Robert Holdstock – Avilion (Ryhope Wood Zyklus 8)

Die Kraft von Rot und Grün: Showdown im Mythenwald

Im uralten Ryhope-Forst, dem Mythenwald, entstehen Mythen-Imagos, und sie faszinieren die Menschen so, dass diese ihnen folgen, mit oft unerwarteten Folgen. Steven, der Sohn des Mythago-Forschers George Huxley, folgt Guiwenneth, der Kriegerkönigin, in den Wald und erkämpft sie von seinem Vater und seinem Bruder, die sie ebenso lieben, für sich.

Ihre Kinder Jack und Yssobel sind im Mythenwald aufgewachsen, folgen aber unterschiedlichen Bestimmungen. Yssobel sehnt sich nach einem Wiedersehen mit ihrer verschwundenen Mutter, die im Innersten des Waldes, in Avilion, existieren könnte. Doch Jack ahnt, dass ihr Gefahr droht. Um mehr über Guiwenneths und Yssobels Mythen zu erfahren, dringt er bis an den Rand des Waldes vor und kehrt in das Haus seines Großvaters zurück. Dort erfährt er, welche Gefahr seiner Schwester droht, und muss eilen, sie zu retten.

Der Autor

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an Sword and Sorcery-Romanen, u.a. mit Angus Wells.

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts auf. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

In Holdstocks keltischer Fantasy befindet sich in diesem Urwald, der kollektiven Unbewussten C. G. Jungs entspricht, erstens ein Schacht, der mit weiterem Vordringen ins Innere immer weiter zurück in der Zeit führt. Eines der wichtigsten und furchtbarsten Ungeheuer, Urscumug, stammt beispielsweise aus der Steinzeit. Und zweitens finden bei diesen seelischen Nachtreisen durch die Epochen permanent Verwandlungen, Metamorphosen statt. So verwandelt sich die Hauptfigur Tallis in „Lavondyss“ schließlich in eine Dryade, einen Baumgeist. Das ist äußerst faszinierend geschildert.

Am Ende der Nachtreisen warten harte Kämpfe, die auch in psychologischer Hinsicht alles abverlangen, was die Kontrahenten aufbieten können. Und es ist niemals gewährleistet, dass die Hauptfiguren sicher und heil nach Hause zurückkehren können. Denn im keltischen Zwielicht, das noch nicht durch das christliche Heilsversprechen erleuchtet ist, scheint am Ende des Weges keine spirituelle Sonne, sondern dort wartet nur ewige Nacht. Es ist also die Aufgabe des Autors darzulegen, wie dieses schreckliche Ende vermieden werden kann.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. Mythago Wood (1984; Mythenwald)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. The Bone Forest (1991; Sammlung)
4. The Hollowing (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inkl. Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. Gate of Ivory (2000)
8. Avilion (2009)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. The Broken Kings (2007)


Vorgeschichte

Als der Soldat Steven Huxley 1947 aus dem Krieg nach England in sein Elternhaus Oak Lodge zurückkehrt, bemerkt er an seinem Bruder Christian, der dort abgeschieden und allein lebt, eine merkwürdige Veränderung. Chris ist, wie schon seit Vater vor ihm, in den Bann des nahen Ryhope-Forsts geraten, eines Überrests der Urwälder aus der Frühzeit des Menschen. Dort treiben seltsame Gestalten ihr Unwesen und verwehren jeden Zutritt. Diese töteten auch Christians Ehefrau, eine keltische Frau namens Guiwenneth, die aus dem Wald stammte. Eigentlich hatte Steven erwartet, ein fröhliches Ehepaar vorzufinden. Hat ihr Verschwinden Christian in so trübsinnige Stimmung versetzt? Steven wagt nicht, danach zu fragen, bis es zu spät ist: Christian verschwindet im Forst.

