Wie sähe die Zivilisation heute ohne Christentum aus? Nun, jedenfalls wesentlich menschenfreundlicher und fortschrittlicher, meinen die zwei Autoren der „Hammer & Kreuz“-Trilogie. Sie haben diese Annahme einmal in einem alternativen Geschichtsverlauf nachgezeichnet. Das Ergebnis ist durchaus bedenkenswert, auch für Leser ohne Hang zu nordischen Religionen. Aber auch Leser, die unterhalten werden wollen, kommen hier voll auf ihre Kosten.
_Vorgeschichte_
Im Jahr 865 suchen die Wikinger mit grausamen Raubzügen den Norden Englands heim. Shef, ein junger Schmied nordischer Abstammung mit erstaunlicher Auffassungsgabe für technische Zusammenhänge, bringt den Wikingerbanden blutige Niederlagen bei und baut eine Streitmacht auf – unter einer Fahne, die sowohl den Hammer Thors als auch das Kreuz als Zeichen führt. Er selbst wählt als sein „Totem“ die Pfahlleiter, denn sie ist das Symbol für seinen göttlichen Vater Rigr, einen der nordischen Asen.
Shef schlägt sogar eine Streitmacht der Franken, die die katholische Kirche gegen ihn ausgesandt hat. Im 2. Band der Trilogie, [„Der Pfad des Königs“, 791 erobert Shef aufgrund seiner brillanten Ideen Skandinavien und besiegt seine wichtigsten Kontrahenten, die Söhne Ragnar Lodbroks, der England plünderte. Fortan regiert er als der Eine König des Nordens, während sein Mitkönig Alfred von Wessex halb England beherrscht. Doch Shef hat sich in Deutschland einen mächtigen Feind geschaffen: Bruno, den Lanzenritter. Dieser wird unterstützt von Diakon Erkenbert, der bei der Eroberung von York durch die Wikinger entkommen war. Dieses Duo taucht nun, im 3. Band, wieder auf: Bruno ist Kaiser der Deutschen und Franken.
_Handlung_
Im Süden Europas haben die Nachfolger des West- und des Oströmischen Reiches, Kaiser Bruno und der Patriarch von Byzanz, ein Militärbündnis geschlossen, um die vorgedrungenen Piraten der Mohammedaner zurückzuschlagen. Denn wer die Inseln beherrscht und deren Brunnen, der beherrscht das Mittlemeer. Mit Hilfe des geheimnisvollen „Griechischen Feuers“, dem aus Erdöl gewonnenen Naphtha, verbrennen die Griechen die arabische Flotte. Nun ist der Weg nach Südfrankreich und Spanien frei. Doch dort herrschen die Araber unter dem Kalifen von Cordoba.
Der immer auf „Neues Wissen“ erpichte Shef erhält die Nachricht, dass die Griechen eine neue Waffe einsetzen. Außerdem macht er sich Sorgen um seine strategische Lage: Sobald Spanien wieder christlich ist, geht es England und dem Norden an den Kragen, also seinem Reich. Mit seiner Flotte von Schlacht- und Langschiffen besucht er erst einmal Cordoba. Dort interessieren ihn die Kunst des Fluges und Teleskope. Außerdem freut es ihn, dass hier anscheinend Moslems, Christen und Juden einträchtig zusammenleben. Allerdings müssen letztere Steuern zahlen, die Moslems aber nicht.
Nächste Stopps sind Mallorca und Septimanien, das in der Gegend von Montpellier liegen dürfte, an einen steilen Berghang geschmiegt: Auch hier leben Juden und Christen zusammen, allerdings gibt es hier auch christliche Ketzer, die später als Katharer bekannt und von der Inquisition blutig verfolgt wurden. Die Ketzer erkennen in Shefs Emblem die Pfahlleiter, die für sie eine heilige Reliquie darstellt: den Gral beziehungsweise graduale. Diesen Gral sucht Bruno verzweifelt aus den Ketzerburgen zu bergen, um seine Macht zu mehren.
Natürlich wissen sich die Ketzer umgehend die Unterstützung Shefs zu sichern, indem sie seine Geliebte, Svandis, entführen. Svandis ist zwar Atheistin, aber das macht nichts: Shef muss sie wiederhaben. Es kommt, wie es kommen muss: Wieder einmal stehen sich Shef und sein Erzrivale Bruno gegenüber – zwar nicht Aug in Aug, aber doch mit drastischen Resultaten: Shef lässt Feuer vom Himmel regnen und schickt Knaben in Flugdrachen zur Aufklärung in die Luft, der Gral wird in Sicherheit gebracht und etliche Katapulte kommen zum Einsatz. Viel Action allhier: eine Schlacht der sechs Religionen: katholische Kirche, griechisch-orthodoxe Kirche, Nordischer Weg (= Shef), Juden, Islam und Ketzer.
