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Sterling, Bruce – Visionary in Residence. Erzählungen

Visionen der nahen Zukunft und der Vergangenheit

Die jüngste Erzählungssammlung des interessantesten amerikanischen SF-Autors der letzten 30 Jahre präsentiert 13 Beiträge. Bis auf zwei sind alle Storys für jeden deutschen Leser mit mittleren Englischkenntnissen leicht lesbar. Doch besagte zwei Storys haben es wirklich in sich.

– Die Story einer verbotenen Liebe
– Storys über Design und Architektur der nahen Zukunft
– Über das Ende der Welt und der Menschheit
– Über die Zukunft, die jetzt Vergangenheit ist: in Alt-Ägypten, in der Türkei und in Palästina
– Über die Zukunft des Schwarzen Kontinents
– Über die Zukunft des Silicon Valley
– Und vieles mehr.

Der Autor

Bruce Sterling, der Mitbegründer der Cyberpunk-Bewegung der achtziger Jahre, ist der Autor von neun Romanen, wovon er einen, „Die Differenz-Maschine“, zusammen mit William Gibson schrieb. Er veröffentlichte drei Storysammlungen (darunter „A Good Old-fashioned Future“) und zwei Sachbücher, darunter das bekannte „The Hacker Crackdown“ (1992) über die Verfolgung von Hackern und Crackern.

Er hat Artikel für die Magazine Wired, Newsweek, Fortune, Harper’s, Details und Whole Earth Review geschrieben. Den Hugo Gernsback Award für die beste Science-Fiction-Novelle gewann er gleich zweimal, u. a. für „Taklamakan“. Er lebt in der Universitäts- und Industriestadt Austin in Texas und hat schon mehrmals Deutschland besucht. Eine seine Storys spielt in Köln und Düsseldorf. Ich habe ihn 2007 persönlich in München bei einem Interview kennengelernt.

Die Erzählungen

1) In Paradise (2002)

Felix Hernandez, ein junger Klempner, sieht das Muslimmädchen das erste Mal an der Sicherheitsschleuse zum Gebäude, in dem er einen Auftrag erledigen soll. Während ihre zwei erwachsenen Begleiter – Vater und Onkel? – auf sie warten, fällt der Strom und ihr Akku streikt. Felix ist so nett, ihr den Akku seines eigenen Handys der gleichen Marke zu geben und erhält dafür ihren. Dabei merkt er sich nicht nur ihre Telefonnummer, sondern auch ihr wunderschönes Gesicht. Sein Herz ist entflammt.

Später ruft er sie wieder an und – oh Wunder der Technik – ihr finnisches Handy übersetzt seine poetische Liebeserklärung automatisch in Farsi, also die persische Sprache. So schöne Worte hat der 19-jährigen Perserin noch niemand gesagt, und sie ist bereit, mit ihm auszureißen. Zehn paradiesische Tage im Bett und am Handy folgen. Dann kommt die kalte Dusche, sozusagen die Schlange.

Ein Agent des Heimatschutzministeriums meint es gut mit Felix, doch seine zwei Begleiter vom iranischen Geheimdienst weniger. Enttäuscht darüber, dass das Mädchen nicht da ist, stellen sie Felix’ Wohnung auf den Kopf, bevor sie wieder abziehen. Der DHS-Agent macht Felix klar, dass das Mädchen, die Tochter eines Mullahs, sich illegal in den USA aufhält und alle Ausgänge und Transportwege sowie Kreditkarten überwacht werden. Der Agent schaltet sich später sogar in das Gespräch zwischen Felix und seiner Herzensdame ein – und schaltet per Fernsteuerung ihre Handys aus!

Nun ist guter Rat wahrlich teuer, doch wahre Liebe findet stets einen Weg, sogar in einer Republik der totalen Überwachung …

Mein Eindruck

Eine warnende und ironische Story über Liebe in Zeiten der totalen Überwachung. Wenn sogar die Handys per Fernsteuerung ausgeschaltet werden können (vom Abhören ganz zu schweigen), dann haben es Adam und Eva nicht leicht, der Schlange in ihrem Eden zu entkommen. Aber es geht – mit Hilfe primitiver Mittel, auf die die Agenten nie im Leben kommen würden.

Im Übrigen ist die automatische Sprachübersetzung im Handy durchaus eine Technik der nahen Zukunft, und die Fernabschaltung sowie Speicherlöschung lässt sich bereits heute bei vielen Smartphones und Handys realisieren.

2) Luciferase (2004)

Vinnie ist ein Leuchtkäferchen, das in der Nacht hell leuchtet. Jedenfalls solange es nicht gefressen wird, und diese Gefahr lauert überall. Da wäre beispielsweise sein alter Bekannter Peck, die Spinne. Peck ist hungrig, aber auch unglücklich. So ein einsamer Wolf hat’s eben nicht leicht bein den Frauen. Da ist der helle Vinnie schon besser dran: Die Frauen fliegen auf ihn! Nach ein paar Ratschlägen für Peck saust er weiter.

Auf einer Nesselblüte erspäht er eine kesse Braut, die ihn besonders hell anstrahlt. Zu spät erkennt er, dass es sich um eine Falle handelt. Sie ist eine Photuris, die auf das Fressen von Photinussen wie Vinnie spezialisiert ist. Zunächst balgen sie sich, doch dann herrscht Stillstand: Matt beide. Sie heißt Dolores und ist scharf ihn. Natürlich nur auf seine Fleisch. Aber er bringt ihr bei, dass es mehr gibt als nur fleischliche Gelüste, nämlich Kunst.

Als ein männlicher Photuris eintrifft, der von Dolores verlangt, sie solle Vinnie töten und ihm die Hälfte abgeben, weil er ja so toll ist, hat Vinnie ein ausgezeichnetes Ziel, um Dolores zu demonstrieren, was er meint. Dieser Geck ist ein Dampfplauderer – und gleich darauf ein Opfer von Peck, der Spinne …

Mein Eindruck

Man könnte die witzige Geschichte für eine Fabel halten, wenn sie bloß auch eine Moral hätte, Aber davon ist weit und breit nichts zu sehen. Vielmehr unterhalten sich die Tierchen so, als befänden sie sich in einer texanischen Bar (der Autor ist Texaner) über die Frauen, das Leben und den ganzen Rest. Das tun sie im typisch amerikanischen Umgangston. Vinnie behält die Oberhand, was uns richtig aufbaut – er ist ein authentischer Künstler, nicht wie die anderen Imitatoren und Epigonen. Möge ihm eine lange Nacht vergönnt sein!

Luciferase ist übrigens eine im Text vorkommende chemische Substanz, die der biologischen Lichterzeugung dient.

(3 kurze Stücke für die Zeitschrift NATURE)

3) Homo sapiens declared extinct (1999, „Menschen für ausgestorben erklärt“)

Im Jahr 2350 wird die Menschheit für ausgestorben erklärt – na und? Kein Grund sich aufzuregen, finden die posthumanen KIs und Entitäten, schon gar nicht die Blutbader in der Oort’schen Wolke, die seit jeher auf die „federlosen Zweibeiner“ herabgeschaut haben. Eine Grabrede wäre jedoch angebracht, findet die Poetware: „Sie waren sehr, sehr sonderbar und nicht sonderlich mit Weitsicht gesegnet.“

Mein Eindruck

Nicht gerade eine Story, aber wenigstens ein Nachruf auf die Menschheit. Allerdings erfahren wir nicht, was zum Aussterben des Menschen geführt hat.

4) Ivory Tower (2005, Elfenbeinturm)

Im Jahr 2050 stürzen sich die Net-Geeks auf das Gebiet der Quantenphysik – natürlich in ihrer typischen Manier. Erst googeln sie alles Wissen zusammen, speichern alles in Storage-Einheiten, tauschen sich in sozialen Netzwerken und Blogs aus. Schließlich errichten sie irgendwo in Rajastan, Indien, ihre eigene Forschungseinrichtung, einen Teilchenbeschleuniger. Ihre Programme sind Open-Source und kostenlos, ihre Hardware ist Abfall, ebenso wie die Technik, die sie für die Errichtung des Supercolliders nutzen. Ihr Essen ist ebenso recycelt wie ihre Möbel und alles andere.

Man sollte erwarten, dass eine derart auf Lösungen fixierte, geradezu mönchische Männergemeinschaft die Frauen abschrecken würde, aber weit gefehlt! Die Ladys finden die Sache cool und machen schon bald einen großen Teil der Kolonie aus – natürlich nicht unter den Physikern. Das war ja schon immer so. Und was nachts passiert, geht keinen was an.

Das Einzige, was man hier nicht haben will, sind Typen, die an der Atombombe forschen. Diese 100 Jahre alte Technik ist nun wirklich nicht cool.