Als Chris zurückkehrt, bestätigt er dies und drängt Steven, endlich Vaters Tagebuch zu lesen. Das Tagebuch berichtet ihm, dass dieser Wald, den er geheimnistuerisch erkundete, ein Ort der Magie und des Mythos sei, an dem die Zeit ihren eigenen Gesetzen folge. Durch die menschliche Imagination entstehen dort wie durch einen Resonanzboden die Sagengestalten der Menschheit wie Artus und Robin Hood als Nothelfer, aber auch viele weit ältere und schrecklichere Wesen. All diese nennt Stevens Vater „Mythagos“, d.h. Mythos-Imagos – Abbilder, wie sie den Archetypen im kollektiven Unbewussten des Menschen gemäß C.G. Jung entsprechen. Der älteste Mythago überhaupt sei der Urscumug, und diesen wollte George Huxley zeit seines Lebens finden.

Guiwenneth

Chris macht ein unerwartetes Geständnis. „Seine“ Guiwenneth sei gar nicht von ihm erschaffen worden, sondern von seinem Vater, der eine Gefährtin im Wald suchte: das Urbild der Kriegerprinzessin. Doch Christian nahm sie ihm weg und lebte mit ihr monatelang im Wald. Bis sie schwächer wurde und er den Fehler machte, sie ins Haus zu bringen. Dort starb sie, erschossen von Mythagos, mit einem Pfeil im Auge. Wenig später fand er seinen Vater halbtot am Waldrand, der kurze Zeit später ebenfalls starb. Chris gibt die Hoffnung nicht auf, Guiwenneth durch den Wald wiederzuerschaffen, und kehrt dorthin zurück.

Der Rachegeist

Steven wartet monatelang vergebens auf ihn, doch im eisigen November 1947 mehren sich die Spuren eines unheimlichen eberähnlichen Wesens in der Nachbarschaft von Stevens Zelt. Wie in einer Explosion der Gewalt brechen dann Christian und der Urscumug selbst aus dem Dickicht hervor. Chris kann seinen Bruder gerade noch vor dem riesigen Ebermenschen in Sicherheit bringen, doch dann zieht er dessen Aufmerksamkeit auf sich und verschwindet, der Verfolger ihm nach.

Steve ist wie geschockt durch das plötzliche Wiedersehen. Chris sah wie ein starker Krieger der Steinzeit aus, mit tödlichen Speeren bewaffnet. Doch der Urscumug war noch weitaus erschreckender. Das Wesen hat sein Gesicht weiß angemalt, und dieses Gesicht gehört Steves Vater! Chris hat den Schrecken des Waldes in der innersten Zone geweckt, seitdem verfolgt dieser ihn. Denn eines ist klar: Der Urscumug will Rache für den Raub Guiwenneths, den Chris begangen hat!

Handlung

Am Peredur-Stein

Jack und Yssobel sind die Kinder von Steven und Guiwenneth. Doch nachdem ihre Mutter eines Tages aus der römischen Villa, wo die Familie lebt, verschwunden ist, versucht Yssobel, sie wiederzu finden. Doch Guiwenneth ist ein Mythago, der ins Herz des Waldes, nach Lavondyss alias Avilion zurüchgekehrt ist. Am Stein von Peredur, Guiwenneths Vater, einem edlen Kriegerfürsten, ruft Yssobel den Geist ihrer Mutter.

Sie vernimmt den Lärm einer Schlacht, die jenseits eines Hügels tobt. Als sie vorsichtig hinüberspäht, sieht sie, wie der stolze König tödlich verwundet wird. Sie bringt sich in Sicherheit, bis plötzlich der Reiter neben ihr zusammenbricht. Einem Impuls gehorchend, nimmt sie seine königliche Rüstung an sich und legt sie an, um selbst zu kämpfen…

Am Waldrand, in Oak Lodge

Jack ist ebenso ein Halbblut aus Mensch und Mythago. Er braucht ein Jahr, um an den Rand des Waldes zu gelangen, wo das Haus seines Vaters und Großvaters als Ruine fortbesteht. Hier beschwört er den Geist des Mythagoforschers George Huxley herbei, der auch tatsächlich erscheint. Sein Großvater schreibt in ein altes Schulheft seines Sohnes Steven, während Jack ihm Yssobels und Guiwenneths Namen ins Ohr flüstert. George kann seinen Enkel nicht sehen, nur hören.

