Wilde, Oscar / Gruppe, Marc / Bosenius, Stephan – Bildnis des Dorian Gray, Das (Gruselkabinett 36/37)

Kunst oder Leben: schaurig-schöne Parabel

Teil 1: London in den 1890er Jahren: Basil Hallward, ein talentierter Maler, verliebt sich in den jungen Dorian Gray und will seine faszinierende Jugend und Schönheit in einem Porträt festhalten. Dorian, durch den Anblick seiner selbst hingerissen, äußert den kühnen Wunsch, dass er nie altern, sondern das Bild dieses Schicksal auf sich nehmen solle. Dafür wäre er sogar bereit, seine Seele zu opfern …

Teil 2: Dorian Gray gibt sich, verführt durch den charismatischen Lord Henry Wotton, ganz den sinnlichen Gelüsten eines zügellosen Lebens hin und fällt in einen Strudel der Leidenschaften. Doch weder die Zeit noch die Exzesse hinterlassen Spuren auf seinem jugendlichen Gesicht. Einzig sein Porträt verändert sich auf eigentümliche Weise. Doch wer es zu Gesicht bekommt, ist des Todes … (abgewandelte Verlagsinfo)

Die Doppelfolge läuft im |Gruselkabinett| unter den Nummern 36 und 37.

Der Autor

Oscar Wilde, 1854 bis 1900, war ein anglo-irischer Schriftsteller, Dichter und Dramatiker, der zunächst Märchen und Gedichte schrieb, bevor er sich dem Drama zuwandte. 1891, kurz nach Veröffentlichung des „Dorian Gray“, verfasste er seine bekannten und noch heute gespielten Gesellschaftskomödien, so etwa „Lady Windermere’s Fan“ (doppeldeutig) und „The Importance of Being Earnest“ (ebenfalls doppeldeutig). Seine Liebe zu dem jungen Sinclair brachte ihm jedoch Unglück, denn die Marquess of Queensberry verklagte ihn des „unzüchtigen Auftretens als Somdomit“ (sic!), und er wurde wegen „groben Verstoßes gegen die guten Sitten“ (gross indecency) zu Zuchthaus verurteilt. Im Zuchthaus von Reading verfasste er sein letztes Werk: „The Ballad of Reading Gaol“. Diese bedauerliche Beendigung einer brillanten Schriftstellerkarriere ist einzigartig in den Annalen der britischen Kunst.

Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Erzähler: Hasso Zorn (David Kelly)
Dorian Gray: David Turba (Shia LaBeouf, Zac Efron)
Basil Hallward: Axel Malzacher (Tom Hollander, Cary Elwes)
Lord Henry Wotton: Tom Vogt (Rupert Everett, Aaron Eckhart, Laurence Fishburne, Clive Owen, Jonathan Frakes …)
Lord George Fermor, Henrys Onkel: Engelbert von Nordhausen (dt. Stimme von Samuel L. Jackson)
Lady Agatha: Regina Lemnitz (dt. Stimme von Kathy Bates)
Lady Brandon: Melanie Pukaß (dt. Stimme von Halle Berry, Helena Bonham Carter)
Lady Narborough: Cathlen Gawlich (Jennie Garth, Jaime King)
Hzgn. von Harley: Marianne Lutz (Lily Tomlin, Geneviève Bujold, Geraldine Chaplin)
Mr. Erskine: Lutz Mackensy (Christopher Lloyd, Rowan Atkinson, Al Pacino)
Lady Victoria Wotton: Ulrike Möckel (Meg Ryan, Geena Davis, Marcia Gay Harden)
Mr. Isaacs, Theaterdirektor: Andreas Mannkopff (John Candy, Tim Curry)
Mrs. Vane: Dagmar von Kurmin
Sybil Vane: Kristine Walther
James Vane: Dennis Schmidt-Foß (Chris Evans, Freddie Prinze jr. und Scott Speedman)
Parker, Butler: Bodo Wolf (Christopher Walken, William H. Macy, Tobin ‚Jigsaw‘ Bell)

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand in den |Planet Earth Studios| statt und wurde bei |Kazuya| abgemischt. Die Illustration stammt von Firuz Askin.

