Ken Follett – Die Säulen der Erde (Lesung)

Statt eines kompletten Hörspiels von überladener Ästhetik, wie es der WDR produzierte, lieferte der |Lübbe|-Verlag 2003 die aufs Wesentliche konzentrierte Lesung des eigentlichen Buchtextes, allerdings zu einem besonders günstigen Preis: knapp 20 Euro – bei Amazon nur 15 – für ein Dutzend CDs mit 13,5 Stunden Unterhaltung. Gelesen wird das Hörbuch von einem der besten Synchronsprecher hierzulande, nämlich von Joachim Kerzel.

Der Autor

Ken Follett, geboren im walisischen Cardiff, wurde durch die Verfilmung seines Spionagethrillers „Die Nadel“ mit Donald Sutherland bekannt. Den internationalen Durchbruch erzielte er laut Verlag mit dem historischen Roman „Die Säulen der Erde“ (1990). Auch sein Roman „Der dritte Zwilling“ wurde verfilmt. Anno 2023 hat die Kingsbridge-Saga Band 5 erreicht:

1990: Band 1: Die Säulen der Erde (The Pillars of the Earth, DE: Platin)
2007: Band 2: Die Tore der Welt (World Without End) (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste vom 10. bis zum 30. März 2008)
2017: Band 3: Das Fundament der Ewigkeit. Bastei-Lübbe, München 2017, ISBN 978-3-7857-2600-6 (A Column of Fire). (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste vom 23. September bis zum 13. Oktober 2017)
2020: Band 4: Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit (The Evening and the Morning) ISBN 978-3-7857-2700-3.
2023: Band 5: Die Waffen des Lichts (The Armour of Light), Übersetzer Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher, 1. Auflage, Lübbe, Köln 2023

Der Sprecher

Joachim Kerzel, 1941 in Hindenburg/Oberschlesien geboren, erhielt seine Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Als gefragter Synchronsprecher leiht er Jack Nicholson, Dustin Hoffman, Dennis Hopper und vielen anderen Stars seine sonore Stimme. Ganz besonders im Gedächtnis geblieben ist mir seine Beteiligung an der Hörbuchfassung von Stephens Kings „Das Mädchen“, die er zusammen mit Franziska Pigulla bestritt. Seine charismatische Stimme macht aus jedem Gegenstand etwas Grandioses. Daher ist er häufig auch in der Werbung zu hören, so etwa zu den Medienproduktionen um Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Verfilmung.

Handlung

Noch nie seit „Der Name der Rose“ war wohl das Mittelalter so spannend. Schauplatz der umfangreichen Geschichte ist das England in den 50 Jahren von 1123 bis 1173: eine Zeit blutiger Auseinandersetzungen zwischen Krone (normannische Eroberer!) und Adel (alteingesessene Sachsen), Klerus und Volk. Der junge Klosterprior Philip von Wales träumt von einem Zeichen des Friedens: einer gotischen Kathedrale.

Aber bis sein kühner Traum Wirklichkeit geworden ist, müssen der Klosterherr, sein Baumeister Tom Builder und die Grafentochter Aliena sich in einem Kampf auf Leben und Tod gegen ihre Widersacher behaupten. Alienas verschmähter Freier, den Grafensohn William Hamleigh, nämlich will nicht von ihr lassen und versucht einige fiese Tricks.

Tom Builder hingegen hat seine Frau Agnes bei der Geburt seines Sohnes Jonathan verloren. Weil er und seine zwei anderen Kinder Martha und Alfred kurz vor dem Verhungern waren, setzten sie Jonathan aus – im Wald wurde das Baby von Mönchen, die zu Philips Priorei gehören, gefunden und aufgezogen. Nachdem Tom die ungebundene „Hexe“ Ellen und ihren Sohn Jack im Wald kennen gelernt hatte, zog er mit ihnen zur Priorei. Nur dort findet er Kost und Logis.

Damit Tom etwas Geld verdienen kann, zündet Ellens Sohn Jack die eh schon halb zerfallene alte Kirche an. Bald hat Tom alle Hände voll zu tun, doch da er und Ellen in unchristlicher Gemeinschaft leben, wird Ellen fortgeschickt und darf zur Strafe erst nach einem Jahr zurückkehren, um Tom zu ehelichen. Die Sitten sind streng, selbst innerhalb des Klosters sorgt Bruder Remigius, der eigentlich selbst Prior werden wollte, dafür, dass die Sitten gewahrt bleiben, besonders dann, wenn Philip tolerant sein möchte.

