Jo Nesbø (Nesboe)- Rotkehlchen (Harry Hole 3)

Ein alter Mann will sich für längst vergessenes Unrecht rächen und den norwegischen Kronprinz ermorden. Ihm kommt ein psychisch derangierter Polizeibeamter auf die Spur, die tief in die Vergangenheit und die aktuelle Neonazi-Szene des Landes führt … Eindrucksvoller Krimi mit dem skandinavisch üblichen sozialkritischen Touch, aber ohne Wallander-Tristesse, sondern spannend und mit trockenem Witz erzählt.

Das geschieht:

In Oslo, Norwegen, hört ein alter Mann vom Arzt sein Todesurteil. Doch er glaubt der Welt, die ihn um eine glorreiche Zukunft betrogen hat, noch etwas schuldig zu sein. „Daniel“ gehörte zur Nazi-Zeit zu jenen Norwegern, die Hitlers Wahnideen verfielen. Für den fernen „Führer“ ist er sogar in den Krieg gezogen, hat an der russischen Front Unbeschreibliches erlebt und durchlitten. 1945 stand er nicht auf der Seite der Sieger und wurde von seinen Landsleuten als Kollaborateur hart bestraft. Das hat er nie vergessen oder gar vergeben, und jetzt, da ihn die Krankheit bald umbringen wird, will er Rache nehmen und sich mit einem Donnerschlag aus dieser Welt verabschieden.

Er plant einen Mordanschlag, das Opfer steht rasch fest: Der norwegische Kronprinz soll fallen, das scheint Daniel angemessen. Zuvor will er einige offene Rechnungen präsentieren. Er nimmt Kontakt auf zur Neonazi- und Terroristen-Szene, die auch in Oslo erstarkt, und beschafft sich eine High-Tech-Attentatswaffe. Freilich erwächst dem verbitterten Attentäter unerwartet ein unkonventioneller Gegner.

Polizeiobermeister Harry Hole arbeitet als Ermittler bei der Mordkommission seiner Heimatstadt. Er ist ein guter Ermittler mit einem desolaten Privatleben sowie ein mühsam trockener Alkoholiker, der von Depressionen geplagt wird. In den letzten Monaten hat seine Kollegin Ellen Gjelten viel für ihn getan, und auch der Chef hält seine schützende Hand über ihn.

Eine Verkettung unglücklicher Umstände führt dazu, dass Hole während eines Präsidentenbesuches zur Streckenüberwachung eingeteilt wird und dabei einen Agenten des US Secret Service niederschießt. Um Presse und Öffentlichkeit abzulenken, wird Hole aus der Schusslinie genommen und durch Beförderung ruhig- und kaltgestellt. Man ernennt ihn zum Bezirksleiter beim polizeilichen Überwachungsdienst – ein Druckposten, der Hole nicht ausfüllt. Als ihm die Einfuhr einer Hochleistungswaffe gemeldet wird, die sich ideal für Attentäter eignet, geht er den spärlichen Spuren nach. Sie führen ihn nicht nur unter die neofaschistischen Möchtegern-Herren der Welt, sondern auch zurück in die dunkelsten Stunden seines Landes …

Präsenz der Vergangenheit

Eine trügerisch einfache Geschichte wird uns hier erzählt. Sie hat es freilich in sich: Was vergangen ist, bleibt durchaus nicht immer vergeben und vergessen, solange noch Zeitzeugen unter uns leben. Dass sie dies unauffällig, aber womöglich in größerer Zahl tun als uns dies normalerweise bewusst ist, vermag Autor Nesbø mit geschickt in die Handlung eingeflochtenen Anmerkungen immer wieder deutlich zu machen. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs starben deutlich mehr norwegische Kollaborateure als in den folgenden Jahrzehnten, lässt er zum Beispiel einen Geschichtsprofessor sagen. Noch sind sie also unter uns, die Täter wie die Opfer der Nazi-Zeit; ein Faktor, der naturgemäß stärker galt, als Nesbø „Rotkehlchen“ schrieb.

Was dies bedeuten kann, spinnt der Autor damit dramatisch überspitzt aus. Der rächende Attentäter gegen die überarbeitete Polizei: Die Konstellation ist sehr klassisch sowie effektiv. Das gilt besonders, wenn die daraus resultierende Geschichte so spannend wie hier erzählt wird. Sie springt immer wieder zwischen der Gegenwart des Jahres 2000 und den Jahren des Zweiten Weltkriegs hin und her und konterkariert die seltsame Welt der vergessenen bzw. nach 1945 peinlich verdrängten norwegischen Nazis mit dem globalisierten 21. Jahrhundert, wo vieles anders, aber kaum etwas besser geworden ist.

Der merkwürdige Titel dieses Romans stammt aus der Geheimsprache der Weltkrieg II-Frontkämpfer; ein „Rotkehlchen“ war ein toter Gegner, dem man mit dem Bajonett in die Brust gestochen hatte.