Und tatsächlich schreibt er eine kleine mythische Geschichte auf: Wie Guiwenneth als Tochter von Peredur seiner Königin unter dem Zeichen von neun Adlern – wie kennen ihre Gefährten, die Jaguth, bereits aus „Lavondyss“ – geboren wurde und zur Kriegerkönigin heranwuchs. Zu Yssobel schreibt George Folgendes: Zunächst waren Guiwenneth und ihre Tochter enge Freunde, doch eines Tages benutzte sie verletzende Worte, und fortan herrschte Streit im Hause. So verschwand Guiwenneth und kehrte zurück nach Lavondyss, vorbei am Stein von Peredur, auf den Lippen das Lied von den Inseln der Verlorenen, die nur über eines der fünf Tälern zu erreichen sind, die vom Stein wegführen.

Unter Menschen

Das Lied von den Inseln der Verlorenen – Jack kennt es ebenso gut wie Yssobel, aber am Stein von Peredur war er noch nie. Er ahnt, dass Yssobel Gefahr droht. In einer Nacht tauchen am Haus gefährliche Elfen auf: Amurngoth, hochgewachsen und darauf aus, Kinder zu stehlen. Die gestohlenen Kinder vertauschen sie gegen Wechselbälger, die aber von Eingeweihten mit einem bestimmten Zauber als Holzstücke zu erkennen sind. Jack vertreibt die Amurngoth mit der Drohung eines Eisenpfeils, denn Elfen verabscheuen Eisen. Er warnt die Einwohner des nächsten Dorfes, das Shadoxhurst heißt und in dem ein Mythago als Ratgeber der Bewohner lebt.

Nachdem Jack von der Gefahr erfahren hat, die Guiwenneth und Yssobel droht, macht er sich auf dem schnellsten Wege zum Herz des Waldes auf, wo sein Elternhaus, die Villa, hoffentlich noch steht. Bevor er dort eintrifft, bemerkt er, dass die Amurngoth einen Jungen entführt haben, den Jack in Shadowxhurst kennenlernte. Auch eine menschliche Frau lebt bei ihnen. Er kann sich aber nicht um die beiden kümmern, sondern eilt nach Hause. Und obwohl eine unterirdisch wandernde Armee hier durchgezogen ist, steht die Villa immer noch, wenn auch in schlimmem Zustand.

Die Villa

Der gesamte zweite Teil des Buches ist eine Rückblende auf das Leben in der Villa vor dem Verschwinden Guiwenneths und dem Aufbruch von Yssobel und Jack. Während Yssobel ins Innerste des Waldes gehen will, nach Avilion alias Lavondyss, will Jack erst das Äußerste des Waldes erforschen, sein Elternhaus und das Land der Menschen. Beide besitzen jedoch sowohl Mythago –als auch Menschenanteile – Grün und Rot – und können nicht über die ihnen gesteckten Grenzen hinaus existieren. Deshalb kann Jack nicht in Shadoxhurst bleiben, doch welche Grenzen wird Yssobel erfahren?

Aufbruch

Indem er seinen Vater zurücklässt und mit den Amurngoth einen Handel abschließt, bricht Jack (am Ende des 2. Teils) mit dem entführten, namenlosen Menschenjungen Richtung Avilion auf, um Gewissheit über das Schicksal seiner Mutter und seiner Schwester zu erfahren. Es wird eine lange Reise.