Mein Eindruck

So ein moderner Elfenbeinturm ist auch nicht mehr das, was er mal war. Diesmal haben sich die Geeks die Hochtechnologie der Teilchenbeschleunigung vorgenommen, sozusagen den teuersten Bereich der Physik – siehe CERN bei Genf. Dass man solch eine Forschungseinrichtung auch ganz anders aufziehen kann als bisher, zeigen die modernen Geeks aus Kalifornien. Dass sie das erst 2050 tun sollen, ist das einzige Unwahrscheinliche an der Geschichte.

5) Message found in a bottle (2006)

Diese „Flaschenpost“ stammt aus dem Tank eines Warmwassersboilers aus einer Bibliothek in Schottland, gefunden unter dickem Eis. Geschrieben hat sie ein Klimawissenschaftler, der uns berichtet, dass er Wissenschaftsmagazine wie NATURE verbrannt hat, um heizen zu können. Denn über Europa ist durch den Treibhauseffekt nicht die Hitzewelle gekommen, sondern die Eiszeit.

Der Grund für die Eiszeit ist ebenso simpel wie tödlich: Die Wälder Russland und Brasiliens sind niedergebrannt und haben dabei Unmengen von Ruß und CO2 freigesetzt, so dass sich daraus eine dicke Wolkendecke ergab, die keinen Sonnenstrahl mehr durchlässt – ähnlich wie ein Nuklearer Winter. Deshalb gibt es in Schottland Eis, von Deutschland ganz zu schweigen. Der wärmende Golfstrom scheint völlig versiegt zu sein, wird aber nicht erwähnt.

Die geistige Verfassung der Überlebenden sieht jetzt offenbar so aus, dass der kleine Stamm, dem der Klimawissenschaftler angehört, inbrünstig zu Gott um Vergebung seiner Sünden betet. Ein bisschen spät, findet er. Denn die Sünden wurde ja schon weit in der Vergangenheit begangen, als man den Klimawandel noch hätte dämpfen können.

Mein Eindruck

Sterling ist ein Schelm: Er schrieb diesen Text für das Magazin NATURE und lässt doch den Urheber der Flaschenpost, Magazine wie NATURE verbrennen, um heizen zu können. Ein weiteres ungewöhnliches Merkmal dieses Textes ist die Theorie, dass uns der Klimawandel nicht die große Hitzewelle bringt, sondern die Eiszeit.

Diese Prophezeiung hat durchaus etwas für sich, wenn man die ungeheuren Rußmengen bedenkt, die das Abfackeln der Wälder des Amazonas, Indonesiens und der Taiga Russlands bedenken. Dieser Prozess hat bereits begonnen, wie im Sommer 2010 in Russland beobachtet werden konnte, als dort die Wälder brannten und über 1700 Kilometer hinweg den Himmel verdunkelten. Das gleiche Schicksal könnte das Amazonesbecken ereilen, das ja ebenfalls schon unter ein oder zwei Dürren hat leiden müssen – ungewöhnlich für eine so regenreiche Region.

Obwohl die „Flaschenpost“ mit 2,5 Seiten ziemlich kurz ist, bietet sie doch eine Menge Stoff zum Nachdenken.

6) The Growthing (2004)

Im Jahr 2045 steht irgendwo im ausgetrockneten West-Texas eine sehr sonderbare Anlage: Der einzige Ort weit und breit, wo sich Feuchtigkeit findet, denn sie wird von genetisch veränderten Bakterien im Treibhaus erzeugt, der Wind wird gefangen und die Feuchtigkeit im ganzen Wohngebäude verteilt. Die ganze blasenförmige Architektur erhebt sich über einem Brennstoffreservoir, dessen Hüter Milton ist, ein Architekt und Designer.

Heute ist der letzte Tag, an dem seine Tochter Gretel ihn besuchen darf, die sonst in New Jersey bei seiner geschiedenen Frau leben muss. Der Zeppelin holt sie ab, ohne zu landen. Aber wenig später taucht ein weiteres Mädchen auf, dem Gretel eine E-Mail geschickt hat. Dieses Mädchen gehört zu einem wandernden Stamm von Westtexanern, die Wasser suchen, und sie sucht das blasenförmige Gebäude Miltons. Hier will sie Schafe züchten. Milton ist nicht abgeneigt, den Stamm aufzunehmen.

Mein Eindruck

Die Zukunft von West-Texas, die der Texaner Sterling hier entwirft, ist wahrlich nicht wünschenswert: die unterirdischen Wasserläufe sind versiegt, ebenso das Erdöl (deshalb der Zeppelin), und deshalb muss es neue Wege geben, die geringen Ressourcen zu nutzen und neue zu erzeugen. Ganz nebenbei stellt er die Objekte seines Bekannten, des Öko-Architekten greg Lyn vor. Denn dieser Text wurde für das Architekturblatt „Metropolis“ geschrieben.

7) User-Centric (1999, „Benutzerorientiert“)

Das 21. Jahrhundert lässt eine bestimme US-Firma sich fragen, was sie mit der neuen MEMS-Technologie anfangen könne. MEMS sind heute besser als RFID-Funketiketten bekannt, also als Chips, die per Funk Daten liefern, empfangen und speichern können. Das siebenköpfige Designteam wird vom Chefkoordinator dazu angehalten, an den Nutzer zu denken: Welche Nutzung wäre welchem Nutzer am liebsten – und welche Vorteile könnte man daraus ziehen? Dazu muss man erstmal eine geschichte erfinden sowie zwei Nutzertypen – nennen wir sie Al und Zelda. Er ist etwa 34 und technikorientiert, sie ist über 65 und haushaltorientiert. Zusammen sind sie daran interessiert, alle ihre Besitztümer mit Funkchips zu versehen und zu überwachen.

Soweit, so schön, doch dann setzt der Autor den Entwurf in die fiktionale „Realität“ um. Al muss eine Maske aufsetzen, die ihn älter macht als seine Zelda. Sie hat zwar einen göttlichen und stark verjüngten Body, doch wer würde ihr den jungen Gatten abnehmen, wenn sie schon Enkelkinder hat? Er spielt den Sugardaddy, der sie aushält, aber nur mit Maske. Zusammen sorgen sie dafür, dass das Haus in Tiptop-Zustand ist und alles per Funkchips überwacht wird. Al verzweifelt, hat Albträume, doch Zelda tröstet ihn: Es gibt keine Happy-Ends, Lieber, es gibt nur Methoden, mit den Dingen fertigzuwerden.

Mein Eindruck

Das Brainstorming per E-Mail zeigt eine typische amerikanische Hitschmiede, komplett mit Marketing, Programmierer, Rechtsberater, Designerin, Grafikerin und sogar einer Sozialanthropologin. Doch der ganze Prozess führt lediglich zu einem Entwurf, dessen Absurdität und Inhumanität sich sofort anhand der fiktionalen Umsetzung zeigt. Das ist Satire in Reinkultur, ohne den belehrenden Zeigefinger zu heben. Die Botschaft ist deutlich: Wer im Elfenbein entwirft, braucht sich nicht zu wundern, wenn Müll herauskommt, den niemand kaufen will, ja, der sogar antihuman ist.

8) Code (2001)

Die Gegenwart, Austin, Texas. Louis, der Hauptprogrammierer der Softwarefirma Vintelix, hat den Löffel abgegeben: Herzinfarkt. Kein Wunder bei 150 Kilo Lebendgewicht, denkt sich Van, sein wichtigster Stellvertreter. Was soll er jetzt bloß mit der Leiche machen? Da tritt das Mädchen vom Empfang ein, Julie, sie denkt praktischer: Er soll die Cops rufen. Ach ja, und den Vorstandsvorsitzenden (CEO) informieren. Aber vorher durchsuchen sie noch Louis’ massiven Schreibtisch: Bingo – Tabletten von LSD, vulgo: Acid. Sie teilen sich die 400 Trips.

Der CEO gibt ihnen frei, aufgrund besonderer psychischer Belastung. So können sie sich per Webcam und Telefon unterhalten. Julia ist wagemutig. Wie viele Trips soll sie einwerfen – vier oder fünf? Van ist eher vorsichtig und vernünftig: einer dürfte erstmal reichen. Und tatsächlich: Schon bald schüttet ihm Julia ihr Herz aus. Und wie romantisch sie ist! Liest und empfiehlt Liebesratgeber. Sie wird richtig aufgedreht. Dann muss er ins Fitness-Studio. Als er zurückkehrt, steht sie vor seiner Tür. Klar darf sie mir reinkommen. Aber sie schlafen nicht miteinander. Noch nicht.

Am nächsten Tag befördert der CEO Van zum Chefprogrammierer, was zwar mehr Aktienoptionen einbringt und einen neuen, wertlosen Titel, aber auch mehr Arbeitsbelastung. Und der Code, den Louis hinterlassen, ist ein Tohuwabohu – sein Baby. Und keiner blickt da durch. Alles auslagern, nimmt sich Van vor, bevor ihm die zwei bestellten Ehe-Ratgeber geliefert werden. „The Code“ – wertloser Schmonzes, doch „The Rules“ ist bitter und grimmig, eine wahre Gebrauchsanleitung zur Selbstbehauptung der geplagten, unterdrückten Frau gegen das brutale Regime des Mannes.