Handlung

Im Juni 189x stellt der englische Maler Basil Hallward das Porträt des jungen Dorian Gray fertig. Lord Henry Wotton lobt den Maler und regt eine Ausstellung an. Doch Hallward ist strikt dagegen, denn in dem Bild „stecke zu viel von ihm selbst“. Hallward hat offenbar Angst, der Zyniker und Poseur Wotton könnte seinen geliebten Adonis verderben, von dem er ihm nicht einmal den Namen verrät. Vor zwei Monaten lernte Hallward den Jungen bei einer Gesellschaft Lady Brandons kennen, die Grays Mutter gekannt hatte. Lady Agatha, eine Wohltäterin, hat Gray zum Klavierspielerin in den Elendsvierteln von East End und Whitechapel engagiert.

Während der ersten Begegnung Wottons mit Dorian Gray erklärt der Gentleman ihm seine Philosophie: Da die Unterdrückung des Genießens krank mache, sei es am gesündesten, seine Gelüste und Leidenschaften auszuleben. Dadurch werde man von ihnen geheilt. Jugend und Schönheit, die Dorian Gray offensichtlich im Übermaß zu eigen sind, seien vergänglich. „Leben Sie jetzt, Gray! Die Welt wird Ihnen zu Füßen liegen.“ Diese Worte fallen auf offene Ohren.

Als Hallward das Bild vor Dorian enthüllt, ist Wotton begeistert, doch Dorian zittert vor Furcht um seine Jugend und Schönheit. Dieses Bild wird im Gegensatz zu ihm nie altern. Er gäbe sogar seine Seele dafür, wäre es umgekehrt! Bei der ersten Falte wolle er sich umbringen. Er ist eifersüchtig auf das Porträt. Hallward ahnt, wer an dieser Reaktion schuld ist, und klagt Wotton an. Er macht sogar Anstalten, das Bild zu zerstören. Doch das will Dorian auch nicht, und Hallward übereignet es ihm. Wotton nennt beide töricht und fragt: „Welcher ist der echte Dorian Gray – der Mensch oder das Bild?“ Er lädt Dorian ins Theater, und der willigt freudig ein. Hallward bleibt traurig zurück.

Von seinem Onkel Fermor erfährt Wotton die Vorgeschichte und Herkunft Dorian Grays. Als Enkel von Lord Kelso und Sohn von Lady Devereaux, deren Mann auf Betreiben Kelsos im Duell getötet wurde, ist Gray steinreich. Seine unglückliche Mutter starb ein Jahr später, so dass er auch noch eine Vollwaise ist. Sobald Dorian volljährig ist, kann er ein unermessliches Erbe antreten. Jetzt weiß Wotton, wer seine Schulden bezahlen wird, und beschließt, den Jungen zu beherrschen.

Doch selbst er wird von Dorians Verliebtheit überrascht. Dorian gesteht ihm, die junge Schauspielerin Sybil Vane zu lieben, die an einem kleinen Wandertheater so wunderbar die Julia spielt. Er nennt sie „engelsgleich“, sie rühre ihn zu Tränen. Wotton ist angeödet, denn er hatte schon viele Schauspielerinnen. Unterdessen besucht Dorian das Theater weiterhin, um Sybil anzuhimmeln. Der Theaterdirektor bietet ihm mehrmals an, Dorian zu ihr zu führen, und nach einer Weile gibt der junge Mann nach. Auch Sybil ist sehr angetan von ihm und nennt ihn ihren Märchenprinzen. Er beschließt, sie aus diesem unsicheren Leben herauszuholen.

