Bei »LAZARUS« handelt es sich um eine Sammlung von fünf längeren Geschichten bereits aus den Sammlungen von »Deus ex machina« bis »Tabula rasa« bekannter Autoren. Armin Rößler und Heidrun Jänchen selbst, die Herausgeber der Science-Fiction-Reihe des Wurdack-Verlags, sind natürlich mit dabei. Außerdem Andrea Tillmanns und Bernhard Schneider, beide Gewinner der Storyolympiade und Verfasser vieler Geschichten, sowie Petra Vennekohl.
»Novellen« nennen die Herausgeber die Geschichten in Ermangelung eines adäquaten Ausdrucks und begeben sich damit auf Neuland, denn wer erinnert sich noch an deutsche Science-Fiction-Novellen? Allerdings stellen sie in ihrem Vorwort klar, dass sie nicht den Anspruch haben, Novellen in literaturwissenschaftlich exakter Form zu liefern, sondern diese Bezeichnung auf Grund der wichtigsten Attribute der Novelle gewählt haben: Geschichten, zu lang für eine Kurzgeschichte und zu kurz für einen Roman, die gut unterhalten wollen. Und ich nehme es vorweg: Sie tun es!
Armin Rößler – Lazarus
Es gibt eine Welt, abgelegen von den Ballungszentren irdischer Kolonien, auf der ein rätselhaftes Volk lebt, dem es anscheinend möglich ist, seine Individuen zu reinkarnieren. Es ist sein Geheimnis, dem die Menschen irgendwie auf die Spur kommen und das natürlich ihre Gier entfacht. Der große Traum der Menschen von ewigem Leben – zum Greifen nahe. Gibt es eine Möglichkeit, diese Fähigkeit den Menschen nutzbar zu machen? Eine Expedition bricht auf, dem Volk sein Geheimnis zu entreißen. Doch die Ebu lassen sich nicht so einfach hintergehen.
Der Einstieg in die Geschichte fiel mir nicht leicht. Aber es ist auch schwer, dafür die Gründe zu finden, denn danach fließt die Handlung, die Idee ist spannend und unterhaltsam umgesetzt. Die Ausarbeitung der Charaktere kommt etwas zu kurz, dafür lernen wir das Innenleben von zwei Menschen kennen, die für die Geschichte unentbehrlich sind. Dabei bleibt der Polizist ein bisschen auf der Strecke. Natürlich muss er ohne Verstärkung eindringen, um die Spannung zu erhalten. Seine Begründung ist allerdings an den Haaren herbeigezogen, andererseits kann gerade das einen Aspekt seiner Persönlichkeit widerspiegeln: ein schwacher Charakter, der vor allem sich selbst belügt. Insgesamt macht »Lazarus« Spaß und ist ein schöner Einstieg in die Sammlung.
Petra Vennekohl – Tattoos
Raumfrachterkapitän Arit ist nicht Herr seines Schiffes, er fliegt im Auftrag eines Mannes, der eine kleine Flotte aus Raumfrachtern besitzt und sie an Piloten und Händler verleiht, die sich kein eigenes Schiff leisten können. Arits neue Fracht: Ein zu kühlender Kontainer mit einer unbekannten Ladung, gerade von der großen Siedlungsfirma SCC beauftragt, für die er nie wieder arbeiten wollte. Als Raumpiraten den Kontainer stehlen, steht sein Leben auf dem Spiel. Er muss ihn wiederbeschaffen – und ahnt noch nicht, welches Spiel die SCC spielt.
Der Name »Tattoos« ist etwas irreführend. Arit lässt sich für jedes erfolgreiche Geschäft eines stechen, und sie sind bereits alle verblichen – ein Zeichen seiner Lage. Sie helfen also, den Kapitän zu charakterisieren, spielen aber für die Geschichte nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist die wachsende Beziehung zu seiner »Tochter«, von der er sich motivieren lässt. Vennekohl gelingt eine ausgezeichnete Charakterisierung des Protagonisten und der Welt; sie zieht den Leser direkt hinein in die Probleme des interstellaren Kapitalismus. Es ist spannend, wie sich der Schock über die unmenschlichen Handlungen der SCC auf den Leser überträgt und später die Verachtung. Sehr gute Geschichte.