Guiwenneth

Jacks Schwester ahnt nicht, dass ihre Mutter der Armee der Toten namens LEGION gefolgt ist, um bei deren Anführer zu sein. Dabei handelt es sich um keinen anderen als Stevens Bruder Christian, der „Mythenwald“ brutal gegen Steven um den Besitz Guiwenneths kämpfte. In Lavondyss ist Christian wieder auferstanden: ein furchtbarer, brutaler Kriegsherr. Als er den Ruf seiner ehemaligen Geliebten vernimmt, lässt er LEGION kurzerhand kehrtmachen. Als sich ihm ein Unterfürst entgegenstellt, macht er ihn kalt, ohne lange zu fackeln. Die anderen Unterführer kuschen und folgen Christian in eine andere Dimension von Raum und Zeit, wo Christian Guiwenneth spürt. Doch Christians Nahen verheißt nichts Gutes für Guiwenneths Tochter…

Yssobel

In der Schlacht am Peredur-Stein erhält kein anderer als König Artus eine todbringende Wunde von seinem unehelichen Sohn Morthdred. Yssobel schaut mit Schrecken und Faszination zu, wie die Recken Artus umringen und auf eine Totenbahre betten. Doch Yssobel ist auf der Mission, ihrer Mutter zu folgen, und die weilt eben jenseits des Sees von Avilion, dort wo die Inseln der Verlorenen liegen. Das Schicksal sieht vor, dass von dort ein Boot mit zwei Königinnen der Toten kommt, um Artus, den Gefallenen, heimzuholen.

Doch Yssobel weiß dies zu verhindern und begeht so ein folgenreiches Verbrechen: Indem sie seine prächtige Königsrüstung anlegt und sich selbst an seiner Statt in das Boot der Abholer legt, raubt sie ihm den legitimen Tod, der ihm zusteht. Das wird er ihr nie verzeihen, und wenn sie bis ans Ende der Welt segelt…

Mein Eindruck

Mit seinen Romanen und Erzählungen über den mythenreichen Ryhope Wood hat sich Robert Holdstock inzwischen einen festen Platz auf der Landkarte der Fantasy-Reiche und –Universen erobert. Die Initialzündung für diesen beachtlichen Erfolg schuf er mit „Mythago Wood“ im Jahr 1984 (dem gleichen Jahr, in dem auch William Gibsons „Neuromancer“ die SF-Szene umkrempelte). Ich habe alle Mythago Wood-Romane besprochen. Nun folgt mit „Avilion“ überraschenderweise die direkte Fortsetzung des ersten Romans der Reihe. Solchen Sequels stehen wir generell skeptisch gegenüber, denn in ihrer Qualität können sie meist dem Original nicht das Wasser reichen.

In seiner Vorbemerkung, in der er kurz den ersten Roman rekapituliert, schreibt Holdstock, dass diese eine Geschichte über das Blut und das Grün sei. Damit hat er völlig recht: Dies ist das Generalthema, doch die Aussage davon liegt in der Hauptwirkung dieser Kombination: Wiederauferstehung. Die Kombination aus menschlichem Blut-Rot und dem Grün des Waldes ist die Überwindung des Todes. Der Weg dorthin führt über die Liebe.

Verfolgungen

Es ist aber zunächst eine Geschichte aus Verfolgungen. Steven Huxley ist seiner Liebe Guiwenneth in den Wald gefolgt, hat mit ihr zwei Kinder in diese seltsame Welt gebracht: Jack und Yssobel sind sowohl von menschlichem Blut (das Rot in ihnen) als auch Produkte des Waldes (das Grün). Diese besondere Kombination macht sie zu mehr als Sterblichen und verleiht ihnen die Fähigkeit, sich mit dem Wald und seinen Kreaturen zu vereinen, zu verständigen und die Gestalt zu wechseln. Als Jack schließlich auf seine grüne Hälfte, den Wald-Bewohner, verzichten muss, bringt ihn das fast um, und der Verlust macht ihn melancholisch.

Die zweite Verfolgung erfolgt durch Yssobel, die ihrer verschwundenen Mutter nachspürt, um sie zurückzuholen. Doch wie wir später erfahren, befindet sich Guiwenneth auf einer Rache-Mission: Sie will Christian, Stevens Bruder, der sie einst raubte und tötete, zur Rechenschaft ziehen und selbst umbringen. Deshalb schließt sie sich der Legion der Toten an, die Christian anführt.