Genau das Richtige, um ein neues Betriebssystem zu schreiben und Julia zu seiner wichtigsten Mitarbeiterin zu machen, auch privat.

Mein Eindruck

Die Story könnte direkt aus einem Kapitel von Douglas Couplands Klassiker „Mikrosklaven“ stammen, so exakt werden die Arbeitsverhältnisse in der Softwarefirma beschrieben. Aber dann kommt der praktische Sterling-Touch hinzu: Wie sich menschliche Beziehungen nutzbringend mit der Arbeit verbinden lassen. Arbeit und Liebe müssen einander nicht ausschließen, ganz im Gegenteil.

(Kollaborationen)

9) The Scab’s Progress (mit Paul Di Filippo, 2001)

Nach dem Zusammenbruch der planetaren Ökosphäre und der Ölindustrie mussten die Überlebenden andere Technologien finden, um erstens Ernährung sicherzustellen und zweitens Informationstechnik. In der Verbindung aus beiden Anstrengungen entstand die fortgeschrittenste Biotechnologie, die man sich vorstellen kann.

Natürlich haben auch die Halb- und Unterwelt sowie die semilegalen Selbständigen ihren Anteil an der „Immunosance“, wie die Gesamtheit aller Bio- und Gentechniker jetzt genannt wird. Fearon und Malvern sind zwei solche halblegale „Scabs“, und als Malvern an Fearons Tür klopft, herrscht Alarmstufe Rot: In dem Slum Liberty City am Rande von Miami ist ein Biotechlabor explodiert, das ihren Kunden gehörte. Sie müssen schnell hin, um zu retten, was noch zu retten ist, bevor die Cops und Behörden Asche daraus fabrizieren, um eine Kontamination der Umgebung zu verhindern.

Wie sich schnell zeigt, ist das interessanteste Objekt bei Mixogen die Chefin. Ihr Gehirn ist, wie man an dem angeschwollenen Schädel erkennen kann, genetisch aufgemöbelt worden. Sie entnehmen dem Gehirn eine Gewebeprobe und verduften, denn schon ist der erste Cop-Späher eingetroffen. Leider ist Fearons Labor nicht in der Lage, aus der Gehirn-DANN einen Sinn herauszulesen. Deshalb schlägt Malvern, den alten Kemp Kingseed zu konsultieren. Er lebt in einer aufgelassenen Erdölraffinerie, bewacht von seiner Riesenspinne Shelon (aus „Herr der Ringe“).

Kemp Kingseed erinnert die beiden Möchtegern-Genies an jene heroischen Zeiten, als Linux, Napster und Freenet erfunden wurden – lang ists her. Aber Kemp kann die Botschaft aus der Hirn-DANN der Mixogen-Chefin lesen, mit Hilfe eines entsprechenden Raben. Demzufolge wurde die wertvollste DNA des Planeten, nämlich die der letzten Wildtiere des im Chaos untergegangenen Kontinents Afrika, in einem geheimnisvollen Gebilde namens Panspecific Mycoblastula. Sie müsse sich in Sierra Leone befinden.

Weil Fearon die Datenverbindung zu seinem gentechnisch aufgemotzten Hausschwein Weeble offengelassen hat, konnte jedoch sein härtester Konkurrent, Ribo Zombie, alles, was der Rabe sprach, mithören. Mist! Wegen Fearons Blödheit könnte ihnen der Rivale den DNS-Schatz vor der Nase wegschnappen. Kemp, der alte Kämpe, beruhigt die beiden junge Biotechkämpfer: Sein Mann vor Ort erwartet sie bereits und werde ihnen helfen.

Fearon und Malvern machen sich auf in ein Wettrennen um einen Schatz, der in einer der unzivilisiertesten Gegenden des Planeten liegt: im Herzen der Finsternis, wo unbekannte Gefahren lauern …

Mein Eindruck

Die turbulente Novelle spielt in einer radikal veränderten Welt, die vielleicht aber nur 30 oder 40 Jahre entfernt liegt und beängstigende Umwälzungen ahnen lässt. Der Treibhauseffekt hat voll zugeschlagen, die Ölindustrie ist nur noch Erinnerung, dafür hat die Biotechnologie die Informationstechnik abgelöst. Vor diesem Hintergrund rackern sich unsere zwei wackeren Helden redlich ab, um sich über Wasser zu halten – obwohl: Fearon hat mit seiner Frau Tupper, einer reichen Erbin, wirklich das große Los gezogen.

Und dennoch will er alles aufs Spiel setzen? Auf der Jagd nach etwas, was der Leser nur als eine Art MacGuffin bezeichnen kann, begegnet Fearon nicht nur Fossilien wie Kemp Kingseed und dessen afrikanischem Klon Herbie Zoster, sondern, viel schlimmer, einem Despoten, der alle Albträume von afrikanischen Tyrannen in sich vereint: menschliche DNS ist kaum noch vorhanden, sondern dominiert von Ameisen-Erbgut, ebenso wie bei seinen Untergebenen. Denn wenn eine Spezies das aufgegebene Afrika erobert hat, dann ist es die Ameise. (Diese Idee erinnert an gewisse postviktorianische „Tarzan“-Abenteuer.)

Diese Welt ist post-human, aber auch post-natürlich – komplett überarbeitet von Biotechnologie, die aus dem Ruder gelaufen ist. Die einzigen, die damit noch gut zu Rande kommen werden, sind die Kinder von Fearon und Tupper. (Siehe dazu auch die schöne Geschichte über die Nekropole von Theben.) Ach ja – Ribo Zombie! Er hat seinen großen medienwirksamen Auftritt. Mehr darf darüber nicht verraten werden.

10) Junk DNA (mit Rudy Rucker, 2003)

Silicon Valley ist auch nicht mehr das, was es mal war: das Tal der vergoldeten Träume eines digitalen Goldrauschs. Selbst Leute mit Ideen müssen sich jetzt als sterbliche Angestellte ausbeuten lassen, klagt Janna Gutierrez, die informationelle Gentechnik studiert hat. Sogar ihr Dad muss sich in der Wetware-Industrie abrackern. Der einzige Freund, den Janna abzubekommen schien, war ein Koreaner – jedenfalls solange, bis dessen Mutter eine nordkoreanische Erbin als Braut anschleppte. Die Zukunft sieht trübe aus.

Da schneit Veruschka Zipkin aus St. Petersburg in Jannas Firma herein. Obwohl Veruschkas Angebot eines gemeinsamen Gentechnikprojekts abgelehnt wird, tut sie sich doch mit ihrer neuen Freundin Janna zusammen, um eine neue Firma aufzuziehen. Veruschka zieht bei Janna und ihrem Dad ein, und als sie entdecken, dass Dad eine halbe Million Dollar für seine Rente zurückgelegt hat, dauert nicht sehr lange, bis sie den Start einer eigenen Firma finanzieren können. Alle drei sind gleichberechtigte Teilhaber.

Veros Idee besteht in folgendem: Sie kann eine formbare Biomasse mit menschlicher DNS und dem patentierten Universellen Ribosom imprägnieren und auf diese Weise süße kleine Wonneproppen erschaffen, die beliebige Eigenschaften haben können. Mit Dads Hilfe lassen sich die „Pumptis“ färben und verformen, wie es dem Benutzer gefällt. „Tamagotchis“ und „Pokémons“ sind Hühnerdreck dagegen! Das beste ist jedoch, dass die benutzte menschliche Erbsubstanz nicht diejenige ist, die einen Menschen formen – das wäre ja illegal und unmoralisch – sondern aus den unterdrückten und ungenutzten Stücken des Erbguts besteht, wie der homo sapiens sie aus seiner Evolution übrigbehalten hat: Junk-DNS. Wie sich zeigt, wird diese Art der Neuschöpfung von den Behörden genehmigt.

Nach einem vielversprechenden Start durch Straßenverkauf, Mundpropaganda und virales Marketing kommt es allerdings zu fatalen Geschäftsfehlern: Die Qualität stimmt nicht, Betrüger und Raubkopierer schnappen sich die Ideen und Profite, schon bald steht die kleine Firma Magic Pumpkins vor dem Aus. Doch wer könnte ihnen aus der Patsche helfen, wenn sich kein Risikokapitalgeber dazu bereitfindet? Die Antwort besteht in Ctenephore Industries. Janna und Vero müssen sich verkaufen – und werden nach allen Regeln der Kunst über den Tisch gezogen. Ihnen bleibt die Aussicht auf ein Angestelltengehalt mit einem nichtssagenden Titel.