Die Vanes haben eigene Pläne. Sie haben das Geld für das Reiseticket für Sybils Bruder James zusammengekratzt, der nach Australien auswandern will. Die Mutter warnt vor der Untreue der Männer, denn ihre Kinder sind unehelich aufgewachsen. Sybil schwört zwar auf Dorians lautere Absichten, doch James ist nicht so naiv. Er schwört, den Mann umzubringen, der seine Schwester ins Unglück stürzt. Dann reist er ab. Kurz darauf macht Dorian ihr einen Heiratsantrag.

Um zu beweisen, was für eine wunderbare Frau und Schauspielerin Sybil ist, lädt Dorian Wotton und Hallward ins Theater ein. Zu Dorians Entsetzen spielt Sybil furchtbar schlecht, und das ausgerechnet als Julia in der Balkonszene. Seine Freunde wenden sich mit Grausen. Hinterher stellt er Sybil zur Rede. Sie verteidigt sich, dass die echte Liebe, die er ihr erwiesen habe, ihr die Schattenbilder der Shakespeare-Stücke wertlos haben erscheinen lassen, und deshalb habe sie absichtlich schlecht gespielt. Dorian akzeptiert dies nicht und beendet die Beziehung, was die ungläubige Sybil bestürzt. Sie tötet sich mit Gift, fast genau wie ihre Theaterfigur Julia.

Als Dorian nichts ahnend nach Hause kommt, betrachtet er das Porträt, das inzwischen mit einem schönen Rahmen versehen bei ihm in der Wohnung hängt. Es erscheint ihm verändert. Da ist ein Zug von Grausamkeit um seine Mundwinkel. Dorian staunt und erinnert sich an seine eigenen Worte in Hallwards Atelier. Das Bild drückt tatsächlich aus, was ihm widerfährt, und offenbart seine Seele.

Am nächsten Morgen bereut er seine Worte zu Sybil und schreibt ihr einen Versöhnungsbrief. Doch der wird nie abgeschickt, denn zuvor erscheint sein Mentor Lord Harry Wotton mit der schrecklichen Nachricht, die bereits in allen Zeitungen stehe: Sybil hat sich vergiftet. Zum Glück hat niemand seinen Schützling bei der Dame gesehen. Dorian geht mit Wotton in die Oper, denn offensichtlich lässt sich jetzt nichts mehr für die Verblichene unternehmen, ohne sich selbst zu kompromittieren. Er ahnt, dass das Bild mehr weiß als er selbst. Soll es doch die Zeche für alle seine Exzesse und Missetaten zahlen, die er noch begehen will!

Das Bild ist wohl versteckt in einem abgelegenen und abgeschlossenen Zimmer seines Hauses, zu dem nur er den Schlüssel hat. Keiner darf sehen, wie sehr es sich verändert, während die Jahre vergehen. Und er will kein weiteres Bild von sich, versteht sich. Im Verlauf von 20 Jahren nimmt das Gesicht im Bild das Aussehen einer grauenvollen Fratze an, während er selbst zum Erstaunen und der Verwunderung seiner Bekannten nicht altert. Zunehmend reagiert man mit Misstrauen auf ihn und meidet seine Gegenwart. Dagegen nimmt er eben mehr Opium.

Am Tag vor seinem 38. Geburtstag besucht ihn sein alter Freund Basil Hallward, der kurz vor der Abreise nach Paris steht. Die Koffer sind schon am Bahnhof, nun will er noch kurz bei Dorian vorbeischauen. Ob wohl ein Blick auf sein Bild möglich wäre? Hallward weiß, wie man Dorian gegenübersteht, den er geliebt hat. Dorian ist unerwartet großzügig und gewährt Basil Zutritt zum Haus, will ihm sogar das Bild zeigen. Angst packt Hallward, aber die Neugier ist stärker. Zusammen steigen sie die schmale Treppe zum alten Schulzimmer hinauf, in dem das Bild hängt. Es soll Hallwards letzter Gang werden …