Nachdem Shef in hartem, knappem Kampf Bruno geschlagen hat, erhält dieser die willkommene Gelegenheit, den Kalifen von Cordoba, der den Ungläubigen mitsamt Heer entgegen gezogen ist, vernichtend zu schlagen. Durch Verrat fällt ihm auch noch der Gral in die Hände. Frohgemut zieht Kaiser Bruno gen Rom, um den dortigen Papst durch Diakon Erkenbert, seinen treusten und intelligentesten Berater, zu ersetzen. Dass die Italiener etwas dagegen haben, dürfte klar sein – und der amtierende Papst sowieso.
Und wenn sich Shef nicht beeilt, kommt er zu spät, um sein eigenes Reich gegen diesen fanatisch christlichen Kaiser zu verteidigen. Es kommt schon bald zum Showdown vor den antiken Mauern der Ewigen Stadt …
_Mein Eindruck_
Im Vergleich zu den Landschaften und Ideengebäuden, auf die Shef und seine Mannen (und Frau) in diesem Band treffen, muten die vorherigen geradezu vorsintflutlich und finster an. In den warmen südlichen Gefilden des Mittelmeers tauchen nun Geisteshaltungen und Begriffe auf, die uns schon recht neuzeitlich vorkommen.
|Erfindungen 1: Algebra|
Bei den Arabern von Cordoba erfährt Shef erstmals vom Konzept der Zahl Null, die die Araber „sifr“ nennen, wovon unser Wort „Ziffer“ stammt. Damit eng verbunden ist das Konzept der Algebra (al-gabr), das es Shef erstmals erlaubt, besser zu rechnen, als es die Römer konnten. Da Diakon Erkenbert nur römisch rechnen kann, um seine Katapultschüsse richtig einzustellen, hat Shef nun einen schweren militärischen Vorteil: Ihm fallen Teilen, Malnehmen, Abziehen und Addieren sehr viel leichter, insbesondere auch noch auf einem Rechenbrett, dem Abakus. Mit nur zwei Schüssen zerstört er das gegnerische Katapult: zack, peng!
|Erfindungen 2: Fliegen|
Das ist nicht alles: Von den Arabern lernt Shef das Fliegen. Dass dies nicht ganz ungefährlich ist, sieht er schon an seinem arabischen Lehrmeister Ibn-Firnas: Der hat sich schwer am Bein verletzt. Doch bei eigenen Versuchen mit dem Drachenfliegen greift Shef zunächst auf Knaben zurück, dann traut er sich selbst – mit viermal größerer Segelfläche.
|Erfindungen 3: Sprengstoff, Luftwaffe|
Von den Griechen klaut Shef das Geheimnis des Griechischen Feuers. Dies zusammen mit dem Drachenflug erlaubt ihm die Entwicklung einer Art Luftwaffe – die von den Christen natürlich sofort für Engel mit Flammenspeeren gehalten wird. Dass man solches Feuer auch werfen kann, demonstrieren seine Loki-Jünger vor Rom.
|Erfindungen 4: Buchdruck|
Die weitaus folgenreichste Erfindung Shefs dürften allerdings der Buchdruck mit beweglichen Lettern und die damit gedruckte Progaganda sein. Denn was nützen militärische Siege, wenn der Gegner weiterhin borniert und in alten Denkmustern verhaftet bleibt? Die drei Weltreligionen Christentum, Islam und Judentum sind allesamt Religionen des Buches: Neue Gedanken dürfen nicht gegen die niedergeschriebenen Glaubenssätze, das Dogma, verstoßen. Daher, so Shef, würden Araber nie richtig fliegen lernen: Es ist nicht Teil des Dogmas (dessen, was – von Wenigen, die dazu befugt sind – gelehrt wird).
Nachdem er den Ketzern der Pyrenäen eines ihrer heiligen Bücher abgeluchst hat, verbreitet Shef das alternative Evangelium, demzufolge Jesus von Nazareth gar nicht in den Himmel auffuhr, sondern putzmunter im Untergrund weiterlebte und fröhlich Kinder zeugte. Der heilige Joseph von Arimathaia holte den überhaupt nicht toten Religionslehrer mit einer Leiter (= Graduale oder Gral) vom Kreuz und verbarg ihn. Joseph wird im verbotenen Evangelium des Nikodemus erwähnt und ist im südenglischen Glastonbury kein Unbekannter …
|Erfindungen 5: Sexualaufklärung|
Wesentlich lustiger als solche Ketzerei ist jedoch die Verbreitung der Tricks und Tipps, die Svandis von den arabischen Frauen gelernt hat: Damit kann ein christlicher Mann, etwa ein Bischof, einer Frau, etwa einer Mätresse, beiwohnen, ohne mit ihr ein Kind zu zeugen, das er dann wieder teuer unterhalten müsste (es kostet Mitgift oder Lehrgeld). Die Autoren führen mehrere amüsante Beispiele für die Folgen der Lektüre solcher Bettratgeber an. Selber schuld, wer sich beim Lesen erwischen lässt – das Büchlein wird konfisziert und der Leser schier exkommuniziert oder nach Sibirien verbannt. Es gibt eben nichts Gefährlicheres, als über Sex Bescheid zu wissen.