Fortan widmen sich Prior Philip und Tom Builder unter der Führung des ehrgeizigen Bischofs Wolloran der Erbauung der neuen Kathedrale von Kingsbridge. Doch der Feinde und Neider sind viele, und als sich der Bischof mit den Hamleighs verbündet, um eine konkurrierende Kathedrale im benachbarten Shiring zu bauen, eskalieren die Schwierigkeiten.

In den Folgejahren (siehe unten) geraten die Hauptfiguren in den Strudel der politischen Wirren und des Bürgerkriegs, der zwischen König Stephan und der rechtmäßigen Thronerbin, „Kaiserin“ Mathilde, ausgebrochen ist. Wechselndes Kriegsglück betrifft beide Seiten in Kingsbridge. Doch um 1170 kommt es zu einem dramatischen Höhepunkt in den Geschehnissen, der das Schicksal Westeuropas verändern wird.

Mein Eindruck

Ken Follett hat in seinen Mega-Roman alles reingepackt, was gut und teuer ist. Könige und Erzbischöfe, Kriege und Schlachten, die Entstehung eines Heiligen, einer Kathedrale und einer Stadt, und natürlich viele viele persönliche Schicksale. Besonders an diesen kann der Leser bzw. Zuhörer Anteil nehmen. Nachdem der Prolog mit der Hinrichtung eines Unschuldigen ein Rätsel gestellt hat, das erst zum Schluss gelöst wird, ist klar, dass sowohl das Geheimnis, das den Gehenkten umgibt, gelüftet werden muss als auch die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden müssen. Somit bleibt auch die Spannung vom Anfang bis zum Schluss erhalten. Das ist eine wunderbare Leistung, die man nur selten so gelungen findet.

Eine dramaturgische Klammer

Dieser geniale Prolog hält den Roman wie eine Klammer zusammen. Und fast alle anderen Geschichten sind damit verknüpft, insbesondere die jahrzehntelange Fehde zwischen den Hamleighs (Percy, Regan und v.a. William) und den Shirings (Aliena, Richard) sowie Builders (Tom, Alfred, Jack, Ellen, Martha). Diesen beiden Gesellschaftsklassen der Adligen (= Landbesitzer) und Bürger, Bauern oder Handwerker (Landlose) stehen die Kleriker gegenüber, vom einfachen Mönchlein, das Toms Sohn Jonathan an Kindes statt aufzieht, über den rührigen Prior Philipp mit seiner Kathedrale bis hinauf zum Erzbischof von Kingsbridge, der es auf die Position des Oberhauptes der englischen Kirche abgesehen hat.

Prior Philipp

Da die meisten anfangs eingeführten Figuren bis zum Schluss vorhanden sind, hat der Leser bzw. Zuhörer Gelegenheit, sich mit einer Frauen- oder Männergestalt besonders zu identifizieren. Ich habe dabei eine besondere Vorliebe für Prior Philipp entwickelt, vielleicht wegen seiner Bildung, seiner humanen Intelligenz und weil er im jahrzehntelangen Ringen um seine Kathedrale zwar so manche Niederlage einstecken muss, aber trotzdem nie in seinem Bemühen aufgibt, bis ihm endlich der Triumph seines Lebens gelingt. (Der hier natürlich nicht verraten werden darf.) Dass er Waliser ist und kein Engländer, macht ihn mir umso sympathischer. Ich habe etwas übrig für Kelten. Übrigens stammt auch Ken Follett aus Wales – siehe die Biografie oben.

Das volle Leben

Von der Geburt bis zum Tod und allem dazwischen – alles ist in „Säulen der Erde“ zu finden. Dazu gehören allerdings nicht nur Schäferstündchen in lauschigen Hainen, sondern auch handfeste Vergewaltigungs- und Folterszenen. Hinzu kommen Brandschatzung, Mord und eine komplette Schlacht (bei Lincoln, wo Philipp Zeuge ist). Solcherlei Horrorgeschichten sind wenig für Kinder geeignet. Dennoch haben sie ihren Platz in dem Panorama, das der Autor ausbreitet, denn die Zeiten waren nicht nur im 12. Jahrhundert hart, und der Adel hatte sogar das „Recht der ersten Nacht“ (ius primae noctis), wenn Frauen ins heiratsfähige Alter kamen. William von Hamleigh ist das abstoßendste Beispiel für die schlechten Seiten des Adels, während Gräfin Aliena und ihr Bruder Richard für die verantwortungsbewusste Seite stehen. Aliena, die überragende Frauengestalt des Romans, bringt es auch zur wohlhabenden Kauffrau, was für die damalige Epoche recht ungewöhnlich gewesen sein dürfte.