Mein Eindruck

Oscar Wilde entfachte mit seinem ersten Roman, den er 1890/91 veröffentlichte, Proteststürme unter seinen Zeitgenossen. Er verletzte nämlich den prüden viktorianischen Moralkodex mit voller Absicht, indem er ihn durch einen narzisstischen Ästhetizismus ersetzte: Die Kunst soll nicht mehr das Leben imitieren, sondern sich selbst genüge sein. (Hier folgte er den Lehren Walter Paters und der französischen Symbolisten.)

Sinnenlust, Liebesfrust

Damit nicht genug, zeigte er als Helden seines Romans einen Bisexuellen, der sich, wie sich zeigt, mit allerlei Männern und zweifelhaften Frauenzimmern vergnügt – nur nicht mit Basil Hallward, seinem Porträtisten. Vielmehr lässt Dorian Gray, angeleitet von seinem Mentor und einem französischen Roman „die Sau raus“. Dieser Roman ist höchstwahrscheinlich ein Buch des Autor Joris-Karl Huysmans namens „A rebours“ (1884; dt. „Gegen den Strich“). Huysmans („Tief unten“) wurde zwar später katholischer Klosterbruder, doch in „A rebours“ zeigt er einen Lebemann, der alle Genüsse auskostet, um, wie Lord Wotton sagt, durch die Sinne die Seele von ihren vergeblichen Wünschen zu heilen.

Fortan können Dorian Gray Menschen wie die Schauspielerin Sybil Vane nicht mehr als Quelle der Freude, sondern nur als Vermittler von schönen Eindrücken und Genüssen dienen. Als Sybil diese Rolle verweigert, weil sie „etwas Besseres als Schattenbilder“ gefunden hat, nämlich Liebe, tobt er und lässt sie sofort fallen. Er will ja gar nicht Echtheit, sondern nur Show, solange es seine Sinne kitzelt. Da beißt sich die Katze des Ästhetizismus in den Schwanz.

Das Bildnis

Das zeigt sich, wie Wilde klugerweise symbolisch darstellt, am Schicksal des Bildnisses. Zu Beginn imitiert dieses Kunst-Werk noch das Leben, wie es in Jugend und Schönheit vor dem Künstler Basil Hallward steht. Doch als Dorian seine Seele quasi dem Teufel verkauft, verhält sich, anders als sonst, dieses Kunst-Werk wie das Leben. Diesen Betrug darf niemand mitbekommen, damit Dorians Betrug in der echten Gesellschaft fortbestehen kann. Dorian ist ein Falschmünzer des schönen Scheins.

Der Betrug kann allerdings nicht ewig weitergehen, denn ein Menschenleben ist nun mal endlich, im Gegensatz zur Kunst, die potenziell unsterblich ist – getreu dem Barockmotto „ars longa, vita brevis“. Als Dorians Nemesis für Sybils Freitod in Gestalt ihres Bruders auftaucht, will Dorian moralische Umkehr leisten, in der Hoffnung, so auch das Abbild seiner Untaten und Sünden verschönern zu können. (Was nur einem Protestanten einfallen kann, der weder Beichte noch Absolution kennt.) Dass diese Hoffnung enttäuscht wird, führt Dorians rasches Ende herbei. Erst dann kommen körperliche Wahrheit und künstlerische Wahrheit wieder zu ihrem Recht, allerdings auf ziemlich schaurige Weise.

Die Inszenierung

Der erste Teil des Doppelhörspiels führt den Hörer zu zwei Höhepunkten. Der positive Höhepunkt ist die Liebesgeschichte mit Sybil Vane, die schrecklich endet. Der zweite Höhepunkt sieht die Rückkehr von Dorians erstem Gönner Basil Hallward, doch der Besuch endet tödlich. Am Schluss bangt man, welche Schrecken dieser zum Wüstling gewordene Narziss noch bereithalten könnte. Ich dachte sofort an die „Gefährlichen Liebschaften“, wo Valmont, Dorians Gegenstück, die Unschuld verdirbt und den Verteidiger der Tugend tötet.

