Andreas Brandhorst – Die Tiefe der Zeit

Seit vielen Tausend Jahren führt die Menschheit Krieg gegen die geheimnisvollen Crul. Und seit ebenso langer Zeit erzählt man sich Geschichten von der Hauptstreitmacht des Feindes, die seit Ewigkeiten durch die Weiten des interstellaren Raums unterwegs ist, um eines Tages die Kernwelten der menschlichen Zivilisation zu vernichten. Der ehemalige Soldat Jarl, dem man Verrat und Mord zur Last legt, ist auf der Flucht vor den eigenen Verbündeten. Als Gejagter muss er die legendäre Erde finden, jenen mythischen Ursprungsplaneten der Menschen. Denn dort soll die größte aller Waffen lagern, eine Waffe, die den Krieg beenden und Frieden bringen kann. Jarls Suche führt ihn durch die Tiefe der Zeit. Doch er ahnt nicht, dass er nur ein Werkzeug in einem viel größeren Plan ist …

(Verlagsinfo)

Schon auf den ersten Seiten sorgt Andreas Brandhorsts besonderer Stil für das schnelle, sich seinem Universum öffnende Eintauchen, so dass man als Leser geneigt ist, die Zeit des realen Lebens zu vergessen und sich ganz in der Geschichte zu versenken. Brandhorst breitet erneut eine Welt einer zukünftigen Möglichkeit aus, mit Menschen, die sich gesellschaftlich, biologisch und geistig fortentwickelt haben und sich nun mit einem grundlegenden Problem konfrontiert sehen, einer Gefahr für alles, woran sie glauben und was sie definiert.

Es ist eine besondere Stärke des Autors, in jedem Roman eine neue Welt zu entdecken und mit Leben zu erfüllen. Stets stehen die Menschen an einem Scheideweg, der alles infrage stellt, was bisher als Grundlage ihrer Gesellschaft galt. Hier hat sich die Menschheit in der Galaxis ausgebreitet und dominiert ihr Gebiet. Der Klappentext schon verrät, dass es eine Zeit der Beinahe-Auslöschung gegeben hatte. Seither optimiert sich die Menschheit, erobert jeden Lebensraum, beherrscht und kontrolliert jede Spezies, auf die sie trifft, um jener den Aufstieg zu einer gefährdenden Macht zu verhindern. Und doch existiert ein Feind, der mit seinen Raumschiffen das Reich der Menschheit angreift und zu zerstören droht, von einer ähnlichen Kraft angetrieben scheint und alles in den Kampf investiert.

An dieser Stelle setzt die Geschichte ein auf zwei Handlungsebenen, die jeweils von einer Figur dominiert werden. Prizilla, die Suprema des Pakts der Menschen, stößt auf die Hinterlassenschaft einer längst ausgestorbenen Macht und gerät in ein unkontrollierbares Spiel aus Kontrolle, Intrige und Manipulation. Ihr gehört der erste Einblick in die Tiefe der Zeit – und sie sieht ihre Möglichkeiten und Gefahren. Jarl, der auf dem Klappentext benannte Soldat-der-keiner-sein-will, erfährt sein Leben lang die Kontrolle übergeordneter Instanzen, die Grausamkeit des Krieges und die enttäuschte Hoffnung junger Völker, ohne die Möglichkeit zu haben, sich selbst und sein Wesen zu leben und zu erkennen. Er ist das manipulierte Zentrum eines umfassenden Plans, der weit in Vergangenheit und Zukunft reicht.

Nachdem der handelnden Protagonistin, Prizilla, die Tiefe der Zeit offenbart wird, fokussiert der Roman über weite Teile auf eine eher weltliche, typische Military-SF-Handlung zwischen Intrigen und Kampf, die Andreas Brandhorst dazu nutzt, an der Seite der Figuren die Welt zu erleben und ihre Motivation zu ergründen. Der Titel des Buches rückt in den Hintergrund, spielt nur hin und wieder in die Innenwelt der Prizilla hinein, bleibt aber zwischen dem Anfang und dem Finale eine Möglichkeit ohne Handlungsrelevanz. Trotz dieser subjektiven Rückbesinnung auf einfache Abenteuergeschichten lässt Brandhorst hier über die Geschehnisse und Informationen, die Prizilla sammelt, dem Leser die Möglichkeit, sich eigene Gedanken zu den verbindenden Rätseln der Geschichte zu machen. Details, zu Beginn eingestreut, gewinnen im Verlauf Bedeutung, wenn sich der Leser ihrer entsinnt.