Unruhige Zeiten

An ihrem Bruder Richard können wir verfolgen, wie sich die politische Landschaft während der geschilderten einundfünfzig Jahre zwischen 1123 und 1174 verändert. Es sind sehr unruhige Zeiten, und es würde hier zu weit führen, alles zu erklären. Aber klar ist, dass in diesen fünf Dekaden vier Könige in England herrschen: Heinrich I., der 1135 am Esstisch stirbt und dessen einziger legitimer Sohn ermordet wird, so dass es zum Bürgerkrieg um seine Nachfolge kommt. In fünfzehn Jahren purer Anarchie kloppen sich König Stephan (1139-1154) und die anerkannte Thronfolgerin, seine Kusine Mathilde, „die Kaiserin“, in einem brutalen Bürgerkrieg, bis endlich 1154 Heinrich II. zum König gekrönt wird. Es sind diese 15 Jahre, in denen Adel und Kirche besonders erstarken. Und das hat direkte Auswirkungen auf den Bau der Kathedrale von Kingsbridge.

Denn der Bau hängt ja nicht von Geld und Können allein ab, es müssen auch Rohmaterial und Personal herbeigeschafft werden. Deshalb ist das Ringen um den Steinbruch, der auf Shiring-Land liegt, so wichtig. Er ist ein richtiger Zankapfel, und beispielhaft zeigt er die Interessenlage zwischen niederem (Prior) und hohem Klerus (Bischof) sowie dem Adel (Hamleigh) auf. Die normalen Bürger, Bauern und Handwerker werden zwischen den mal mehr mal weniger kriegerischen Aktionen zerrieben. Das wird ganz besonders deutlich, als William skrupellos die Steinbrucharbeiter Philipps massakriert und ihre Hütten niederbrennt.

Das illustriert deutlich, wie viele Rechte solche Adligen dem König abgerungen hatten. Und da Bürgerkrieg herrschte, war der jeweilige König – in diesem Fall Stephan – entsprechend schwach und musste vielen entgegengesetzten Kräften nachgeben, um nicht selbst abgesägt zu werden. Aber auch der starke König Heinrich II., Stephans Nachfolger, vermasselte seinen Job, so dass er schließlich 1174 in der Kathedrale von Canterbury vor den Geistlichen auf die Knie fallen und sich von ihnen, darunter Prior Philipp, geißeln lassen musste. (Wie es dazu kam, erzählt der Roman sehr spannd und anschaulich.) In der Folge hatte der Papst in England das Sagen. Bis dann Jahrhunderte später ein weiter Heinrich, der achte dieses Namens, damit Schluss machte und alle Mönche verjagte. Wir jedenfalls freuen uns erst einmal an Philipps Triumph und glauben daran, dass es noch so etwas wie Gerechtigkeit gibt.

Die Kunstrevolution der Gotik

So ganz nebenbei stellt der Autor die Kathedrale auch als Kunstwerk dar. Über Kunst herrschen bekanntlich verschiedene Meinungen, und so ist die Entwicklung des Designs der Kathedrale ebenfalls wechselnden Strömungen unterworfen. Im Grunde ist von insgesamt drei Kirchen die Rede: von der alten, die Jack als Junge abfackelt; von der zweiten Kirche, die Tom Builder ansatzweise baut und die wegen falscher Sparsamkeit einstürzt; und schließlich von jener endgültigen Kathedrale, die Jack entwirft und am Vorbild der revolutionär gestalteten Kathedrale von St. Denis bei Paris gestaltet.