Bernhard Schneider – Modulation
Der Professor Carlos lehrt an einer abgeschiedenen Universität Militärgeschichte, bis ihn ein Sonderkommando der amerikanischen Geheimdienste für eine ungewöhnliche Entdeckung anheuert. In einer irakischen Wüste wurden drei der größten Flugzeuge gefunden, die das Dritte Reich je gebaut hat. Carlos als Spezialist für die Nazi-Herrschaft soll herausfinden, was ihr Geheimnis ist – und woher sie die Atombombe haben …
»Modulation« ist die verschlungenste Geschichte an Bord. Carlos wollte nie wieder mit dem Militär zu tun haben und wird über Intrigen, die er erst spät durchschaut, zum Fundort gelockt. Schneider entwirft ein schockierendes »Was-wäre-wenn«-Szenario um das Dritte Reich und Gegenwart/Zukunft, bedient sich der allgemeingültig erscheinenden Schwäche der Menschen, vor allem des Militärs, für Massenvernichtungswaffen. Gebettet ist diese Geschichte in eine ungewöhnliche Idee über den Erstkontakt. Keine Alieninvasion auf herkömmliche Weise, sondern eine Invasion gefährlicher Ideen, und das Militär ist begeistert. Schneider schrieb eine hochspannende Geschichte mit einem herrlich düsteren und zweischneidigen Ende. Die beste Erzählung des Bandes.
Andrea Tillmanns – Am Ende der Reise
Die Jiaren sind photoaktive Wesen, intelligente und bewegliche Pflanzen, die von ihrer überbevölkerten Welt die lange Reise unternommen haben, um auf der Erde in friedlicher Koexistenz mit den Einheimischen zu leben. Sie verständigen sich über emotionale Bilder – und davon finden sie auf der Erde genügend unterschiedlichste Versionen. So knüpfen sie als Erstes Kontakt mit den friedlichsten und ihnen am ähnlichsten Wesen der neuen Welt – den Walen. Und beim Erstkontakt mit den Menschen bleibt ein schweres Missverständnis natürlich nicht aus.
Tillmanns erzählt über das Leben der Kinder an Bord einige Zeit so, dass man Menschen in ihnen vermuten könnte. Interessant gestaltet sie die absolut friedlichen Jiaren und ihr Umfeld, so dass sich keine Gewalt vorstellen lässt, die von ihnen ausgehen könnte. Umso deutlicher wird dann der Bruch, als die Jiaren auf das Militär treffen. Tillmanns lässt einen friedlichen Kontakt mit Walforschern entstehen und zerbricht das Glück an den ängstlichen, gewalttätigen und unverständlich agierenden Soldaten. Eine tragische, interessante und mit schönen Vorstellungen beladene Geschichte um den möglichen Erstkontakt, den die Menschen versauen.
Heidrun Jänchen – Fünfundneunzig Prozent
Haldor ist Simulator in einer zukünftigen Gesellschaft, die nach einer großen Katastrophe weit zurückgeworfen wurde und nun unter dem Diktat der Regierung steht. Simulatoren liefern aus ihren simulierten Welten Wahrscheinlichkeiten für die verschiedensten Prozesse der Welt, auch ihrer Bürger, und wohin die Handlungen führen. Sie sind das wichtigste Machtinstrument der Mächtigen. Und Haldor ist der Beste. Er verbringt jeden Augenblick seiner Freizeit in einer privaten Simulation, in der er nach dem Zeitpunkt sucht, wo in der Vergangenheit das Chaos begann und wie man es rückgängig machen kann.
Jänchen hat eine unangenehme Zukunft entwickelt. Kontrolle durch die Regierung und ihre Polizei, Intrigen unter den Mächtigen und gleichfalls unter den Bürgern, die sich Annehmlichkeiten verschaffen wollen; Manipulation in allen Schichten der Gesellschaft. Sie zeigt in Haldors Simulationen, was kleine Veränderungen für Auswirkungen haben können. Und sie lässt ihren Protagonisten trotz seiner Selbstaufgabe in die Suche als verletzlichen Menschen und Charakter erscheinen, dem sein eigenes Leben und das seiner Nächsten so wichtig ist, dass er sie über den Erfolg seiner Simulationen stellt. Menschlich. Die Auflösung bietet einen positiven Ausblick auf die Zukunft und betont den Wert des Einzelnen. Ein würdiger Abschluss des Buches.
Fazit: »LAZARUS« umfasst fünf unterschiedliche Erzählungen, die jede auf ihre Art für spannende Unterhaltung sorgt. Diese Sammlung hat es verdient, beachtet zu werden.
Broschiert: 196 Seiten
www.wurdackverlag.de
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