Jarl ist der Soldat der Geschichte. Ihm widmet der Klappentext die Hauptrolle, wir lesen jedoch vor allem über seine Träume und verlorenen Hoffnungen, seine Enttäuschung und seine Unfähigkeit, dem Leben eine Form zu geben. Er wird durch die Ereignisse bewegt, hat selbst selten Entscheidungsfreiheit. Über seine Ebene streut Brandhorst vor allem die Rätsel, auf denen der Roman aufbaut. Der unheimliche Feind gewinnt allerdings nie an Kontur. Es drängt sich fast die Vermutung auf, mit ihm am Ende des Buches eine der großen Überraschungen der Geschichte zu erleben – dies vorwegzunehmen, verbietet sich natürlich.

Im letzten Viertel kreuzen sich die Handlungsebenen, das Tempo nimmt zu und die Geschichte gewinnt ihre Komplexität zurück. Im Vergleich mit anderen Werken liegt in diesem Roman der inhaltliche Schwerpunkt auf den Erlebnissen der Figuren, während das komplexe Gesamtbild den Rahmen liefert und sich erst recht spät eine Auflösung abzeichnet. Doch braucht das Thema auch einen gewissen Boden, auf dem der Autor seine diesbezüglichen Gedanken ausbreiten kann. Die Zeit als Thema ist ein schwieriges Feld, das zwar schon vielfältig beackert wurde, jedoch oft zu Widersprüchlichkeiten und Handlungslöchern führt. Brandhorst wirft hier anfangs die Frage nach ihrer Konsistenz auf: Ist die Vergangenheit manipulierbar? Ist die Zukunft festgeschrieben? Welche Auswirkungen hat eine Entscheidung auf den Fortlauf der Geschichte? Genreimmanent tauchen Begriffe auf wie Paralleluniversen, Paradoxa, Unveränderlichkeit, Entscheidungsfreiheit … Begrifflichkeiten, über die vor allem Prizilla im Verlauf der Handlung nachdenkt und ihre Antworten sucht, so dass sich am Ende des Buches ihre Entscheidungen fundieren lassen.

Ein interessanter Punkt, der sich vor allem an Leser richtet, die sich in den brandhörsterlichen Universen auskennen: Man findet offensichtliche Bezüge zu früheren Werken; Brandhorst definiert damit sowohl seine Geschichten als Möglichkeiten als auch alle Welten als parallel existierbar. Das rief bei mir die Frage hervor, ob es eine Notwendigkeit hierfür gäbe – es durchbrach für mich also eine Grenze, die mein Geist um diese Lesewelt errichtet hatte. Man kann es nur hinnehmen und weiterlesen.

Natürlich findet man, wenn man sucht, auch die typischen Schwierigkeiten der Zeit-Komplex-Geschichten; Brandhorst lässt seine Figuren aber auf eine Weise Vorstellung davon gewinnen, dass diese scheinbaren Ungereimtheiten ihren Platz im Wesen der Zeit finden und nicht als übersehene Konsistenzbrüche gelten können. Und im Grunde, unter allen Abenteuern und Geschichten, geht es hier um die Fragen des Lebens: Was ist wichtig, was ist Moral, was bedeutet der Einzelne, und was ist Liebe?

Diese Fragen stellen sich subtil, werden nicht zum großen Themenkomplex erhoben, sondern schwingen eher zwischen den Zeilen mit, so dass es durchaus möglich ist, diesem Roman gesellschaftskritische Aspekte für unser heutiges Leben zuzuordnen. Die Kontroverse der Effektivität überall und jederzeit und dagegen die Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, die auf der Strecke bleiben. Diese Interpretationsfähigkeit hat mir an diesem Buch besonders gefallen, auch wenn sich zwischenzeitlich ein dringliches Erwartungsgefühl bei der Lektüre aufbaute, die Erwartung der Komplexität der Brandhorstschen Weltenschöpfungen. Mit ihr startet und endet das Buch, so dass es insgesamt ein tiefgründigeres Buch ist, als die oberflächliche Schale vorgaukelt.

Broschiert, 544 Seiten
Originalausgabe
Piper Verlag 3/2018
ISBN: 9783492704274

Das Buch beim Verlag
Über Andreas Brandhorst

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