedel antesten. Sie ist die neue, dänische „Queen of Crime“.

_Alf Stiegler:_
Welche Lektüre ziehst du persönlich vor?

_Per Helge Sørensen:_
Im Moment lese ich eine Menge zeitgenössische Literatur aus England und Amerika. Allan Hullinghurst. David Mitchell (wie oben schon erwähnt). Jonathan Franzen. Poul Auster. Und den japanischen Guru natürlich: Haruki Murakami.

_Alf Stiegler:_
Gibt es eine Genre, von dem du die Finger lässt?

_Per Helge Sørensen:_
Als ich 13 war, habe ich eine Menge Fantasy gelesen. Ich denke, ich habe genug für den Rest meines Lebens.

_Alf Stiegler:_
Die dritte Veröffentlichung ist die Magische, sagt man im Musikgeschäft. Was dürfen wir von deiner dritten Veröffentlichung erwarten?

_Per Helge Sørensen:_
Den „Großen Dänischen Roman“, der sich mit all den wichtigen Themen der letzten 30 Jahre befasst, in Dänemark, Europa und dem Rest der Welt. Oder um es anders auszudrücken: Ich weiß es noch nicht. 😉

_Alf Stiegler:_
Ein paar letzte Worte für die Leser von Buchwurm.info?

_Per Helge Sørensen:_
Hört nicht auf zu lesen. Die magische Welt ist da draußen.

John Barnes – Der Himmel, so weit und schwarz

Willkomen in der Zeit nach den Mem-Kriegen

Es startet gemächlich: Ein altgedienter Alkoholiker-Cop und Psycho-Doctor setzt sich vor die imaginäre Kamera, schnappt sich einen Becher Whiskey und starrt auf seinen Bildschirm. Er erwartet eine Nachricht von einem seiner „Fälle“, von Terpsichore Melpomene Murray, die sich aus unerfindlichen Gründen nicht mehr melden mag.

Weil diese erhoffte Meldung ausbleibt, beginnt er dem Leser das Universum zu vermitteln, in dem dieser Roman spielt. Der Leser erfährt, dass eine künstliche Intelligenz jeden Menschen auf der Erde kontrolliert, dass deswegen ganze Generationen flüchten, um ein karges Leben auf dem Mars zu beginnen. Aber auch die Mars-Bewohner sind vor einer Übernahme nicht sicher: Die Künstliche Intelligenz entwickelt sich. |OneTrue| versucht, den Mars mit dem „Resuna-Mem“ zu infizieren, einem Gedankenvirus, der über eine codierte Kommunikationssequenz in die Hirne seiner Wirte gelangt, um sie unter die Kontrolle der KI zu stellen. Jegliche Information, die von der Erde auf den Mars gelangt, könnte ein Resuna-Träger sein.

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Sørensen, Per Helge – Intrigenspiel

Intrigenspiel ist der zweite Roman des dänischen IT-Spezialisten und befasst sich, schlicht gesagt, mit dem Manipulationspotenzial, das die neuen Medien bieten. Dementsprechend ist „Intrigenspiel“ nicht allzuweit entfernt von seinem Vorgänger „Mailstorm“, dessen Handlung sich ebenfalls auf der Plattform moderner Medien entfaltet.

_Spektakuläres aus Unspektakulärem:_ Die Grundidee von „Intrigenspiel“ reißt zunächst nicht vom Hocker – grenzüberschreitende Internet-Pornographie. Ehe man aber mit dem großen Gähnen beginnt, sollte man dem Buch unbedingt einen zweiten Blick gönnen, was Sørensen nämlich aus dem Thema herauskitzelt, ist so frisch und unverbraucht wie ein Frühlingsspaziergang:

Ausgangspunkt ist eine Internetseite, die die Vergewaltigung eines Schulmädchens darstellt. Zeitungspraktikantin Camilla Drejer sieht in dem resignierten Schulterzucken von Polizei, Politik und Kinderhilfsorganisationen einen willkommenen Aufhänger für eine Story, die sie in ihrer Karriere voranbringen soll. Der Druck, den sie mit ihrer Recherche auslöst, zwingt Ministerialrat Kristian Nyholm dazu, sich dieses Themas anzunehmen, die Kinderhilfsorganisation „Kinder in der Gesellschaft“ sieht sich gezwungen, Hilfe von außen zu holen, um den Gleichgültigkeits-Vorwürfen der Presse zu begegnen, und PR-Fachmann Morten Kyner bietet diese Hilfe in Form einer Software-Lösung, die die Kinderhilfsorganisation anwenden könnte. Und da wäre dann noch Herman, ein berufs- und beziehungsfrustrierter IT-Berater, der kurz vor der Kampagne auf eine „grenzüberschreitende Pornoseite“ gesurft ist und nun Gefahr läuft, vor die Flinte dieser Kampagne zu laufen und von den Medien geschlachtet zu werden …

_Achterbahnfahrt in Begleitung prall gezeichneter Figuren:_ Die Figuren, die der Leser vorgestellt bekommt, kann man fast atmen hören. Sie leben in ihrem eigenen, dichten Mikrokosmos und der Leser lernt so, die Situation aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten – man fiebert sogar mit manchen von ihnen mit, obwohl ihnen zweifellos das trübe Schicksal zusteht, dass ihnen droht. Dabei sind es genau ihre Schwächen, ihre Neurosen und ihre Entscheidungen, die „Intrigenspiel“ vorantreiben, ihre Schicksale verflechten sich so stark miteinander, dass jede ihrer Handlungen unmittelbare Folgen hat, die sich dominoartig über das gesamte Ensemble ausbreiten.

All das steigert sich in eine Spannungsspirale, die sich bis zum Finale zuspitzt. Man wird von Wendungen durchgeschüttelt und schnuppert vorsichtig an den Fährten, die Sørensen legt – nicht selten führen sie nämlich in die völlig falsche Richtung.

Als Paradebeispiel mag die erste Szene des Buches herhalten, startet sie doch mit scheinbar unspektakulärer Playboy-Optik, nur um einen mit einer fiesen Wendung vors Gesicht zu treten und dabei ganz nebenbei Herman vorzustellen: jene besagte Figur, die man eigentlich verabscheuen müsste, was man aber einfach nicht kann …

Das bleibt aber kein Einzelfall: Beinahe jede Szene von „Intrigenspiel“ ist in einen Spannungsaufbau eingebettet. Selbst ein Blick auf den Arbeitsalltag des Ministerialrates Kristian Nyholm presst den Leser förmlich in seinen Sessel:

|Es war 16:24 Uhr, als Nyholm die Unterlagen Korrektur las. Der Wagen des Ministers wartete mit laufendem Motor in der Tiefgarage, und Nyholm versuchte vergeblich, sich auf die letzten Verbesserungen der Pressemitteilung zu konzentrieren.
|Mit dem neuen Portal des Wissenschaftsministeriums …|
Im Vorzimmer klingelte das Telefon.
|Mit dem neuen Portal des Wissenschaftsministeriums …|
Einen Augenblick später stand Pernille im Türrahmen.
„Sag, dass es auf dem Weg nach unten ist“, bettelte Nyholm, der seine Nase in den Akten vergraben hatte. „Ich muss es nur noch ein letztes Mal lesen.“
„Es ist nicht das Ministersekretariat“, kam es von der Tür. „Es ist Leo Alting.“
|… auf gleicher Augenhöhe …|
Nyholm schüttelte den Kopf.
„Er sagt, dass es wichtig ist. Und dass er bald nach Hause gehen wird.“
|… auf gleicher Augenhöhe …|
„Kannst du ihn nicht zu Espen durchstellen?“
„Er möchte mit dir sprechen.“
|… auf gleicher Augenhöhe mit …|
„Und er ist auf dem Sprung nach Hause.“
Auf dem Telefon sprangen die Ziffern auf 16:25.|

Nur am Rande bemerkt: Sorensen konstruiert keine Spannung um der Spannung willen. Auch obige Szene ist mit dem Rest der Story verknüpft und stellt einen wichtigen Motor dar, der das Geschehen vorantreibt, zu einem Ende, an dem alles wohlkomponiert zusammenläuft.

