Patricia Cornwell – Totenbuch. Ein Fall für Kay Scarpetta (Lesung)

Der Sandman treibt blutige Spiele

Die sechzehnjährige Drew Martin gilt als Shooting-Star am Tennishimmel. Nachdem man in Rom ihre furchtbar entstellte Leiche gefunden hat, schlägt der Fall international hohe Wellen. Deshalb bitten die italienischen Carabinieri Dr. Kay Scarpetta um Unterstützung. Bald wird klar: Der Mörder muss sich in den USA aufhalten. Und der Tennisstar war nicht sein letztes Opfer.

Die Autorin

Patricia Cornwell, 1956 in Miami geboren, war Polizeireporterin und Computerspezialistin am Gerichtsmedizinischen Institut von Virginia, bevor sie zu schreiben begann. Mit den Thrillern um ihr literarisches Alter Ego, die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, wurde sie zur „erfolgreichsten Thrillerautorin der Welt“ (|Der Spiegel|). Cornwell lebt nach ihrer 1989 geschiedenen Ehe mit Prof. Charles Cornwell mittlerweile in homosexueller Ehe mit Dr. Staci Ann Gruber in Richmond/Virginia und in Malibu/Kalifornien. (Verlagsinfo)

Die Sprecherin

Franziska Pigulla war Moderatorin bei |n-tv|, |SAT.1| und bei der |BBC| in London. Als eine der bekanntesten Sprecherinnen synchronisiert sie Gillian Anderson aus „Akte X“, Demi Moore, Fanny Ardant und Sharon Stone. Auch als Erzählerin bei „Galileo“-Dokumentation ist sie regelmäßig im Off zu hören. Für |HoCa| hat Pigulla bereits mehrere Romane vorgetragen:

– Blinder Passagier
– Das letzte Revier
– [Das fünfte Paar
– [Brandherd
– [Die Dämonen ruhen nicht
– [Defekt
– [Staub
– [Wer war Jack the Ripper? – Portrait eines Killers
– Die Tote ohne Namen
– [Body Farm – Das geheime ABC der Toten

Pigulla liest eine von Rainer Scheer gekürzte Fassung. Regie führte Vlatko Kucan. Die Aufnahme erfolgte bei |TrueMuze Rec.| in Hamburg.

Handlung

Auf einer Baustelle nahe Roms wird im April 2007 die furchtbar entstellte Leiche der amerikanischen Tennisspielerin Drew Martin gefunden, und weil der Fall international hohe Wellen schlägt, ziehen die italienischen Carabinieri die Gerichtsmedizinerin Dr. Kay Scarpetta und ihren Kollegen, den Forensiker Benton Wesley, Ex-FBI, als Berater hinzu. Drew Martin, das zeigen die dreidimensionalen Fotos, wurde erdrosselt, doch danach schnitt der Täter der Leiche Fleisch aus dem Po und Oberschenkel heraus. Ihre Augen wurden durch Sand ersetzt und dann wieder zugeklebt. Seltsamerweise findet sich in dem Sand auch Schießpulver.

Kay Scarpetta und der „Sherlock Holmes von Rom“, Capitano Otto Poma, können sich auf keinen Todeszeitpunkt einigen. Das wäre aber entscheidend für eine Rekonstruktion des Tathergangs. Was beide nicht wissen: Der Täter ließ die Sechzehnjährige lange Zeit ein Bad in Eiswasser nehmen. Außerdem hatte sie zwei Promille Alkohol intus. Sogar beim Abendessen mit Poma geht der Streit weiter, obwohl sich der Capitano an Kay heranmacht. Kaum ist er fort, macht Benton seiner Eifersucht Luft. Er ist mit Kay schon lange zusammen, obwohl er sie einmal mit seinem vorgetäuschten Tod (in „Die Dämonen ruhen nicht“) sehr verletzt hat. Als er ihr die Verlobung anbietet, akzeptiert sie.

Kay fliegt wieder zurück in ihr Institut in Charleston, South Carolina. Poma erwähnte beim Abendessen, Drew Martin sei letzten Herbst in der TV-Show der Psychotherapeutin Dr. Marilyn Self aufgetreten und habe sehr intime Fragen beantworten müssen, etwa die, ob sie noch Jungfrau sei (mit sechzehn). Dr. Self hasst Kay, seit diese vor Gericht erwirkt hat, dass die Geschworenen Self eine Teilschuld in einem besonders üblen Serienmörderfall zusprachen (in „Defekt“). Seitdem überzieht Self Kay mit üblen Verleumdungen und Beleidigungen in ihren Mails und Newslettern, von der TV-Show ganz zu schweigen.

