Sibylle Berg – Sex 2. Phantastischer Roman

Sibylle Berg: Sex 2

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und leidest an einer merkwürdigen Krankheit; die Welt, die dich umgibt, ist zu einem allzu transparenten Kosmos geworden, den du durchschreiten kannst und in dem dir nichts entgeht, weil du alles durchschaust wie Glas: Türen, Wände, ja selbst die Köpfe der Menschen sind kein Hindernis. Du bist wie Gott, der die Wahrheit zu erkennen vermag und auch die schrecklichsten Geheimnisse der Menschen kennt, die tief in ihren Seelen ruhen. Doch was anfangen mit dieser Wahrheit – und viel wichtiger, wie damit umgehen? „Die natürliche Reaktion auf den Wahnsinn ist der Wahnsinn“, und so begibst du dich auf einen Streifzug, der dich Herz und Verstand kosten könnte.

Im Labyrinth einer Großstadt begegnest du Menschen, scheinbar harmlosen Geschöpfen, die jedoch bitterböse Wahrheiten in sich tragen: sie alle sind Mörder – auf die eine oder andere Weise. Und wenn dann doch einmal ein Hoffnungsschimmer auftaucht, auf dieser düsteren Odyssee durch menschliche Seelenlandschaften, erlischt dieser fast auf der Stelle. Aber dennoch darfst du nicht stehen bleiben, sondern musst immer weiter gehen, um in menschliche Abgründe zu blicken, weil dich ein fast schon exzessiver Voyeurismus dazu treibt. Am Ende dieser verworrenen Reise findest du dich in deiner Wohnung wieder, ein wenig verrückter als vorher, sehr viel depressiver und Tür an Tür mit einer Nachbarin, deren heimliches Hobby es ist, Babys mit einem Kissen zu ersticken.

Sibylle Berg schuf mit Sex II* ein makaber-depressiv-fröhliches Szenario, das seine Spuren beim Leser hinterlassen wird. Mit ihrem brillanten Sprachstil, mit dem sie es schafft, Poesie und Fäkaliensprache manchmal in nur einem Satz zu vereinen – ohne ein Wort zu viel zu sagen -, hat sie ein Buch hervorgebracht, das man kaum aus der Hand legen will, so deprimierend es von Zeit zu Zeit auch sein mag. Wer also ironisch-düstere Geschichten mag und vielleicht einen Hang zur Zeitkritik hat, dem ist dieser Roman wärmstens zu empfehlen. Aber Vorsicht, Sex II könnte Weltanschauungen umstoßen und zartbesaiteten Mitmenschen den Schlaf rauben.

* Übrigens gibt es keinen Vorgängerroman namens „Sex“ bzw. „Sex I“, der Titel des Buches gleicht lediglich dem Titel eines im Roman erwähnten Pornofilms.

Leseprobe:
„(Peter, 27. Vermögensvermehrer. Leben war bislang von großer Belanglosigkeit. Das Fetzigste war der Unfall, den er vor einiger Zeit hatte. Sehr viele Gedärme um ein Lenkrad. Gehörten ihm)

Alle um Peters Bett. Seine Freundin, seine Eltern, sein Bruder. Stehen, schweigen. Betroffen. Vor so viel Unexistenz. Alle nicht katastrophenerprobt. Wie kaum einer. Keine Erfahrungen mit Krisen. Macht dummes Schweigen. Die Freundin, in rotgehaltener Dauerwelle, setzt sich auf den Rand des Bettes, beginnt zu reden, peinlich, ihre Worte in der Stille, wie beim Akt reden (stopf mich voll mit deinem großen Baumstamm, du lüsterner Stier), so peinlich. Peters Augen zu, keine Bewegung. (…) Peter denkt nicht richtig. Es ist, was übrigbleibt, wenn man die Gedanken auf den Kern reduziert, wie einen guten Satz. Befreit von allem Unnützen. Peter liegt im Koma. Das Wort würde ihm nicht einfallen. Ihm fallen keine Worte mehr ein.

Nur Zustände. Der Zustand, in dem Peter sich befindet, ist Friedlichkeit. Von dem Unfall weiß er nichts mehr, von seinem Leben vor dem Unfall weiß er nur noch den Kern. Der Kern ist Anstrengung, Bewegung, unnütz. Als Peter nach dem Unfall zu dem Kern von sich kam, war die Sache klar: nicht bewegen, nicht bemühen. Es wäre möglich, zum alten Zustand zurückzukehren. Es bedürfte der Entscheidung. Die will er nicht. Peter hört nicht, was seine Freundin zu ihm sagt. Er spürt es. Sie will ihn holen, über Stacheldrähte ziehen, den alten Zustand wieder. Peter will da nicht hin. Das Gefühl zu der Freundin, der Frau, die da auf seinem Bett sitzt, ist ein fremdes. Sie soll weg. Alle sollen weg. Die Anwesenheit macht, dass sich Störungen abzeichnen. Peter spürt, dass eine fremde Person anwesend ist. Spürt, dass sie über seinen Zustand befinden kann. Er spürt, dass sie von seinem Tod sprechen.

Der Tod ist ein Zimmer weiter, Peter hatte ab und zu mal in dieses Zimmer geschaut, es hatte ihm angst gemacht, was in dem Todeszimmer passierte. Peter will da nicht rein. Spürt eine große Gefahr. Und er entscheidet sich. In diesem Moment. Zurückzugehen. Fängt den Weg an. In etwas, das hell ist und weh tut. Etwas klarer. Geht zurück, heller, wie tausend Neonröhren vor ungeschützten Augen. Über trostlose Plätze. Die Erinnerungen sind. Klarer werden. Ein unnützes Leben werden. Mit einer Frau. Seiner Freundin. Ohne reden, ohne Nähe, mit seinem Beruf. Beruf. Beruf, früh aufstehen, Angst haben. Vor Versagen, vor Beruf verlieren, heimkommen. Die Freundin da. Forderndes Gesicht, kalter Körper, Angst haben, vor der Frau. Angst. Vor Schmerzen, vor Einsichten in Sinnlosigkeiten. Immer heller, unten noch der Schatten des Todeszimmers, kalt, treibt ihn an. Muss er weg davon. Ist furchtbarer als alles in dem Licht. Aber ist nicht mehr weit. Fast geschafft. Eine Hand schon im Raum. Kann schon fassen, Schreien, wollen, geht nicht. Als die Geräte abgeschaltet werden.“ (S. 20/21)

Taschenbuch: 200 Seiten
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Doreen Thümmel