Haben sie das verdient, fragen sie sich. Niemals! Dieses Unrecht schreit nach RACHE. Und Veruschkas, stets die praktische und unverwüstliche des Dynamischen Duos, hat die Lösung: Gentherapie für die beiden Feinde, Revel Pullen und Tug Mesoglea. Und nach ein paar Wochen der Rekonvaleszenz ihrer Firma – die Pumptis können auch digitale Daten empfangen, senden und verarbeiten – ist der Moment der Vergeltung gekommen. Die Wirkung ist jedoch nicht ganz die erwartete. Junk-DNS folgt eben ihren eigenen Gestzmäßigkeiten …

Mein Eindruck

Keine Angst, dieses Märchen geht wie alle Märchen gut aus, nur eben nicht auf die erwartete Weise. Denn es ist ein Silicon-Valley-Märchen, in dem Valley-Träume auf eine Russin treffen, die Erfahrung mit der russischen Mafia hat. In Russlands Genetiker-Schwarzmarkt werden die Dinge etwas anders gehandhabt als im Goldenen Westen.

Die Novelle weiß den entsprechend beschlagenen Leser, der sich mit Biotechnologie, Genetik, Mathematik und Software auskennt, mit etlichen witzigen Einfällen zu erfreuen. Dazu gehört die Idee mit der Junk-DNS, dem Universellen Ribosom und den süßen kleinen Pumptis. Der Schauplatz San Francisco ist mir bestens vertraut: Wer es hier nicht schafft, um den neuesten technischen Schnickschnack zu erschaffen, der wird es weder an der Ostküste noch in Hongkong schaffen – das sind die Orte, auf die es heutzutage ankommt. (Von Europa ist kaum die Rede, außer eben als Veruschkas Herkunft.)

Richtig bizarr sind die Ideen, die den beiden Inhabern von Ctenophore einfallen. Der eine, Pullen, will eine Hochsicherheitszone für das bürgerliche Zuhause verwirklichen; der andere will berührungsempfindliche Geldnoten entwickeln, die von ihren Benutzern DNS-Proben nehmen – wunderbar in der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung, oder? Zu blöd, dass heute kaum noch mit Geldscheinen bezahlt wird.

Der groteske Höhepunkt der Entwicklung, dem Janna mit Grausen entgegensieht, besteht in der Gentherapie für Tug und Revel, die beiden vermeintlichen Feinde. Hier zeigt die Junk-DNS, was sie wirklich draufhat. Mehr darf hier nicht verraten werden, um nicht das Vergnügen zu schmälern. Rudy Rucker, von Haus aus Mathematiker, lässt aber auch die Sau raus, und das gibt der Story eine unverwechselbare Note. Ich habe sie mit großem Spaß gelesen.

(Historische Fiction)

11) The Necropolis of Thebes (2003)

Am Westufer des Nils liegt die Totenstadt von Theben, und der alte Shabti-Figurenschnitzer Apepi fährt mit einem Streitwagen zum Pharaonengrab, um es wie stets seines Metalls zu berauben. Denn Apepi ist zum Steuereintreiber der Eroberer, der Hyksos, ernannt worden und muss sein Soll erfüllen. Da sein Volk aber schon längst bis zum letzten ausgequetscht ist, muss er nun auch die Toten berauben.

Das Gold ist längst fort, ebenso das Silber, aber die Shabti-Figuren wird er niemals anrühren. Nicht nur, weil sonst der Pharao niemanden hat, der ihm Jenseits dient, sondern weil die Hyksos für die ägyptischen Totenriten nur Verachtung übrig haben. Und eines Tages wird Apepis Sohn eine Shabti-Figur schnitzen, die einen Wagen und seinen Lenker zeigt und dann …

Mein Eindruck

Die Erzählung ist ein Beispiel dafür, wie der Zukunftsschock den Historiker getroffen hat, sagt der Autor in seiner Anmerkung. Die historische Erzählung zeigt nicht nur dies, sondern den Weg, wie man den Zukunftschock, den die Hyksos bedeuteten, durch eine neue Generation Kinder überwindet: Sie kennen nichts anderes. Und sie werden die neue Technologie der Eroberer dereinst gegen sie verwenden (und so geschah es auch).

12) The Blemmye’s Stratagem (2005)

Im Heiligen Land ist Jerusalem gefallen, und Saladins Krieger jagen die Kreuzritter, bis diese sich nur noch in ihren Festungen verkriechen können. Der Oberste der Assassinen, der Alte vom Berge, trägt seinen Teil dazu bei, die Christen zu verjagen, die fast 90 Jahre lang Palästina besetzten. Deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass seine engste Vertraute eine Christin ist, die Äbtissin Hildegart. Sie ist nicht nur das Oberhaupt des Ordens der Hospitaller (nicht der Templer), sondern auch eine Kauffrau, die Investitionen von Sevilla bis Sumatra ihr Eigen nennt. Mit Zahlen kann sie viel besser umgehen als Sinan, der Assassine, doch der bessere Poet ist sicherlich er.

Beide stehen in Diensten jenes seltsamen Diplomaten und Kaufmanns, der ihnen vor vielen Jahrzehnten den Trank des langen Lebens zuteilwerden ließ: der Blemmye. Gerüchte besagen, dieses Wesen komme aus dem afrikanischen Königreich von Prester John. Es trägt keinen Kopf, sondern sein Gesicht im Oberkörper, mit Augen, Nase und Mund. Da es nicht sprechen kann, schreibt es alle Botschaften auf, und Hildegart ist die beste Leserin dieses Gekritzels. Mit seinen ausgedehnten Handelsniederlassungen verständigt sich der Blemmye per Brieftaube, genau wie es seine Diener Hildegart und Sinan tun.

Das Ende des Alien

Er hat sie zu sich gerufen, denn sein Ende sei gekommen, schreibt er. Was seine zwei Diener verstört, ist der Befehl, die Pferde zu töten – sie hätten dann kein Mittel mehr, aus der Wüstenei am Toten Meer, wo der Blemmye seine Oase geschaffen hat, wegzukommen. Doch das Rätsel wird gelöst, als er ihnen offenbaren will, was ihn all die Jahre hier gehalten hat: seine Geliebte von den Sternen und ihre Brut. Sie hat das Zeitliche gesegnet, doch ihre Brut vermehrt sich – unter anderem durch Futter in Form von Pferdefleisch. Hildegart traut sich nicht ins Innere der Bruthöhle, doch Sinan beschreibt es als eine Art Hölle, voller Skelette und Dämonen. Dämonen mit Panzern, scharfen Zangen und giftigen Schwänzen. Nach dieser Enthüllung seiner außerirdischen Herkunft begibt sich der Blemmye in die giftigen Wasser des Toten Meeres zum leeren Panzer seiner Geliebten.

Aber Hildegart hat ein gefährliches Problem erkannt: Die Dämonenbrut werde sich über die Erde verbreiten, sollte man ihr nicht Einhalt gebieten. Sinan ist ganz ihrer Meinung. Er kennt die alte Sage vom König, der zuließ, dass ein Schachbrett mit einer sich verdoppelnden Menge von Reiskörnern bedeckt wurde. Für das letzte Feld des Bretts wurde das ganze Königreich geplündert. Eine letzte Schlacht soll die Dämonenbrut vernichten. Doch wer wird sich bereitfinden, solch einen Kampf zu wagen? Eigentlich bloß die verzweifelten Glücksritter unter den Kreuzfahrern, oder? Aber Sinan hat einen Trumpf im Ärmel …

Mein Eindruck

Auf gänzlich unerwartete Weise behandelt der Autor in dieser Novelle das Problem des Fremden und des Fremdlings. Im Heiligen Land treffen die unterschiedlichsten Völkerschaften aus Okzident und Orient aufeinander, ohne einander zu verstehen. Und doch gibt es abseits der Schlachten und Gemetzel eine funktionierende Infrastruktur für die Telekommunikation: Brieftauben. Sie gehören dem Blemmye und seinen zwei Dienern. Sie ermöglichen Handel und Reichtum trotz des Krieges. Und dabei stört es gar nicht, dass der Blemmye ein Außerirdischer ist. Er kann sich immerhin wie ein Mensch verständigen.

All dies ändert sich mit dem Ende des Aliens. Der Handel bricht zusammen, die Investitionen lösen sich in Luft auf, die Ernten werden vernichtet und so weiter. Offenbar hat er geahnt, was der Welt fehlt. Kein Wunder, denn er ist selbst vor einem Krieg mit einer Alienrasse zur Erde geflohen, und seine Geliebte gehörte eben dieser Rasse an, quasi wie Romeo und Julia. Doch ihre Dämonenbrut, die eine Metapher für den fehlenden Frieden darstellt, droht nun die Welt zu verschlingen. Es liegt nahe, dass die Sachwalter des Blemmyes die Aufgabe ihrer Vernichtung übernehmen, damit der Erde wenigstens die Heimsuchung der gefräßigen Aliens erspart bleibt.