Von Benton erfährt Kay, dass ein Dr. Paolo Maroni Dr. Self in das gleiche Krankenhaus in Boston aufgenommen habe, an dem er, Benton, arbeite. Sie verstecke sich dort, weil sie sich vor einem Patienten, den sie den „Sandman“ nennt, fürchte. Er habe ihr E-Mails geschickt, in denen grausige Bilder seiner Opfer zu sehen waren. Bei einem der Bilder handelte es sich um die tote Drew Martin. Kann das Foto echt sein, fragt sich Self. Sie fürchtet auch die Antwort. Benton und Kay erfahren von diesen Mails und Bildern, weil Kays Nichte Lucy Farinelli von Josh, dem Systemadministrator des Krankenhaus-Netzwerks, das Zugangspasswort bekommt. Allerdings übergeben sie ihren Fund nicht der Polizei oder dem FBI, sondern ermitteln auf eigene Faust.

Kay und Lucy werden erheblich von diesem Thema abgelenkt, als Kays Faktotum Pete Marino, ein Ex-Bulle, seine neue Freundin Shandy Snookes, die prollige Erbin eines Firmenvermögens, in Kays Institut führt. Lucy traut ihren Augen nicht, als sie über die Überwachungskameras beobachtet, wie sich diese Schlampe Kays Kittel anzieht und Marino sie in den Autopsiesaal einlässt. Dort liegt die Leiche eines kleinen Jungen aufgebahrt, der kürzlich gefunden wurde, und Shandy bricht seltsamerweise in Tränen aus. Ist sie mit dem Kleinen verwandt?

Die Ankunft des Leichenbestatters Lucius Maddick lenkt Marino ab, und als er sich wieder seiner Freundin zuwendet, nutzt Maddick die Gelegenheit, das Totenbuch Kay Scarpettas durchzublättern, ihr Empfangsverzeichnis für Leichen. Wie viele Fehler will sich Marino denn noch leisten, fragt sich Lucy. Bald verschwinden alle drei. Benton, der die Sache per Fernleitung angesehen hat, wundert sich gewaltig über Marino. Was ist bloß aus Kays Beschützer geworden?

Unterdessen taucht Dr. Maroni bei Capitano Poma in Rom auf. Dr. Self sei untergetaucht, meldet er. Poma bedauert das sehr, denn Dr. Selfs „Sandman“ habe schließlich einen wichtigen Hinweis zu dem Mord an Drew Martin geliefert: das Foto der Ermordeten. Maroni enthüllt nun, dass auch er diesen „Sandman“ behandelt habe. Es handle sich um einen Amerikaner, der im Irak in einem Gefängnis wie Abu Ghraib gefoltert habe und nun in die USA zurückgekehrt sei. Welcher Art seine Verbindung zu Dr. Self sei, wisse er nicht genau. Poma ist empört darüber, dass Maroni nicht mit dem Namen des Mannes herausrückt. Er verständigt Benton Wesley, der schon bald Maroni die gleichen Vorhaltungen macht, allerdings vergeblich. Auch Dr. Self rückte nicht mit der Sprache heraus, bevor sie untertauchte. Benton ist sicher, der Sandman habe bereits sein nächstes Opfer im Visier. Da hat er völlig recht.

Um Kays Haus treiben sich zunehmend mehr zwielichtige Gestalten herum. Da ist zum einen Lucius Maddick, der sich von Kay schlecht behandelt fühlt, weil ihm die Gerichtsmedizinerin keine Aufträge verschafft. Doch in der dunklen Gasse hinter ihrem Haus stößt er unverhofft auf einen Gegner, der stärker ist als er.