Man kann sich leicht vorstellen, dass es stets eine gewisse Menge Text erfordert, um solche bahnbrechenden Erfindungen zu erklären und ihre Übernahme und Umsetzung zu schildern. Leider schaffen es die beiden Autoren nicht immer, die Geduld des Lesers nicht überzustrapazieren. Das war besonders an ein oder zwei Stellen in der Mitte der Fall. Das belegt aber einmal mehr, dass diese Trilogie nicht nur aus Abenteuerromanen besteht, sondern in erster Linie eine Art alternative Ideengeschichte ist: Was wäre, wenn …
|Die zweite Ebene: Lokis Ausbruch|
Wie gesagt, ist Shef der Sohn des Gottes Rigr. Immer wenn Shef ein gewisses Quantum von „Mutterkorn“, dem giftigen Belag von Roggenkörnern, genossen hat, bekommt er Visionen, zumindest lebhafte Träume. Er sieht dann das Geschehen in der Anders- oder Götterwelt, unter anderem kommuniziert er mit seinem Vater – der ganz bestimmt nicht sein Freund ist. Andersherum ist er dann dort selbst präsent (auch wenn Svandis dies vehement abstreitet).
So bekommt er mit, dass Loki zunächst von seinen göttlichen Brüdern wegen „Verrats“ in einer unterirdischen Höhle gefesselt und dem ätzenden Gift einer Schlange ausgesetzt worden ist. Eines Tages jedoch ist Loki frei (Shef weiß nicht, dass Rigr dafür verantwortlich ist) und auf Rache aus. Loki, der listenreiche Gott des Feuers, bietet Shef seine Hilfe an, wenn er ihm dient. In der Folge gelingt Shef die Nutzbarmachung des Griechischen Feuers und des Sprengstoffs.
Doch Shef hat eine Abneigung, Loki bei seiner Rache zu helfen. Schließlich lebt der Lichtgott Balder, für dessen Tod Loki verantwortlich gemacht wurde, ja noch, wenn auch hinter den Mauern von Hel. Und so schafft Shef schließlich auch in der Anderswelt, was ihm im Diesseits gelingt: Versöhnung zwischen zwei völlig unterschiedlichen Standpunkten. Es kommt eben darauf an, beiden Seiten etwas zu geben, was sie zufrieden stellt. (Wenn es nur immer so einfach wäre!)
_Für wen eignet sich dieses Buch?_
Freunde der |Recluce|-Fantasyromane von L. E. Modesitt könnten sich an manche Szenen erinnert fühlen: In einer archaisch-frühmittelalterlichen Welt tauchen Maschinen auf und schließlich sogar Raumschiffe („Sturz der Engel“).
Allerdings schildern Harrison und Holm die Entstehung solcher Erfindungen aus einem komplexen und durchdachten Umfeld heraus: Shef hat eine Philosophie des Suchens nach „Neuem Wissen“, die Teil der Religion des „Weges“ ist. Insofern wirken diese Anachronismen nicht aufgesetzt oder von Außenstehenden eingeführt (wie abgestürzte Raumschiffe), sondern von innen her erzeugt oder zumindest aufgenommen und weiterentwickelt. (Die Araber haben keinen Buchdruck entwickelt, lediglich die Grundlage.) Hieran dürfen sich Freunde der Kultur- und Ideengeschichte erfreuen.
Kritiker der Religionen des Buches (s. o.) und ihrer dogmatischen Lehren kommen ebenfalls auf ihre Kosten. Sie werden hier reichlich Munition finden.
Dass die wichtigsten Erfindungen dem militärischen Vorteil dienen, ist natürlich für Pazifisten nicht so schön. Andererseits wären die Träger der neuen Ideen ohne diese Vorteile schlicht und ergreifend vernichtet worden: Es war bekanntlich im Mittelalter weitverbreitete Sitte, Andersdenkende, „Ketzer“ genannt, aufzuknüpfen. Auch Judenprogrome waren in Mitteleuropa an der Tagesordnung.
Glücklicherweise kommt der Humor nicht zu kurz. Der richtet sich gegen zwei Mitglieder von Shefs Expeditionstrupp. Brand ist ein hochaufgeschossener Norweger, dessen Abstammung offenbar nicht ganz menschlich ist, jedenfalls was den homo sapiens angeht. – Und Svandis, die aufbrausende Atheistin an Shefs Seite – und in seinem Bett – weiß ab und zu durch ihre unorthodoxen Ansichten zu verblüffen: Sie nimmt Thesen der Psychoanalyse vorweg. Dadurch steht sie manchmal in den Augen ihrer männlichen Expeditionskollegen recht merkwürdig da. Denen ist es lieber, Visionen und seltsame Zufälle durch den Willen der Götter zu erklären.
|Originaltitel: King and Emperor, 1996
Übertragung aus dem US-Englischen & Glossar: Frank Borsch
Webseite des Autors: http://www.harryharrison.com|