Die dritte Verfolgung sieht Jack seiner Schwester Yssobel nachspüren. Um sie zu finden, geht er zunächst zu Stevens altem Domizil Oak Lodge und spricht dort mit seinem Großvater George. Tatsächlich erhält er einen wertvollen Hinweis. Nach einem Zwischenstopp in der Villa bricht er ins Zentrum des Waldes auf, nach Avilion, das von Guiwenneth „Lavondyss“ genannt wird (siehe den gleichnamigen Roman). Er erreicht Yssobel in jenem kritischen Moment, zu dem die verschiedenen Handlungsstränge hinführen.

Showdowns

Denn Yssobel hat ein Verbrechen begangen und wird nun ihrerseits von Artus, ihrem Opfer, verfolgt, damit sie mit dem Leben dafür büßt. Wie vorauszusehen, kommt es zu mehreren Showdowns mit Guiwenneth und Christian einerseits, Jack, Yssobel und Artus andererseits. Diese zentrale Szene findet am See von Avalon / Avilion, den wir alle aus den Legenden um König Artus kennen, und bildet das Gegengewicht zu jener Szene am anderen Seeufer, in der Yssobel ihren Frevel begeht und Artus’ königliche Rüstung klaut und anlegt. Sie erwirbt damit quasi das Ticket für die Abholung für die Diener des Todes, die Waylander – zwei Krähengöttinen namens Narine und Uzana. Der Betrug muss, das versteht sich, wird ausgeglichen und gebüßt werden – durch ein schweres und großes Opfer…

Der Wald als Generator

Was für den modernen Leser am schwierigsten nachzuvollziehen ist, sind sicherlich all diese Pseudo-Tode und Wiederauferstehungen. Was ist das zugrundeliegende Prinzip für dieses Phänomen, fragt man sich. Um das zu verstehen, gilt es zu berücksichtigen, was die NATUR des WALDES ist, in dem sich all dies abspielt: Der Wald erzeugt – quasi als Sammelbecken für alle Legenden und Geschichten – aus den verstorbenen Legenden sowie aus den Gedanken und Emotionen seiner Bewohner ständig neue Wesen, seien es Legenden wie Artus und Odyssseus oder Wesen wie Baumnymphen und Elfen (die Iaelven, denen Jack begegnet und die keineswegs angenehm sind).

Der WALD ist also ein mächtiger Generator von Legendenfiguren und anderen Wesen, die hier ein Leben nach dem Tod erleben. Ganze Welten befinden sich darin, denn die LEGION kann zwischen diesen Welten wechseln. Was in einer Welt gestorben ist, kann in einer anderen Welt wiederauferstehen (natürlich unbemerkt von den Sterblichen außerhalb des Waldes).

Dennoch ist der WALD keineswegs mit den biblischen, muslimischen und buddhistischen Vorstellungen von der Jenseitswelt zu vergleichen. Denn die Entwicklung der Bewohner kommt nicht zum Stillstand, sondern geht durch die Interaktion mit den anderen Bewohnern ständig weiter. Dabei gehorcht die Entwicklung stets dem Gesetzt des Ausgleichs und des Gleichgewichts. Darüber wachen die Krähengöttinnen und andere Kreaturen, die der Autor schon früher erfunden hat..

The Field of Tartan

Es gibt ein weiteres Generalthema, das der Autor quasi für seinen 2008 verstorbenen Vater eingebaut hat: das „Field of Tartan“, das archetypische Schlachtfeld. In einem der angehängten Gedichte gleichen Titels beschreibt der Autor, wie sein Vater im Sommer 1916 an der Somme gegen die Deutschen kämpfte. Die schottischen Regimenter in ihren Tartans gingen zuerst aus dem Schützengraben und wurden bis auf den letzten Mann von „eisernen Wind“ aus den Maschinengewehren niedergemäht. Die zweite Welle sah die Engländer vorwärtstürmen – und fallen auf ein „Feld aus Tartans“ und nicht in Schlammlöcher. Die psychologische Wirkung war dermaßen, dass sie weiterstürmten, bis sie den Gegner erreichten und die Schotten rächen konnten.