Kay will eine Aussprache mit Pete Marino wegen seiner Eskapade im Institut. Doch Marino ist sturzbetrunken. Statt auf ihre Fragen und Vorhaltungen einzugehen, fällt er plötzlich über sie her, um sie zu vergewaltigen. Der Hüne erweist sich als viel zu stark, um seinen Angriff abwehren zu können. Kay greift sich die Pistole, die hinten in Marinos Gürtel steckt …

Mein Eindruck

Dass die zwei Fälle Drew Martin und der kleine Junge in Charleston zusammenhängen, stellt sich zwar erst nach einiger Zeit heraus, aber es gehört zum Strickmuster jedes Cornwell-Krimis, solche entlegenen Fälle zu verknüpfen. Am Schluss liegt den Ermittlern stets ein fast lückenloses Netz von Verknüpfungen vor. Nur selten wissen wir mehr als Kay Scarpetta und ihre Helferschar, wenn es um die Aufklärung von Verbrechen geht. Man nehme beispielsweise den Fall Lydia Webster, die in ihrer Villa auf der noblen Halbinsel Hilton Head ermordet wird. Zusammen mit dem Täter erleben wir den Anfang des Anschlags auf sie, doch wie es dann weiterging, muss Kay für uns aufklären. Das gleiche Spiel findet sich im Fall Drew Martin.

|Der Erlöser|

Interessant sind natürlich die Figur des Killers und seine seltsame Motivation. Er behauptet nämlich von sich, seine Opfer zu befreien, von ihrem Elend zu erlösen. Das mutet ganz besonders zynisch an, wenn wir erfahren, dass er ein Gefängniswärter im Irak war und dort mit seinen Gefangenen machen durfte, was er wollte. Man denkt sofort an den notorischen Fall Abu Ghraib. Wenn man jedoch erfährt, dass er Drew Martin in ein Eisbad steckte und offenbar von ihr und Lydia Webster Körperstücke abschnitt, erscheint er auch als Kannibale. Das ist dann noch wesentlich erschreckender. Doch wie lässt er sich stoppen, fragt sich Scarpetta.

|Scrubs: Schreckliche Ärzte|

Richtig makaber mutet es dann an, wenn sie erfährt, dass sowohl Dr. Self als auch Dr. Maroni in Boston diesen „Sandman“ zu ihren Patienten bzw. therapeutischen Kontakten gezählt haben. Sie meldeten ihn keineswegs wie andere Bürger der Polizei, sondern suchten diesen Fall für sich und ihre TV-Show auszuschlachten. So hat es ja Dr. Self (ein treffender Name für eine Egozentrikerin) schon mit Drew Martin gemacht, der sie eine Gehirnwäsche verpasste. Nach einer Weile weiß man nicht mehr, ob man die Therapeuten nicht mehr fürchten sollte als ihre Patienten.

|Familienbande|

Aber der Roman handelt auch von einer Familientragödie. Ohne zu viel verraten zu wollen, ist doch bald klar, dass Dr. Self, Dr. Maroni, Shandy Snookes, der tote kleine Junge im Fluss und der Sandman miteinander zusammenhängen. Scarpetta und ihre Quasi-Familie stehen dieser finsteren Sippe als die „Guten“ gegenüber. Allerdings macht dabei Marino keine besonders gute Figur, sondern ist sich selbst das größte Hindernis. Nach seinem Angriff auf Kay ist es Dr. Self, Kays Erzfeindin, eine hohe Ehre, diese Neuigkeit Kays Verlobtem Benton Wesley genüsslich unter die Nase zu reiben. Das Leben hält ja so viele köstliche Momente bereit!

|Der Krieg kommt nach Hause|

Am Schluss wird auch das Rätsel des Sandes gelöst, der mit Schießpulver vermischt ist. Er findet sich auf einer der Inseln, die wie Sullivan’s-Insel, von der schon Poe schrieb, vorgelagert sind und auf der ein im Bürgerkrieg umkämpftes Fort stand – ergo Schießpulver im Sand. Kay fällt die Verbindung zwischen Sandman und Militär sofort auf – auch hier hat mal eine „Operation Desert Storm“ stattgefunden. Nur dass der Krieg im Fall des Sandmans nach Hause gekommen ist.

Die Sprecherin

Franziska Pigulla setzt auch hier wieder ihre tiefe Altstimme ein, zum Grausen und Schaudern des weiblichen Publikums, wie ich aus Kommentaren weiß. Doch nur auf diese Weise kann sie glaubwürdig autoritäre Kerle wie Benton Wesley und besonders Pete Marino darstellen. Sie lässt den besoffenen Marino nuscheln, lallen und gähnen. Dem Capitano Otto Poma verpasst sie einen fremdländischen Akzent, der aber nicht unbedingt italienisch klingt.