Angeschlagener Held gegen geschlagenen Rächer

Gelungen wie die Handlung sind Verfasser Nesbø auch seine Protagonisten. Dabei klingt die Beschreibung des Harry Hole zunächst wie ein Kompendium sämtlicher Cop-Klischees: ein einsamer, gemütskranker Mann in einem Land, in dem es ständig regnet oder kalt ist. Aber man lasse sich nicht täuschen, Hole hat sehr viel mehr mit seinem schottischen Kollegen John Rebus (von Ian Rankin) gemeinsam als mit dem ihm geografisch näher stehenden Kurt Wallander und dessen ähnlich dauerniedergeschlagenen Kolleginnen und Kollegen. Nesbø zwingt Hole nicht, das Elend dieser jammervollen Welt demonstrativ auf seinen Schultern zu tragen, sondern zeigt auch die eher komischen Seiten seines aus der Bahn getragenen Lebens. Das geschieht mit trockenem Witz, der nie auf die Kosten der überaus sympathischen Hauptfigur geht.

Daniel hat es da ungleich schwerer. Er steht stellvertretend für eine ganze Generation Verlorener, die eines der dunklen Kapitel der norwegischen Geschichte repräsentieren. Die „Quislinge“ -dieser Ausdruck ist als Synonym für „Vaterlandsverräter“ sogar in den deutschen Wortschatz eingegangen -, benannt nach Vidkun Quisling (1887-1945), dem von den Deutschen eingesetzten Marionetten-Regierungschef, der in Norwegen etwa die Rolle des französischen Generals Pétain übernahm (und ähnlich ‚beliebt‘ war), verfielen tatsächlich Hitlers Wahnideen; 7000 von ihnen kämpften aktiv im II. Weltkrieg, wie Nesbø festhält. Wieso sie dies taten, lässt sich erklären, aber schwer verstehen, und so wundert es nicht, dass sich die Norweger noch heute mit dieser Episode ungern auseinandersetzen: Auch außerhalb Deutschlands gibt es unbewältigte Vergangenheiten.

Anspruch ist keineswegs alles!

Nesbø versucht dies durch Daniel zu verdeutlichen. Das kann natürlich nur bedingt gelingen, eben weil ein Individuum nicht für eine Gruppe stehen kann. Im Rahmen eines erzählenden Werkes gelingt ihm jedoch eine eindrucksvolle Rekonstruktion. Die mit der Gnade der späten Geburt Gesegneten haben es immer leicht, nachträglich zu urteilen, aber mit vielen Rückblicken auf Daniels Leben verdeutlicht Nesbø, dass man es sich so einfach nicht machen darf.

Daniels späte Demaskierung als multiple bzw. geistig gestörte Persönlichkeit hebt die Eindringlichkeit dieses Charakterbildes zwar später ein wenig auf, fördert aber andererseits die Spannung: „Rotkehlchen“ ist eben primär ein Thriller, und es ist erfreulich, dass der Verfasser dies nie aus den Augen verliert!

Autor

Jo Nesbø wurde am 29. März 1960 in Oslo geboren. Er war zunächst als Finanzanalytiker und Ökonom für die norwegische Handelshochschule in Bergen tätig, arbeitete aber nebenberuflich als Journalist, bevor er sich als Schriftsteller selbstständig machte.

Schon für seinen ersten Kriminalroman „Flaggermusmannen“ (dt. „Der Fledermausmann“) wurde Nesbø 1997 mit dem norwegischen „Riverton“-Preis und 1998 mit dem „Glasnøkkelen“ für den besten skandinavischen Krimi des Jahres ausgezeichnet, „Rotkehlchen“ 2004 zum besten norwegischen Krimi aller Zeiten gekürt. Die Serie um den unkonventionellen, immer wieder von persönlichen Krisen geschüttelten Ermittler wird bis heute fortgesetzt. Neben weiteren Thrillern veröffentlichte Nesbø zahlreiche Kinderbücher, von denen „Doktor Proktors prompepulver“ (2007; dt. „Doktor Proktors Pupspulver“) auch verfilmt wurde.

Ebenfalls subtil, aber trotzdem volkstümlich ist die 1992 gegründete Pop-Band „Di Derre“. Frontmann, Vokalist und Komponist Jo Nesbø ist auch ein anerkannter Musiker, der nach Auskunft der Kritik gute Texte mit schwungvollen Popmelodien auf besondere Art verbindet.

Taschenbuch: 470 Seiten
Originaltitel: Rødstrupe (Oslo, 2000)
Übersetzung: Günther Frauenlob
jonesbo.com
www.ullstein-buchverlage.de

E-Book: 1310 KB
ISBN-13: 978-3-548-92066-5
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