Dies ist der so genannte „gotische“ Stil, wie man ihn am Kölner Dom oder an den diversen Münstern in Ulm oder Freiburg bewundern kann. Bei diesem Design kann endlich von den „Säulen der Erde“ die Rede sein, die den „Himmel“ des Kirchendaches stützen. Ohne seine Vertreibung aus Kingsbridge hätte der Steinmetz Jack sie auf seinen Lehr- und Wanderjahren nie kennen gelernt. Als Aliena seinen Spuren folgt, sehen wir diese architektonische Revolution mit ihren unvoreingenommenen Augen.

Der Sprecher

Joachim Kerzel hat hier die enorme Aufgabe, ein gesamtes Hörspiel zu ersetzen. Dieses Hörspiel produzierte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) mit bekannten Schauspielern wie Günther Lamprecht in den Hauptrollen und einem 120 Mann starken Sinfonieorchester plus Chören. Die Musik wurde extra dafür komponiert, das stelle man sich mal vor. Wie könnte es ein einzelner Sprecher wagen, diese Pracht herauszufordern?

Er versucht es erst gar nicht, was ja auch das Klügste ist. Kerzel tut einfach, was er am besten kann: Er spricht verschiedene Parts mit unterschiedlichen Tonlagen. Doch sind die Gestaltungsmöglichkeiten seiner tiefen Stimme begrenzt – er wird garantiert nicht im Falsett zu hören sein. Daher kommt es ihm darauf an, das actionreiche und spannende Geschehen, in dem ein Höhepunkt dem nächsten folgt, möglichst deutlich herauszuarbeiten und darzustellen, so dass ihm der Zuhörer mühelos folgen kann. Diese Aufgabe erledigt er mit Bravour. Man höre sich die Gewitterszene an, in der Aliena die neue Frau des Grafen William Hamleigh vor einem Unwetter in eine Kirche rettet.

Die Szene könnte man sich ebenso gut in einem Film vorstellen. Leider oder zum Glück sind die 1150 Seiten des Buches unverfilmbar, es sei denn vielleicht in einer zwölfteiligen Serie. Dafür hat man aber vorerst mit zwölf CDs genügend Stoff für Unterhaltung: für dreizehneinhalb Stunden. Das ist an einem Tag zu schaffen, auch wenn einem danach der Schädel brummt. Aber es ist wesentlich weniger zeitaufwendig, als das Buch zu lesen.

Immerhin gibt es eine musikalische Beigabe: stilgerechte Musik, die die Aufgabe hat, eine Pause oder Abgrenzung zu setzen, bevor der Sprecher das nächste Kapitel in Angriff nimmt.

Unterm Strich

Der Käufer dieses Hörbuchs bekommt eine ganze Menge Unterhaltung für sein Geld. Wer danach an einer Kathedrale vorübergeht, kann sich ungefähr ausmalen, welche Kräfte und Menschen an der Errichtung dieses Bauwerks beteiligt gewesen sein mögen. Danach weiß man auch mehr über die Epoche an sich, als in England vor der Magna Charta ziemliche Anarchie herrschte. Die Plantagenets unter Mathilde gingen als Sieger hervor, wurde aber später selbst von den Tudors in den so genannten 2Rosenkriegen“ aus der Königs-Etage vertrieben.

Das für viele sympathischste Merkmal an diesem Roman sind wohl auch die zahlreichen Frauengestalten. Das fängt schon mit Tom Builders tapferer Frau Agnes an, setzt sich fort mit seiner zweiten Frau Ellen (der „Hexe“) und mit der wichtigsten Figur, Aliena, der Grafentochter. Sie wandert sogar bis nach Frankreich und ins moslemisch besetzte Spanien, um die Liebe ihres Lebens und den Vaters ihres Kindes zurückzugewinnen. Ist sie deshalb eine Heldin, eine Heilige oder eine Närrin? Daran dürften sich die weiblichen Geister scheiden.

Auf jeden Fall ist „Säulen der Erde“ eine mitreißende Geschichte, die besonders in der Verdichtung als Hörbuch ihren Zauber entfaltet, wobei die Action und das Drama nie zu kurz kommen. Joachim Kerzels Stimme setzt das Geschehen vom Blatt über Sprache & Ton in Szenen um, die man sich wie einen Film vorstellen kann. Und einen Realismus dieser Art würde sich Hollywood kaum darzustellen trauen.

CD: 825 Minuten auf 12 CDs
Originaltitel: The Pillars of the World, 1989
ISBN-13: 9783785713198
www.luebbe.de/luebbe-audio

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