_Da wäre aber noch …_
Es schlummern auch ein paar Schattenseiten zwischen den Buchdeckeln: Zwar vermeidet Sorensen durch seine indirekte und optische Schreibe lahme Erzählpassagen, dadurch entstehen aber auch Szenen, „gefilmte Handlungen“ sozusagen, die man verschieden auslegen könnte. Die „erklärende Stimme“ eines Erzählers wäre dort schon nötig gewesen.

Aufgrund der hohen Informationsdichte geht auch hin und wieder die Übersichtlichkeit flöten. Gerade all die Minister, Staatssekretäre und Ministerialbeauftragten, mit denen sich Kristian Nyholm herumstreiten muss, reißen den Leser stellenweise aus der Orientierung und man muss in ein früheres Kapitel blättern, um wieder Anschluss zu finden.

Oh, und wer sich die Spannung nicht verderben möchte, sollte sich möglichst vom Klappentext fernhalten …

_Fazit:_ Trotz allem ist „Intrigenspiel“ ein hervorragend geflochtenes Kabinettstückchen, das mit ziemlichem Vorsprung vor seiner Cyber-Thriller-Konkurrenz dahermarschiert.

Sørensens Insiderwissen über Internetsicherheit, über PR und über die Medien ist in jeder Zeile spürbar und tut ein Übriges, um dieses Buch auf eine Ausnahmeposition zu hieven – vor allem, da es so klar und anschaulich dargestellt ist, dass auch jemand ohne den geringsten Background die Story nachvollziehen und genießen kann. Sørensen hat übrigens selbst im dänischen Forschungsministerium gearbeitet und engagiert sich in der Organisation [Digital Rights]http://www.digitalrights.dk für die Sicherheit im Internet.

Freunden intelligent gesponnenen Thriller-Garns sei „Intrigenspiel“ daher ohne Einschränkung ans Herz gelegt. Man möge sich zurücklehnen und voller Häme die gallebitteren Spitzen genießen, die Sørensen auf Meinungsmache verschießt: „Sex mit Kindern ist der Ersatz, den die postreligiöse Gesellschaft für Blasphemie gefunden hat.“ Kein Kommentar.

Stephenson, Neal – Snow Crash

Leicht verdaulich ist es ja nicht, was Neal Stephenson da auf die Cyberpunk/Science-Fiction-Gemeinde losgelassen hat. Wer „Snow Crash“ allerdings eine Chance lässt, bekommt einen jener seltenen Ideentrips geboten, die das komplette Weltbild auf den Kopf stellen.

Doch beginnen wir am Anfang: Ausgangspunkt ist eine Zukunft, die nicht von Regierungen organisiert wird, sondern von seltsamen Konstellationen wirtschaftlicher Liberalität: So existieren etwa die Mafia, das FBI, die Polizei oder die Kirche als |Franchises| nebeneinander, als Geschäftsketten, deren Macht über die Marktanteile bestimmt, die sie sich sichern können.

Lebensraum der Bürger jener Zivilisation sind so genannte „Burbklaven“, Lebensgemeinschaften, deren Weltbild vertraglich geregelt ist – Subkulturen mit |Corporate Identity| sozusagen. Schmelztiegel all jener Burbklaven und Franchises ist das Metaversum, eine virtuelle Realität, in der sich jedermann und jede Frau „einbrillen“ kann, um sich mit weltweit gesammelten Informationen füttern zu lassen und mit anderen „Eingebrillten“ auszutauschen.

In einem solchen Universum gedeihen natürlich herrlich schräge Figuren: Hiro Protagonist etwa lebt außerhalb aller Burbklaven in einem Lagerhaus, wobei er seinen Lebensunterhalt als schwertkämpfender Hacker im Metaversum verdient. Und als Pizzafahrer für die Mafia. Ihm zur Seite steht Y.T., ein weiblicher, fünfzehnjähriger Skateboard-Kurier, der bis zu den Zähnen bewaffnet durch die übelsten Burbklaven düst, während die Mutter daheim mit dem Mittagessen wartet.