Die ästhetische wie auch die inhaltliche Wirkung dieses Gedichts trägt für mich sehr zur Gesamtwirkung des Buches bei und führt zu einem Pluspunkt in der Endwertung. Die Aussage lautet, wie ich meine, folgendermaßen: Seit der ersten legendären Schlacht zwischen Artus und seinem Sohn Mordred hat der Gefallene ein Recht auf einen ehrenvollen Tod.

Dazu ist es unbedingt notwendig, dass ihm nicht nur Ehre widerfährt, indem man ihm die beste Rüstung anzieht, sondern auch, dass er nach Avalon, ins Reich der Toten übergesetzt wird. Yssobels Verbrechen besteht darin, dass sie Artus beides raubt: „Sie stiehlt ihm einen Tod.“ Angewendet auf die gefallenen Schotten müsste man sagen, dass es eine elende Schande gewesen wäre, wenn die Engländer ihren Ehrentod missachtet hätten. Denn die Ehrung der Toten ist das Minimum an Weiterexistenz nach dem Tod, das die Sterblichen ihren Toten erweisen können (gestern, am.9.4.2010, wieder bei der Totenfeier in Berlin zu erleben).

Schwächen

Dennoch weist das Buch unübersehbare Besonderheiten auf, die es mir unmöglich machten, es in einer Tour auszulesen. Ich würde nicht unbedingt von Schwächen sprechen. Aber erstens tritt durch die zahlreichen Szenen in der Huxley-Familie und zwischen deren Mitglieder das Gegenteil von Spannung ein, nämlich Entspannung. Die einzige Ausnahme bildet die Konfrontation zwischen Yssobel und ihrer Mutter, denn wie kann die Tochter es wagen, die Rachepläne ihrer Mutter zu stören?

Von Action kann man auch nicht gerade sprechen, so etwa in der Artus-Schlacht oder in den diversen Showdowns. Die Kämpfe werden recht lapidar und einfach, ohne jede Effekthascherei dargestellt. Dafür mag die Altersabgeklärtheit des Autors verantwortlich sein, der vom Schicksal seines Vaters gelernt hat, dass Kampf und Tod nichts sind, was voyeuristische Gelüste befriedigen sollte.

Deshalb muss der Autor Spannung durch andere Mittel erzeugen. Dazu gehören die verschiedenen Rätsel, die die Figuren lösen müssen, aber auch die stetige Annäherung der Figuren aneinander, bis sie zwischen dem See von Avilion und der Waldfestung, wo LEGION lagert, aufeinandertreffen, um ihrem Schicksal zu begegnen. Damit dies spannend ist, setzt es jedoch voraus, dass wir mit den Figuren empathisch mitfühlen und um ihr Schicksal bangen. Bei Yssobel und Jack fällt dies leicht, weniger jedoch bei Christian und Guiwenneth, von dem reinkarnierten Peredur und Artus ganz zu schweigen. Wahrscheinlich sollte man dieses vielschichtige und weitverzweigte Buch am besten zweimal lesen.

Liebe und Humor

Wie hoffentlich deutlich geworden ist, tauchen in dieser Geschichte viele verscheidene Arten von Liebe auf. Yssobel liebt ihre Mutter, Jack liebt Yssobel, Yssobel liebt Odysseus (ja, den jungen Helden aus der „Ilias“), Yssobel und Jack lieben ihren Vater und bewegen ihn, wieder nach Oak Lodge zurückzukehren. Jack verliebt sich dort in Julie, denn ohne seine „grüne“ Hälfte ist nun ausschließlich Mensch und Mann, so dass er eine Ergänzung braucht. Der Schluss ist ziemlich versöhnlich. Selbst der Junge Won’t Tell, der den Roman hindurch seinen Namen nicht verraten will, damit die Iaelven keine Macht über ihn erhalten, begegnet seiner Liebe – und kehrt zurück in den WALD.