Die Erzählung ist leicht zu lesen, aber es lohnt sich, die Geschichte des Heiligen Landes und der Kreuzzüge wenigstens rudimentär zu kennen, um die zahlreichen Namen zuordnen zu können. Erstaunlich, welche detaillierte Sachkenntnis der Autor an den Tag legt, der doch früher für abegfahrene SF-Ideen bekannt war. Die Story unterhält selbst den SF-Freund und ist spannend bis zum Schluss.

13) The Denial (2005, „Die Leugnung“)

Die Türkei im 15. oder 16. Jahrhundert, nur wenige Jahrzehnte nach der Eroberung Konstantinopels. In Yusufs kleiner Stadt leben Muslime neben Juden, Katholiken und orthodoxen Christen friedlich zusammen. Nur die Gnostiker, christliche Ketzer, wurden in die Berge getrieben und fristen ein kümmerliches Dasein.

Als eine große Flut das Dorf überschwemmt, gelingt es Yusuf, den Fassmacher, seine Kinder auf den höhergelegenen Grund von Onkel Mehmets Hütte zu bringen und so zu retten. Doch seine Frau hat ihm den Gehorsam versagt und wurde von den Fluten mitgerissen. Er findet sie danach im Uferschlamm und bringt sie zurück ins Dorf. Dort schlägt sie plötzlich Augen auf und ist wieder quicklebendig. Sofort macht sie sich an den Wiederaufbau des Hauses und seines Unternehmens.

Doch Yusuf wird trotz des erneuten Aufschwungs immer unglücklicher. Diese Frau ist offensichtlich nicht seine Frau, denn die erste Frau war eine zeternde Furie, diese aber ist sanft und lieb wie ein Lämmchen. Diese Frau hier muss eine Wiedergängerin sein. Was ist zu tun? Nur der jüdische Rabbi weiß Rat: Yusuf soll die Gnostiker in den fernen Hügeln aufsuchen. Sie sind die einzigen, die sich mit Geistern auskennen.

Nachdem ihm der Pastor der Bogomil-Familie erklärt hat, wie der gnostische Glaube aussieht, rät er ihm, seiner Frau einen Pflock durchs Herz zu treiben. Das lehnt Yusuf kategorisch ab. Der Pastor erklärt, wie es sich mit der Trennung von Körper und Seele verhält und gibt ihm einen Talisman: eine hölzerne Handfessel.

Nach seiner Rückkehr führt Yusuf seine Frau auf den Gottesacker, der einzige Ort, wie sie ungestört sind. Er legt ihr die Fessel an, die sie wie verbrannt wieder abstreift – ein gutes Zeichen. Aber er legt sie sich aus Trotz ebenfalls an: keine gute Erfahrung. Denn nun schwant ihm, was er längst hätte erkennen müssen und was ihm seine tote Frau nun wütend unter die Nase reibt: Er ist nämlich in jener Flut ebenfalls gestorben. Tja, und wie kommen sie aus diesem Schlamassel wieder raus?

Mein Eindruck

Ist dies eine Geistergeschichte, fragt man sich. Möglicherweise, denn um Magie geht es ebenfalls. Aber die Wahrheit liegt tiefer: Das eigentliche Thema ist nämlich die Entfremdung von einer Unperson, die man nicht als sich selbst zugehörig wahrnimmt. Diese Entfremdung kann in tödlichen Hass umschlagen, wenn die richtigen Faktoren und Mittel hinzukommen. Aber hätte Yusuf einmal sein Herz erforscht, dann hätte er den Splitter im eigenen Auge erkannt – dass er genauso ist wie seine Frau.

Unterm Strich

Diese Erzählungssammlung des bekannten Autors und Beraters umfasst eine große Vielfalt von Themen und Stilen, aber die verschiedenen Sektionen sind folgerichtig aufgebaut. Von „Science Fiction“ geht die Fahrt zu „Fiction about Science“ und „Fiction for Scientists“. Danach widmet sich Sterling seinen Interessensgebieten, insbesondere Architektur und Design.

Nach einer Verschnaufpause im Mainstream dreht er jedoch voll auf: „Cyberfunk to Ribofunk“ heißt die Überschrift für seine zwei großen Kollaborationen mit den Kollegen Paul Di Filippo und Rudy Rucker. Diese zwei Storys sind sowohl in der Sprache als auch hinsichtlich ihres geistigen Hintergrunds höchst anspruchsvoll für den deutschen Leser.

Lediglich ihr Plot und ihre Aussage könnte simpler nicht sein. „The Scab’s Progress“ schildert eine Expedition in ein zukünftiges Afrika, und „Junk DNA“ ist ein Märchen über die biotechnische Zukunft des Silicon Valley, das bis dahin schon seine besten Tage gesehen hat. Auch wenn dies die beiden sprachlich anspruchsvollsten Texte der Sammlung sind, so haben sie mir doch am meisten Spaß gemacht: das Vergnügen des Intellektuellen an abgefahrenen Ideen.

Die letzte Sektion trägt den Titel „The Past Is a Future That Already Happened“. Hier finden sich also Erzählungen über die Vergangenheit. Neben der Geschichte über Apepi und Yusuf beeindruckte mich besonders die Novelle über die Kreuzfahrerzeit, in der ein Alien eine offenbar segensreiche Role spielt. Die Aussage lautet mehr oder weniger, dass richtig organisierte Kommunikation für ein gewisses Maß an Frieden sorgt. Ganz gleich, ob diese Kommunikation von einem unabhängigen Fremdwesen oder von einem parteiischen Menschen organisiert wird.

Unterm Strich liefert die Collection dem SF-Interessierten und dem, der neugierig auf neue Ideen ist, einen bunten Strauß von meist gelungenen Erzählungen, in denen Unterhaltung, Einfallsreichtum und vor allem Humor und Menschlichkeit (sogar bei Leuchtkäferchen) spannend und anrührend präsentiert werden. Obwohl der Preis mit 16 US-Dollar ziemlich hoch ist, so habe ich doch den Kauf zu keiner Zeit bereut.

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Taschenbuch: 294 Seiten
Originaltitel: Visionary in Residence
ISBN-13: 978-1560258414

_Bruce Sterling bei |Buchwurm.info|:_
[„Inseln im Netz“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=736
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E. F. Benson – Der Mann, der zu weit ging. Gruselgeschichten

benson-mann-cover-kleinEin Großmeister der ‚kurzen‘ Phantastik belegt mit 15 Gespenstergeschichten aus den Jahren 1904 bis 1934 einmal mehr den hohen Rang der klassischen britischen Phantastik. Die einfallsreichen Untaten rächender Geister und anderer Spukgestalten werden in feiner, nie überkandidelter Prosa dargeboten und bilden einen zeitlosen, ebenso intellektuellen wie sinnlichen Genuss.
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Simak, Clifford D. (Hg.) – Theodore Sturgeon: Der Bonsai-Mensch und andere Nebula-Preis-Stories Nr. 3

_Inquisition und der Besuch von Dr. Death_

Dieser |Moewig|-Auswahlband enthält mit dem |Nebula Award| ausgezeichnete und dafür nominierte Science-Fiction-Storys aus dem Jahr 1970, darunter Erzählungen von Theodore Sturgeon, Gene Wolfe, Fritz Leiber und Joanna Russ.

_Der Herausgeber_

Clifford D. Simak (1904-1988) ist einer der großen alten Meister des Science-Fiction-Genres. Obwohl er von 1929 bis 1976 als Journalist für Zeitungen arbeitete, konnte er ab 1938 mit einfallsreichen und gefühlvollen Erzählungen und Romanen einen festen Leserstamm gewinnen sowie mehrere wichtige Genre-Preise einheimsen. Und das selbst dann noch, als er schon 77 Jahre alt war.

Sein Schauplatz ist fast immer das ländliche Wisconsin, sein hauptsächlicher Protagonist ein alter weiser Mann, der sich durch Toleranz gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, und seien sie auch so verschieden wie Aliens. In „Way Station“ (1963) spielt ein alter Farmer Bahnhofsvorsteher für eine Durchgangsstation von Außerirdischen. Aber manchmal liegt auch Melancholie über seinen Erzählungen, so in dem Episodenroman „City“ (1952), dessen einzelne Storys darauf beruhen, dass sich Roboter und intelligente Hunde an die verschwundenen Menschen, ihre einstigen Herren, erinnern.

Lustig und verrückt sind seine Slapstick-Romane „The Goblin Reservation“ (1968) und „Out of their minds“ (1970). Simak kann man immer lesen, ganz gleich in welcher Generation, meint das „Heyne SF Lexikon“, und das ist absolut zutreffend, denn mit Computern oder Gentechnik hatte Simak wenig am Hut. 1976 erhielt Simak von seinen Kollegen, den „Science Fiction Writers of America“ (SFWA) den |Grand Master Nebula Award| für sein Lebenswerk. Es sollte noch zwölf weitere Jahre und einige Romane mehr dauern, bis er sich endgültig zur Ruhe legte.