Der zweite Teil sieht erst einmal die Erpressung eines alten „Freundes“, um Hallwards Leiche fachgerecht zu entsorgen. Zu den Begegnungen mit seiner Vergangenheit gehören weitere Ex-Lover und Huren, doch entscheidend ist der Auftritt von James Vane, der seine Schwester rächen will. Nur durch einen ironischen Zufall gelingt ihm dies nicht: Er lässt Dorian laufen, weil dieser Jüngling ja unmöglich der fast 40 Jahre alte Wüstling sein kann, den James sucht! Das gibt Dorian Anlass zur inneren Umkehr, besonders nach James‘ Tod.

Er sagt sich von seinem Verführer und Mentor Lord Wotton los, der inzwischen ein alter Knacker ist, von seiner Frau verlassen wurde und nun einem nicht ganz einsamen Lebensabend entgegensieht: Er will den jungen Lord Poole verführen. Dorian geht sogar so weit, ihn zu bitten, Poole das teuflische Buch nicht zu schenken. Die Hoffnung, seine Selbstbesserung im Bildnis wiederfinden, wird auf grausame Weise zerschlagen … Die Diener fragen sich, wie die entstellte Leiche eines alten Mannes eigentlich in dieses sonst abgeschlossene Zimmer gelangt sein kann. Wahrlich ein (ironisches) Mysterium.

Die Sprecher

Die Hauptrolle spricht mit David Turba ein bekannter Synchronsprecher, der als Stimmbandvertretung von Zac Efron hervorgetreten ist. Turba spricht seinen Part erst zaghaft-schüchtern, was ja Dorians Jugend (20) angemessen ist, dann jedoch mit zunehmendem Selbstbewusstsein, je mehr Dorian zum gewissenlosen Wüstling wird. Erst am Schluss, nach diversen Todesfällen und einem eigenhändigen Mord, kehrt sich diese Selbstsicherheit in ihr Gegenteil um: Verunsicherung. Dem folgt der pure Horror.

Tom Vogt spielt Dorians Mentor mit der tiefen, autoritären Stimme eines väterlichen Verführers. Sein Part ist definitiv der fieseste. Basil Hallward, glaubhaft gesprochen von Axel Malzacher, ist eine tragische Figur: Seine Liebe wird alsbald enttäuscht, und selbst als Entsagender entgeht er nicht einem denkbar unverdienten Schicksal. James Vanewird von Dennis Schmidt-Foß gesprochen, der seine Stimme bereits den jungen Schauspielern Chris Evans, Freddie Prinze jr. und Scott Speedman lieh.

Von den Frauenparts bleibt einem am ehesten noch zwei Damen im Sinn: erstens Lady Agatha, die von der bekannten Stimme Regina Lemnitz‘ gesprochen wird, die wir als die von Kathy Bates wiedererkennen. Zweitens ist dies die Figur der Sybil Vane, die allerdings von der mir unbekannten Kristine Walther gesprochen wird. Sie weiß aber nichtsdestotrotz ihren Part der Julia in Shakespeares Romanze mal gefühlvoll, mal erbarmenswert schlecht zu sprechen. Dieser Unterschied entscheidet ja über Dorians Ge- oder Missfallen an ihr. Dorian liebt ja ihre Rolle, nicht die Aktrice, ein folgenreicher Irrtum.

Geräusche

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. Knarrende Türen deuten einen Durchgang an und das Rumpeln einer Droschke eine entsprechende Fahrt von A nach B. Gewundert habe ich mich darüber, wie es kommt, dass sämtliche Türen in Dorians neuem Haus so schlecht geölt sind, dass sie vernehmlich knarren und ächzen.