Der Humor blitzt nur selten auf. Man findet ihn vordergründig zwischen den beiden zentralen Geschwistern, weil Jack es ertragen muss, dass Yssi ständig irgendwelche Verse über ihn schmiedet – und diese dann auch noch lauthals hinaussingt! Das ist jedoch eher neckisch gemeint, ebenso wie das Geplänkel zwischen Yssi und ihrem Lover Odysseus.

Die ernsthaftere Form des Humors liegt jedoch in einer durchgehenden Ironie begründet. So täuschen die beiden Krähengöttinnen Yssobel und Jack über ihre wahren Absichten hinweg. Auch Yssi täuscht die beiden Totengeleiterinnen, indem sie vorgibt, der gefallene König Artus zu sein. Doch für beide Vorfälle wird stets ein Preis gefordert, und dieser hebt die komische Seite der Ironie wieder auf.

Unterm Strich

Die direkte Fortsetzung seines schönen Fantasy-Bestsellers „Mythago Wood“ führt den Autor Holdstock zu einem Abschluss seines Zyklus um den Mythen erzeugenden Wald Ryhope Wood. Es fällt schwer, sich eine Fortsetzung zu „Avilion“ vorzustellen (obwohl der Verlag garantiert schon danach schreit). Für Neulinge, die jetzt erst auf das Universum des Mythenwaldes stoßen, wäre es auf jeden Fall besser, erst die zwei ersten Romane (siehe obige Liste) des Zyklus zu lesen, als mit „Avilion“ anzufangen – dies ist der Abschluss einer Entwicklung.

Wie immer gefiel mir die Rückkehr in den Mythenwald ausnehmend gut, doch diesmal machte es mir der Roman nicht gerade leicht, mich über die langsame Mitte der Geschichte hinwegzukämpfen, um mit den diversen Showdowns zu nähern. Die Mitte ist doch ein wenig zu kuschelig in ihrer Familienseligkeit. Aber der Fortgang Guiwenneths wirft einen ersten Schatten auf die Huxleys, und Yssobels Verfolgung ihrer Mutter erzeugt den Zerfall der Familie. Der Zerfall wird erst ganz am Schluss wieder aufgehoben. Doch wo bleibt Guiwenneth, Stevens große Liebe? Nur hier ließe sich noch eine Fortsetzung vorstellen, aber wozu?

Etwas merkwürdig mag es den Außenstehenden anmuten, von Guiwenneth (= Guinevere) und Artus in der gleichen Geschichte zu erfahren – und dann doch keine gemeinsame Szene mit den beiden zu erleben. Dies widerspricht allen Legenden, die um Artus gesponnen wurden. Lady Guinevere ist bei Holdstock lediglich ein Mythago – und zwar eine Schöpfung der Huxley-Männer, die am Rande des WALDES leben. Insofern ist die Hand der Dame bereits vergeben. Artus geht leer aus.

Action-Fans kommen hier nicht auf ihre Kosten. Wenn es zu Kämpfen kommt, werden sie lapidar und knapp geschildert. Vielmehr legt der Autor auf Spannung, die aus der Entwicklung der Figuren selbst heraus erzeugt wird. Sie bewegen sich deshalb aufeinander zu, bis sich ihr Schicksal in der Konfrontation entscheidet. Generalthema bleibt weiterhin Wiederaufstehung, die Aufhebung des Trodes. Weitere Generalthemen sind die Mischung aus Mensch und WALD in den Geschwistern sowie das Thema des ehrenvollen Todes.

All dies reicht für eine faszinierende Lektüre für den Kenner, doch der Großteil der geschichte erschließt sich dem Neuling erst nach Kenntnis der ersten beiden Romane des Zyklus. Diese Mühe lohnt sich jedoch, wie ich in den entsprechenden Berichten erläutert habe.

Taschenbuch: 352 Seiten
Sprache: Englisch

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