Eines schönen Tages bekommt es Hiro Protagonist mit „Snow Crash“ zu tun, einer Droge, die nicht nur den Computer seines Freundes Da5id lahm legt, sondern Da5id gleich mit. Snow Crash breitet sich rasch aus und hinterlässt Süchtige, die sich zu kultähnlichen Gruppen organisieren und scheinbar sinnlos vor sich her brabbeln.

Um seinem Freund zu helfen, heftet sich Hiro Protagonist auf die Spur von Snow Crash und den Drahtziehern dahinter. Dabei lernt er unerwartet, die Vertreibung aus dem Paradies mit anderen Augen zu sehen, er stellt fest, dass die Sumerer eine bizarre und fortschrittliche Weltsicht hatten, und erkennt, dass Religion und moderne Computerwissenschaft mehr gemeinsam haben, als sich der durchschnittliche Hacker des 23. Jahrhunderts vorstellen könnte.

Das gilt für den durchschnittlichen Leser des 21. Jahrhunderts natürlich umso mehr. Dementsprechend wird man mit Ideen um neurolinguistische Hacker bombardiert, um Metaviren, um eine drohende Infokalypse und um einen Antagonisten, der seinesgleichen sucht.

Wie gesagt, „Snow Crash“ ist nicht einfach nachzuvollziehen und man sollte schon ein paar grundlegende Kenntnisse über Computer mitbringen, wenn man dieses Buch verstehen möchte. Überhaupt ist Computertechnologie ein gerne verwendetes Thema von Neal Stephenson, das selbst in seinem Kryptographie-Thriller „Cryptonomicon“ eine entscheidende Rolle spielt, obwohl die Thematik dieses Romans im zweiten Weltkrieg verankert ist.

Für Cyberpunk-Anhänger oder Freunde harter Science-Fiction sind derlei technische Eskapaden natürlich ein gefundenes Fressen. Dabei sind Stephensons Ideen durchdacht und rasant umgesetzt, er fordert den Leser, überrumpelt ihn aber nicht, Grundwissen ist wohl nötig, aber ein Doktortitel muss es deswegen noch lange nicht sein. Überhaupt steht bei all dem die Story im Vordergrund, und die ist trotz allen Anspruches poppig, bunt und in einen gekonnten Spannungsbogen eingebettet.

Ursprünglich war „Snow Crash“ als computergenerierter Comic-Roman gedacht, der zusammen mit dem Künstler Tony Sheeder erstellt werden sollte, aber bald wurde dieses Projekt von seinem eigenen Gewicht erdrückt. Der Sprache merkt man es aber noch an: Sie ist hart, direkt und bombardiert den Leser mit stroboskopartigen Bildern einer Welt, die mit bizarren Ideen nur so gespickt ist:

|Im nächsten Sekundenbruchteil: Kein greller Blitz blendet sie, und darum kann sie die Druckwelle regelrecht sehen, die sich wie eine perfekte Kugel ausbreitet, hart und greifbar wie ein Ball aus Eis. Wo die Kugel die Straße berührt, erzeugt sie eine kreisförmige Wellenfront, schleudert Kieselsteine in die Höhe, wirbelt alte McDonald’s-Verpackungen hoch, die längst platt gefahren sind, und fördert feinen, weißen Staub aus sämtlichen Ritzen des Asphalts, so dass sie über die Straße rollt wie ein mikroskopischer Schneesturm. Darüber hängt die Druckwelle in der Luft, rast mit Schallgeschwindigkeit auf Y.T. zu, eine Linse aus Luft, die alles auf der anderen Seite abflacht und bricht. Sie saust hindurch.|

Selten hat man die Zeit, sich während einer gemächlichen Erklärungspassage umsehen zu können, Burbklaven, Franchises, Avatare, Daemonen oder Dentatas prasseln auf den Leser ein, während man vom Sog der Handlung mitgerissen wird; Handlung und Exposition verschmelzen so zu einer Einheit, die jegliche Langeweile im Keim erstickt. Natürlich wird hin und wieder das Tempo gedrosselt, um etwas zu erklären, aber dann ist das Erklärte so abgefahren, dass man die „Pause“ auch braucht, um es überhaupt verarbeiten zu können.
Stephenson hat außerdem ein gutes Gespür für die Vermeidung überflüssiger Informationen; die Szenen greifen nahtlos ineinander über und sorgen für einen stetigen Fluss. Er lässt den Leser an den entscheidenden Punkten des Geschehens einsteigen und hält sich nicht mit Rückblenden auf.