_Die Erzählungen_

1) _Theodore Sturgeon: Der Bonsai-Mensch_ (Slow sculpture)

Eine junge Frau ohne Namen lernt einen kuriosen Mann ohne Namen kennen. Er ist Ingenieur und hat das Elektroskop erfunden, mit dem er auch den Gesundheitszustand von Lebewesen untersuchen kann. Dass er in seinem Haus der Kunst der Pflanzenveredelung durch Bonsai frönt, macht ihn ihr sehr sympathisch, doch die junge Frau hat Angst, dass er sie noch mehr über den Knoten in ihrer Brust, von dem sie ihm unbedacht erzählt hat, fragen wird. Es stellt sich heraus, dass er sie nicht danach fragen, sondern sie davon heilen will. Mit einer einfachen Injektion!

|Mein Eindruck|

Es geht um also um Bonsai und ein Krebsheilmittel, eine zunächst unwahrscheinlich klinge Kombination. Doch Sturgeons Geschichten sind selten konventionell und stets kommt darin seine Liebe zu Außenseitern zum Ausdruck. Der Ingenieur ist ein solcher Außenseiter, denn man hat seine Erfindungen erst gekauft und ihn dann in die Wüste geschickt. Wer würde ihm wohl jetzt glauben, dass er Krebs heilen kann? (Das genaue Verfahren wird im Text beschrieben, aber es hier wiederzugeben, würde zu weit führen.)

Aus diesem Grund misstraut er auch der jungen Frau. Wird sie ihn nicht ebenso verraten wie all die anderen dort draußen? Eine Krebsheilung kommt ja einem kleinen Wunder gleich, und dieses will die Welt stets haarklein erklärt haben, damit es keines mehr ist und die Menschen daran glauben können. So als ob es erst einer Autorität bedarf, die das Wunder absegnet. Wie kleingläubig doch die Menschen sind!

Sie hingegen will ihm nur danken. Sie hat den Glaubenssprung bereits getan, und auch wenn der Knoten erst in zwei Wochen verschwunden sein mag, so werde sie ihm doch bereits danken. Und sie hat ihm selbst ein Geschenk zu machen. Wie man einem Menschen zu vertrauen lernt, nämlich so, wie man einen Bonsaibaum dazu bringt, in die Richtung zu wachsen, die man sich wünscht: durch Toleranz und Fürsorge.

Wie viele von Sturgeons Storys weist auch diese mit dem NEBULA ausgezeichnete Erzählung keinerlei Action auf, bewegt aber deswegen umso im menschlichen Bereich. Wundervoll.

2) _Keith Laumer: In der Schlange_ (In the queue)

Hestler hat fast sein ganzes Leben in der Warteschlange verbracht, doch heute erreicht er sein Ziel: das Fenster! Er hat sein eigenes fahrbares Zelt aufgebaut, um die jahrelange Wartezeit überstehen zu können. Seine Verwandten warten schon darauf, dass er vorankommt und seine Formulare in zwölffacher Ausfertigung abgibt.

Zum Glück ist keiner von ihnen gestorben, so wie es dem armen Kerl zwei vor ihm ergeht. Er muss gehen, um jede Menge Genehmigungen und Bestätigungen einzuholen – und darf wahrscheinlich jahrelang warten, bis er wieder an der Reihe ist. Manche bringen sogar ihr ganzes Leben in der Schlange zu. Platzspringer werden nämlich gnadenlos rausgeworfen, abgeführt, bestraft. Dafür sorgen nicht nur die Reihenpolizisten, sondern die Schlangesteher selbst.

Endlich ist Hestler alle seine Formulare losgeworden, es gibt nicht eine einzige Beanstandung – ein Wunder! Er ist frei, erst 47 Jahre alt und könnte nun tun, was ihm beliebt. Doch was soll er nur mit all der vielen Zeit anfangen …?

|Mein Eindruck|

Der Leser kommt sich vor wie in einer jener absurden kleinen Storys von Philip K. Dick, wenn die Maschinen zu diskutieren anfangen und irgendwelche Rituale ausführen. Laumer hat lediglich das Phänomen des Schlangestehens genommen und es bis zur Absurdität vergrößert und verallgemeinert. Nun besteht das ganze Leben aus Schlangestehen, denn es gibt für alle Bürger nur ein einziges Amt, und dieses stellt nur ein einziges Fenster mit einem Mitarbeiter zur Verfügung.

Doch das Schlangestehen ist wie das Leben selbst voller Dramen. Dass das Schlangestehen an sich falsch sein könnte, auf diese Idee kommt jedoch niemand – dafür hat die Regierung schon gesorgt, indem sie entsprechende Gesetze erließ. Diese Regierung ist offenbar nicht jene, die in Zeiten der Großen Depression Suppenküchen bereitstellte, um die Armen zu speisen, sondern eine, die mehr den Ruch des Sozialismus verströmt.

Das ist natürlich für Amerikaner ein Unwort und wirft die Frage auf, auf welcher politischen Seite der Autor eigentlich steht. Durch die überspitzte Darstellung der Warteschlange gibt er das unamerikanische Phänomen der Kritik preis. Und wenn dieses Phänomen sozialistisch ist, so steht der Autor wohl rechts von der Mitte, vielleicht auf Seiten der Republikaner, die schon immer auf die Yankee-Tugend des Do-it-yourself gesetzt haben.

3) _Gene Wolfe: Dr. Deaths Insel und andere Geschichten_ (Dr. Death’s island and other stories)

Tackman Babcock ist vielleicht acht oder neun Jahre alt, als ihm sein großer Bruder Jason einen Schundroman kauft: „Dr. Deaths Insel“. Darin besitzt Dr. Death eine Insel in der Gegend von Indonesien und führt dort schreckliche Experimente durch. Diese dienen dazu, die Intelligenz von Tieren auf menschliches Niveau zu bringen und den Tieren das Sprechen beizubringen. Tiermenschen, das ist es, was der Gestrandete, Captain Philip Ransom, hier antrifft, und er ist davon nicht sonderlich erbaut. Als Dr. Death ihn gefangen nimmt und ihm an der schönen Gefangenen namens Talar von Lemuria demonstriert, was er mit ihm vorhat, bahnt sich eine Katastrophe an …

Tackies Mama bekommt Besuch von Dr. Black, einem Mediziner, und von Tackies beiden Tanten Julie und May. Tackie lernt Philip Ransom und Dr. Death kennen, doch das ist noch gar nichts gegen die Kostümparty am nächsten Abend. Talar von Lemuria, die an Ransoms Arm den kleinen Tackie entdeckt, ist nur mit einem Haufen Schmuck bekleidet, und Dr. Death lauert in der Ecke, um Tackie ein schreckliches Schicksal anzudrohen.

Als Tackie bei seiner Mutter Trost vor diesen Schrecken sucht, sieht er, wie Dr. Black etwas in Mutters Armbeuge spritzt. Er läuft zur Nachbarin und die ruft die Polizei zu Hilfe. Wollte Dr. Death seiner Mutter etwas antun, fragt sich Tackie bang. Wird er sie verlieren? Werden die Tiermenschen erscheinen? Wo ist Captain Ransom, wenn man ihn braucht?

|Mein Eindruck|

Diese wundervolle Story verpasste den |Nebula Award| nur um eine Stimme, die falsch abgegeben wurde. (Das war eine wahrlich denkwürdige Abstimmung, die in die Annalen einging!) Sie gehört zu einer Triologie aus Erzählungen, die alle mit den Substantiven Doktor, Tod und Insel spielen, so etwa „Der Tod des Dr. Island“ (dt. bei Heyne, Band 06/3674).

Die Story weist Gene Wolfe nicht nur als einfallsreichen und frechen Erzähler aus, sondern auch als gewieften Stilisten. Während Tackies Geschichte in der Du-Perspektive und im Präsens erzählt ist, bleibt die eingeschobene Schundromangeschichte dem gewohnten Präteritum aller Schundromane verhaftet. Auf diese Weise sind die zwei inhaltlichen Ebenen grammatisch sofort erkennbar.

Allerdings vermischen sie sich inhaltlich in der Partyszene, wie oben angedeutet, und zwar auf eine geradezu phantasmagorische Weise, als wandle Tackie zwischen Realitätsebenen hin und her. In seinem Erleben sind Schundroman und eigene Realität miteinander verwoben, weil er sie nicht unterscheidet. Dadurch kommt es zu einer Überlagerung der Realität durch die angelesene Fiktion, die zu einem Irrtum führt. Denn Dr. Black ist keineswegs ein Dr. Death, sondern will Tackies Mutter helfen. Aber der Irrtum deckt Mutters Krankheit auf, und Tackie muss ins Waisenhaus.