Dass die weiblichen Figuren allesamt in einer höheren Lage intoniert werden, versteht sich von selbst. Lucy, Kay und Dr. Self sind aber keine schwachen Maiden, sondern voller Energie und Absicht. Dr. Marilyn ist eine falsche Schlange, die mit dem sanftesten Stimmausdruck die schlimmsten und ätzendsten Verdächtigungen, Unterstellungen und Beleidigungen vorbringt. Die arme Kay hat diesem hinterlistigen Angriff nur wenig entgegenzusetzen außer überlegenem Wissen. Die prollige Shandy, Marinos zeitweilige Freundin, ist ebenfalls ein Ausbund an Gehässigkeit, doch sie zeigt ihren Hass und ihre Verachtung wenigstens offen.

Es gibt weder Musik noch Geräusche in dieser Lesung, und so muss die Sprecherin für die ganze Unterhaltung durch Steuerung der Emotionen des Hörers sorgen. Keine geringe Aufgabe, die aber die Pigulla mit Bravour, wie ich finde, bewältigt.

Achtung, Mut zur Lücke!

Durch die Kürzungen des Textes wurde ich immer wieder herausgefordert, die offensichtlichen Lücken, die beim Kürzen entstanden, zu schließen. Der Redakteur Rainer Scheer rechnet offensichtlich mit einem Hörer, der nicht nur aufmerksam, sondern auch intelligent genug ist, zwei und zwei zusammenzuzählen. Insbesondere wenn sich der Hörer wundert, woher die Figur X die Information über die Figur Y hat. (Woher wusste Dr. Self so schnell über Kays Beinahe-Vergewaltigung Bescheid, hm?)

Das ist ein etwas anderes Hörerlebnis als bei den Hörbüchern von |Lübbe Audio|, in denen es kaum je Lücken gibt (zum Glück). Ich würde sogar von einem elliptischen Stil sprechen, wobei Ellipse nichts mit der Geometrie zu tun hat, sondern mit dem lückenhaften Stil eines Textes voller Leerstellen.

Unterm Strich

Als der Roman in Rom anfing und italienische Commissarios auftraten, befürchtete ich bereits, es könnte sich um einen Abklatsch von Thomas Harris‘ [„Hannibal“ 3139 handeln, der bekanntlich das schöne Florenz zu einem Ort des Grauens macht. Aber dann begibt sich die Story doch wieder in die gewohnten Gefilde, die wir schon aus „Defekt“, „Staub“ und „Die Dämonen ruhen nicht“ kennen. Das Personal umfasst die gewohnten Satelliten Kay Scarpettas sowie ihre Erzfeindin Dr. Self. Man füge noch einen kompetenten Serienmörder hinzu, der etwas von seinem Handwerk versteht, und fertig ist eine explosive Mischung, an die die Autorin nur noch die Zündschnur legen und entzünden muss.

Der Mangel an Action sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass, wie bei Cornwell üblich, sich ein Netz der Gefahren um unsere ach so kompetente und integre Heldin Scarpetta zusammenzieht. Das sorgt für denjenigen, der entsprechende Geduld aufbringen kann, für ordentliche Spannung. Cornwell erzählt eben nicht so fein säuberlich sortiert wie Kathy Reichs, um mal im Milieu der Gerichtsmediziner und Forensiker zu bleiben.

Forensiker haben es inzwischen zu TV-Serien [(„Bones“) 3355 gebracht, und von diesem TV-Niveau will sich die Autorin ganz klar abheben. Im Fernsehen sind die Ermittlerinnen unantastbar, nicht so Kay Scarpetta: schier vergewaltigt, fortwährend beleidigt und schließlich sogar körperlich angegriffen, muss sie sich durch allerlei persönliche Gefahren retten.

Das Hörbuch

Franziska Pigulla liest ausgezeichnet vor wie eh und je, doch scheiden sich an ihrer Stimmlage offenbar die Geister. Ich finde sie klasse. Etwas Kopfzerbrechen bereitete mir jedoch der lückenhafte Stil, für den Pigulla nichts kann, sondern der auf das Konto des Redakteurs Rainer Scheer geht, der den Text zu kürzen hatte.

Originaltitel: Book of the Dead, 2007
Aus dem US-Englischen übersetzt von Karin Dufner
6 CDs
ISBN-13: 978-3-455-30534-0

http://www.hoca.de
http://www.patriciacornwell.com

https://hoffmann-und-campe.de/

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