Auch die Figuren bleiben nicht auf der Strecke. Stephenson gibt sich nicht damit zufrieden, kantige Comic-Charaktere in den Raum zu werfen, die durch ein paar skurrile Eigenschaften vom Ruch des Eindimensionalen befreit werden sollen. Die Figuren leben und denken in der Welt, die für sie erschaffen worden ist, sie wachsen in der Konfrontation mit Snow Crash, und dadurch lernt der Leser zu verstehen, wie diese Welt „im Inneren“ funktioniert, was die „Infokalypse“ bedeuten würde, wenn sie tatsächlich über alles hereinbräche. Aber was am wichtigsten ist: Es gibt keine Marionetten der Story, die Story wächst durch die Entscheidungen der Figuren.

Neal Stephenson ist mit „Snow Crash“ jedenfalls ein exquisites Stück Ideenliteratur geglückt, das, wie ich finde, zu Unrecht im Schatten von William Gibsons [„Neuromancer“ 280 steht. Auch wenn Letzterem eine Pionier-Rolle in diesem Subgenre zusteht, zeichnet sich Stephensons Buch durch radikalere Ideen aus, die den Cyberpunk auf eine weitere Evolutionsstufe gehievt haben. Zu Recht jedenfalls wird er in einem Atemzug mit Bruce Sterling, John Shirley und dem erwähnten Gibson genannt, wenn es um die tragenden Autoren der Cyberpunk-Szene geht.

Man sollte sich allerdings davor hüten, Neal Stephenson in diese stilistische Ecke zu drängen. Angefangen hat der 1959 in Maydland Geborene mit „The Big U“, das er auf seiner Homepage als „Jugendwerk“ bezeichnet und nicht weiter kommentiert. 1988 veröffentlichte er „Zodiac – the Eco Thriller“, einen Hardboiled-Detektivroman, um 1991 schließlich „Snow Crash“ zu veröffentlichen. „Diamond Age“ landete 1995 in den Buchregalen der Leserschaft und schlägt als einziges Werk in eine ähnlich rasante und bunte Science-Fiction/Cyberpunk-Kerbe wie sein Vorgänger.

Das Jahr 1999 brachte Stephenson dann mit „Cryptonomicon“ den Durchbruch. Allerdings schlendert dieser Kryptographie-Thriller in einer epischen Gemütlichkeit dahin, die nicht das Geringste mit der Achterbahnfahrt gemein hat, auf die man von „Snow Crash“ geschickt wird. „Cryptonomicon“ kommt viel erwachsener daher, ebenso wie dessen drei Folgeromane aus dem „Baroque Cycle“: [„Quicksilver“, 858 „The Confusion“ (bisher nur auf Englisch erschienen) und „The System of the World“ (ebenfalls nur auf Englisch erschienen). Stephensons Leidenschaft für ausgeklügelte Ideen bekommt hier viel mehr Raum und der Leser kann gemütlich durch seine Gedankengebilde spazieren. Ich für meinen Teil ziehe seine beiden wesentlich wilderen Vorgänger eindeutig vor, weise aber ausdrücklich darauf hin, dass das nichts mit der Qualität von „Cryptonomicon“ zu tun hat, sondern ausschließlich mit meinem persönlichen Geschmack.

Kommen wir also zum Fazit: Da die Zielgruppe „Snow Crash“ ohnehin schon in den Regalen stehen haben wird, geht mein Aufruf an alle, die sich der Science-Fiction sonst nicht so verbunden fühlen: Gebt diesem Ideentrip eine Chance, die Mühe, die er verlangt, zahlt sich mehrfach aus!