Dass der Schundroman eng an den mehrfach verfilmten H. G. Wells‘ Klassiker „Die Insel des Dr. Moreau“ angelehnt ist, dürfte jedem Kenner sofort auffallen. Durch seine Behandlung dieses Vorbilds erreicht Wolfe mehrere Ziele: a) Wells wurde für Schundromane missbraucht – eine Textkritik; b) Schundromane können die Phantasie kleiner Jungs ganz schön anheizen und dabei zu ungeahnten Ergebnisse bei der Interferenz mit der Realität führen – eine Wahrnehmungskritik. Sollten also Schundromane generell kleinen Jungs verboten werden – eine moralisch-ethische Frage, der sich der Autor durch seine Ironie entzieht und dem Leser die Entscheidung überlässt.

4) _Fritz Leiber: Verhängnis in Lankhmar_ (Ill met in Lankhmar, NEBULA)

Dies ist das erste Abenteuer, das das berühmte Abenteurerpaar [Fafhrd und der Graue Mausling 2340 gemeinsam besteht. Nachdem sie zwei Angehörigen der Diebesgilde von Lankhmar Juwelen abgenommen haben, verteilen sie die Beute an ihre jeweiligen Freundinnen Vlana und Ivriana. Doch durch ihre Tat haben sie sich den Zorn der Diebesgilde zugezogen, und deren Großmeister Kovras veranlasst seinen Zauberer Hristomilo, das Werk der Rache auszuführen.

Weil die beiden Damen ihre Freunde der Feigheit vor den Dieben geziehen haben, ziehen die beiden Gefährten los, um das Haus der Diebe auszukundschaften. Sie machen unangenehme Bekanntschaft mit Hristomilo und Kovras, können jedoch über die Dächer entkommen. Als sie Mauslings Heim wieder erreichen, erwartet sie ein schrecklicher Anblick: Ratten haben die beiden Herzensdamen angefressen. Die Rache der beiden Gefährten ist furchtbar und folgt auf dem Fuße …

|Mein Eindruck|

Wie man sieht, fallen die Abenteuer von Fafhrd und dem Grauen Mausling in das Genre der |Sword and Sorcery|, also Schwerter und Zauberei. Fritz Leiber begründete mit diesen rund sechs Büchern, die zahlreiche Erzählungen umfassen, einen separaten Zweig innerhalb der Fantasy, der einerseits im Verbrechermilieu angesiedelt ist, andererseits viel mit Magie zu tun hat. Später baute hierauf die Shared-World-Serie „Die Diebe von Freistatt“ auf, die einigen AutorInnen ein gutes Auskommen verschaffte (dt. bei |Bastei Lübbe|).

Die Abenteuer sind stets abwechslungs- und actionreich, doch die Helden werden selbst ebenfalls überlistet. Das farbenfrohe Milieu ist angelehnt an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, doch die Magie entstammt dem finsteren Mittelalter Europas. Hier lassen sich in der Tat sehr vielfältige Plots ansiedeln. Einen brachialen Conan wird man hier aber nicht antreffen, denn für einen solchen Muskelprotz ist neben Fafhrd und dem Graue Mausling, zwei gewitzten Streunern, kein Platz.

Die Übersetzung ist an manchen Stellen holprig und sogar irreführend (sie verwechselt Vlana mit Ivrian). Ich empfehle daher die Version in dem Sammelband „Schwerter im Nebel“ (|Heyne| 06/4287).

5) _R. A. Lafferty: Fortsetzung auf dem nächsten Stein_ (Continued on next rock)

Dies ist die Story von der wahrscheinlich verrücktesten Archäologenexpedition der Literaturgeschichte. Fünf Archäologen finden sich über dem Green River im Nordwesten der USA zu einer Grabung ein, doch das fünfte Mitglied, Magdalen, ist nur eine Hilfsarbeiterin. Ihre hellseherischen Fähigkeiten verblüffen die anderen immer wieder. Sie weiß, wo ein bestimmtes Stück Wild zu finden ist und dergleichen. Nicht genug damit, nun taucht auch noch ein alter Mann auf, der sich Anteros (= Gott der unerfüllten Liebe) Manypenny nennt und weiß, wo in der geheimnisvollen Felsnadel, an der sie graben, ein bestimmtes Artefakt eingeschlossen ist. Merke: Er kann in den Fels hineinsehen!

Nicht genug damit, beginnen die gefundenen Artefakte eine Geschichte zu erzählen, und da sie auf drei Objekten – aus verschiedenen Zeiten, wohlgemerkt – stehen, steht jeweils am Ende ein mysteriöses Zeichen. Es ist natürlich Magdalen, die es als „Fortsetzung folgt auf dem nächsten Stein“ interpretiert. Die Geschichte besteht aus den Angeboten eines reichen Mannes an eine Angebetete oder an einen Gott, der mit seinem Reichtum prahlt und wirbt.

Die Archäologen sind konsterniert, um es gelinde auszudrücken. Aber es scheint eine enge Verbindung zwischen Geist und Stein zu bestehen. Die Analogie wird weitergetrieben. Als die Felsnadel durch eine Explosion zerstört wird, verschwinden erst Anteros, dann Magdalen, schließlich auch die Erinnerung an die beiden. Als eine Statue aus der Felsnadel geborgen wird, die wie Anteros aussieht, wundern sich alle. Ob hierauf wohl die Geschichte der Indianer fortgesetzt wird?

|Mein Eindruck|

Der Amerikaner Raphael Aloysius Lafferty ist ja bekannt für seine ungewöhnlichen Ideen und Erzählweisen, und diese seine Story stellt selbst den SF-Leser vor Herausforderungen. 1914 in Iowa geboren, arbeitete er 35 Jahre lang als Elektriker. Erst mit 45 Jahren begann er zu schreiben und hatte auf Anhieb Erfolg. Mit seinen geistreichen Schnurrpfeifereien gewann er die Gunst der Leser und 1973 sogar den bedeutenden |Hugo Gernsback Award|.

In dieser Erzählung bekommen wir so ganz nebenbei die Archäologie der indianischen Völker Mittel- und Nordamerikas mitgeteilt, aber nicht etwa trocken und akademisch, sondern mit Leben und Bedeutung erfüllt. Obendrein handelt es sich um eine witzige Geistergeschichte, wie das Auftauchen von Anteros und Magdalen belegt. Magdalen lässt einen der Forscher, Robert, abblitzen, als er ihr Avancen macht. Dass es erotische Spannungen gibt, wird nur unterschwellig, durch die Blume, mitgeteilt, aber man kann diese Hinweise finden.

Die Story mag vielleicht keinen offensichtlichen Sinn ergeben, aber einen symbolischen. Setzt man Schichten des Geistes (inkl. Unterbewusstsein, Gedächtnis usw.) und geologische Schichtungen gleich, dann ergeben sich daraus zahlreiche Folgerungen. Diese spielt Lafferty wortwörtlich durch. Auf einer übertragenen Ebene wird hier also Bewusstseinesarchäologie betrieben.

6) _Harry Harrison: Am Wasserfall_ (By the falls)

Der Reporter Carter besucht den Mann Bodum, der seit vierzig Jahren am Wasserfall lebt. Der Wasserfall ist so groß und so breit, dass niemand ihn je überwunden hat. Und er donnert derart laut, dass Carter schon nach wenigen Minuten fast taub ist. Bodum jedenfalls hat sein Gehör schon fast gänzlich eingebüßt, und so muss Carter brüllen, um sich verständlich zu machen.

Das stabile Haus steht direkt an einer Klippe neben dem Fall, und durch das vibrierenden Panzerglas der Fensterscheibe kann Carter auf den Wasserfall schauen. Etwas Schwarzes kommt heruntergefallen, dann etwas, das wie ein ganzes Schiff mit Passagieren an der Reling aussieht, dann färbt sich der Wasserfall rot – blutrot. Bodum bekommt davon nichts mit und will auch nichts davon wissen, dass dort oben, jenseits des Falls, eine andere Welt sein könnte.

Alles, was er vom Fall weiß, ist, dass ein schwarzes Hund angespült wurde und ein Fetzen Papier, auf dem in Krakelschrift HILFE steht …

|Mein Eindruck|

Es ist eine Geschichte über das Ende der Welt. Nur mit einem etwas verschobenen Blickwinkel. Mal angenommen, der Wasserfall bilde wirklich, wie man im Altertum glaubte, das Ende der Welt, also den Rand der Weltenscheibe, dann könnte er wirklich so groß wie ein Ozean sein. (|Scheibenwelt|-Leser wissen, was gemeint ist.) Dann färbt sich dieser Ozean auf einmal blutrot, was auf eine entsprechende weltumspannende Katastrophe hindeutet, möglicherweise auf einen Krieg.

Die Erzählung zeigt zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Der Reporter ist, wie es seine Art und Aufgabe ist, neugierig auf dieses Phänomen des Untergangs einer noch nie gesehenen Welt, doch Bodum ignoriert diese neue Welt, so gut es geht. Es geht ihn nichts an. Er ist ja eh schon so gut wie taub, und nach 40 Jahren hat er gelernt, nicht nur den Lärm des Falls zu ignorieren.

Was mag der Fall wohl in unserer Wirklichkeit symbolisieren? Ist er das Informationsbombardement, dem wir ständig ausgesetzt sind? Dass er eine Barriere für die Wahrnehmung ist, scheint der, ähem, Fall zu sein. Und diese Barriere schirmt uns vor dem ab, was als Katastrophe in der nächsten Welt gerade passiert. Der Wasserfall ist eine physische Barriere, doch in unserer Realität trennt uns nur eine psychische Barriere davon, uns um die Katastrophen nebenan zu kümmern.

Das war 1970. Heute ist die Welt ein Dorf geworden, und ich denke, die Weihnachtskatastrophe des Tsunami 2005 hat gezeigt, dass unsere Hilfe auch unsere Mitmenschen erreicht, selbst wenn sie 10.000 Kilometer entfernt leben.

7) _Joanna Russ: Die Zweite Inquisition_ (The second inquisition)

Ein sechzehnjähriges Mädchen erinnert sich an den Sommer 1925, als ihre Familie eine sonderbare Frau als Gast bei sich aufnahm, um etwas Geld hinzuzuverdienen. Der Vater ist nur Buchprüfer und herzkrank, kann also nichts verdienen. Die Frau ist deshalb so sonderbar, weil sie sich ganz in Schwarz kleidet, kurzes Haar trägt und mehr als zwei Meter groß ist. Der Buchprüfer Ben lehnt dies kategorisch ab, aber er schweigt, weil er das Geld braucht. Und seine Frau sagt immer nur: „Die arme Frau, die arme Frau.“

Nun, die arme Frau hat einen Plan und mischt sich in das Leben des sechzehnjährigen Mädchens ein. Sie gibt ihr einen unanständigen Roman mit dem Titel „Der grüne Hut“ zu lesen (was zu einer Gardinenpredigt Bens führt), zeigt ihr seltsame Zeichnungen und erzählt ihr von den Kreaturen aus Wells‘ Roman [„Die Zeitmaschine“, 3578 den das Mädchen ebenfalls begeistert gelesen hat. Natürlich gibt es weder Morlocks noch Eloi und erst recht keine Transtemporale Militärbehörde. Oder?

Doch dann lernt das Mädchen auf einer Party im Country Club einen Mann kennen, der ebenso groß ist wie die sonderbare Frau und der keine gute Meinung von den Erdenmenschen hat. Was fällt ihm ein? Die Sonderbare entführt kurzerhand ein Auto und fährt das Mädchen zu ihrem Heim, um dort etwas vorzubereiten, von dem das Mädchen überhaupt nichts begreift. Was soll sie bloß mit einem heißen Schürhaken und einer Tasse giftigen Salmiakgeistes anfangen? Doch als der sonderbar große Mann eintritt und die sonderbare Frau bedroht, geraten die Dinge außer Kontrolle …

|Mein Eindruck|

Was würde passieren, wenn deine Enkelin, die älter aussieht als du selbst, 150 Jahre in der Zeit zurückreisen würde, um dich vor einer kommenden Gefahr zu warnen oder dich um deine Hilfe zu bitten? Nun, sie würde erstmal ziemlich deplatziert und sonderbar aussehen und du würdest ihr zweitens kein einziges Wort glauben, weil sie als Mensch ebenso unglaubwürdig ist wie ihre Geschichte, die sie dir erzählt.

Doch was würde passieren, wenn noch weitere Besucher aus der Zukunft kämen – durch eine Art Spiegel oder so – und würden deine Enkelin bedrohen, sie in ihre eigene Zeit zurückzerren und dich obendrein mit dem Tod bedrohen, weil du alles gesehen hast? Nun sieht die Angelegenheit zwar tausendmal schrecklicher aus, aber du könntest wenigstens den Gedanken wagen, dass es Morlocks gibt. Und wo Morlocks sind, könnte es vielleicht sogar Eloi geben. Und eine Zeitmaschine. Und womöglich sogar – Gott verhüte! – eine Transtemporale Militärbehörde, die auf sie alle Jagd macht.

Und dann könntest du vielleicht anfangen, einen schwarzen Dress zu nähen, der ein wenig so aussieht wie die Uniform einer Morlockkriegerin. Aber das Ding sieht dann auch irgendwie lächerlich aus, nicht wahr? Aber für wie lange …

Viele solcher Zeitreisegeschichten, z. B. „Zurück aus der Zukunft“, handeln vom Besuch bei den Vorfahren, aber nur wenige machen sich Gedanken darüber, was das für den Besuchten bedeuten könnte. Hier ist es ein namenloses Mädchen, das von seiner namenlosen Enkelin besucht wird. In der Zukunft tobt ein transtemporaler Krieg, wie ihn sich H. G. Wells nicht schlimmer hätte ausdenken können. Soll die Enkelin ihre Vorfahrin wirklich dadurch in Gefahr bringen? Sie versucht, sie zu schützen und schafft es mit knapper Not unter Opfern. Dass dies nicht ohne Folgen auf die Vorfahrin bleiben kann, versteht sich, aber wie werden diese aussehen? Sie will ja nicht als Alien durch die Gegend laufen und bald mal heiraten.

Was dies alles mit der Inquisition zu tun hat, wird wohl das Geheimnis der Autorin bleiben. Sie ist offenbar mehr der klassischen Moderne wie etwa Virginia Woolf verpflichtet als dem Stil der Pulp-Fiction-Autoren alter SF.

_Unterm Strich_

Der Auswahlband ist meines Erachtens ein schönes Beispiel dafür, wie Science-Fiction sich mit den sich wandelnden Bedingungen menschlicher Existenz auseinandersetzt („Fortsetzung“, „Bonsai-Mensch“, „In der Schlange“), andererseits aber mit verhängnisvollen Begegnungen für Jugendliche das innere Erleben der Hauptfiguren so interessant zu gestalten vermag, dass man selbst neugierig darauf wird, wie die – meist ziemlich verrückte – Geschichte ausgeht.

Ziemlich aus dem Rahmen fällt natürlich die Fantasynovelle „Verhängnis in Lankhmar“, die später den Titel „Das Haus der Diebe“ erhielt. Was hier nach purer Lust am Abenteuer und an Magie aussieht, entbehrt durch den Verlust der beiden Frauen nicht einer gewissen tragischen Tiefe. Überhaupt mag den Leser verwundern, dass eine Fantasystory in den Band aufgenommen wurde, aber es nun mal so, dass die Amerikaner keinen großen Unterschied zwischen den Genres SF und Fantasy machten, und viele ihrer Autoren in beiden Genres tätig waren, selbst Clifford Simak.

Die Übersetzung gerade dieser Story ist nicht gerade optimal gelungen, und auch bei den anderen Beiträgen neige ich zur Vorsicht und Skepsis. Manchmal findet sich eine bessere Alternative, so etwa bei der Leiber-Novelle.

Die Reihe der „Nebula Award Stories“ wird meines Wissens bis heute fortgeführt. Viele der Preisträger tauchen in den Auswahlbänden „Year’s Best SF“ wieder auf. Ganz nebenbei kann sich der deutsche Leser so auf dem Laufenden halten, was in der SF den Ton angibt, denn deutschen Story-Anthologien mit angloamerikanischen Beiträgen muss man seit 2001, als |Heyne| seine Anthos einstellte, mit der Lupe suchen.

Mit den alten |Moewig|-Auswahlbänden bietet sich Einblick in eine der interessantesten Epochen der US-SF, nämlich nach der New Wave und der Abschaffung von Zensurbestimmungen im Jahr 1967 oder 1968. Dadurch erhielten die Autoren sowohl stilistische als auch inhaltliche Freiheiten, die sie zu Neuerungen anspornten. Ich würde aber nicht sagen, dass diese unbedingt schon in diesem Band zu finden sind, es sei denn man, zählt die Story von Lafferty zu den innovativen.

|Originaltitel: Nebula Award Stories 6, 1971
Aus dem US-Englischen von Rosemarie Hundertmarck|

Jean Ray – Die Gasse der Finsternis. Phantastische Erzählungen

Ray Gasse Cover kleinEin Dutzend Dracheneier für Leser, die Phantastik mit Überraschungen lieben; für Jean Ray ist die Realität nur eine Schicht im Gewebe eines Universums, das in seiner Vielfalt meist außerhalb der menschlichen Wahrnehmung bleibt; unterhaltungsintensiv, mit enormem Einfallsreichtum, und drastischen Effekten schildert der Verfasser, was geschieht, wenn diese Schichten zufällig kollidieren.
Jean Ray – Die Gasse der Finsternis. Phantastische Erzählungen weiterlesen