Musik

Als erstes fiel mir an der Musik die wundervoll gespielten Chopin-Passagen auf. Sie dienen stets dazu, Dorian Gray als Klavierspieler und somit Künstler darzustellen und zu legitimieren. Die Ironie dabei ist, dass er zunächst auf Wohltätigkeitsveranstaltungen seiner Tante Lady Agatha auftritt, später aber nur noch für sich und enge Freunde spielt. Das markiert seine Abwendung vom Wohl der Allgemeinheit hin zum Privatvergnügen.

Zugleich wird das Piano aber noch für ein weiteres Motiv eingesetzt. Es ist ein leises Tröpfeln von Tönen, das ich in den letzten |Gruselkabinett|-Hörspielen und |Lübbe|-Hörbüchern des Öfteren bemerkt habe. Das Tröpfeln ergibt noch keine Melodie, sondern ist eine Vorstufe. Es erzeugt so eine emotionale Spannung, die aufgelöst werden will. Manchmal ist das Piano mit einer Flöte kombiniert.

Dies sind die stillen Passagen der Einkehr zwischen Passagen voll Ungestüm und Dynamik. Dann ist das ganze Orchester gefragt, um beispielsweise romantische Liebe, Verzweiflung, Trauer oder kommendes Unheil zu signalisieren. Eine Sonderrolle spielt die Musik in der Theateraufführung von „Romeo und Julia“. Sie ist dann eine Musik der zweiten Ebene, eine Darstellung (Theater) in einer Darstellung (Hörspiel). Entsprechend funktional klingt die Musik dann auch.

Musik, Geräusche und Stimmen wurden so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von |Titania Medien|. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Firuz Akin fand ich wieder einmal sehr passend und suggestiv.

Unterm Strich

Im Nachhinein bin ich etwas erstaunt, dass es sich |Titania Medien| erlaubt hat, diesen Stoff auf zwei Folgen von insgesamt nicht weniger also 152 Minuten auszuwalzen. Andererseits ist mir keine Aufnahme bekannt, die jemals dem Original gerecht geworden wäre. Obwohl ich das Original schon als Jugendlicher gelesen habe (wer hätte das nicht?), ließ ich mich deshalb gerne noch von einigen neu anmutenden Szenen überraschen, sei es der Freitod Sybils oder der Mord an Basil Hallward.

Die Geschichte schildert auf ihre symbolisch verschlüsselte Weise den Betrug an der Natur durch eine Lebensanschauung, die auf Befriedigung von Sinneslust ausgerichtet ist. Das mag freilich unchristlich erscheinen, doch wenn dabei niemand zu Schaden kommt, ist es auch heute erlaubt. Das ändert sich, als erst Sybil, dann Basil und schließlich mehrere Freunde und Widersacher Dorians sterben. Die moralische Schuld zeigt sich wie auf einem grafischen Bankkonto (was man in der Computerei ein „Dashboard“ nennt) anhand des sich schaurig verändernden Bildnisses, das Dorians Seele widerspiegelt.

Das Wechselspiel von Kunst und Leben wird hier vom Autor sinnfällig illustriert und mit dem Handlungsverlauf kommentiert. Es stimmt nicht, dass Oscar Wilde keinerlei Moral kannte. Er hatte nur eine, die weiter entwickelt war als die der Mehrheit seiner Landsleute und Zeitgenossen. Er lebte mehr nach französischer Lebensart und Denkweise, folgerichtig las er französische Romane wie „A rebours“, und dort verbrachte er auch seine letzten Jahre. Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise fand er unweit des Grabes von Jim Morrison seine letzte Ruhe, der ja bekanntlich ebenfalls ein Freigeist war.

Das Hörspiel

Das Team von |Titania Medien| hat sich mal wieder ins Zeug gelegt, um ein stimmungsvolles Hörspiel zu inszenieren, das zugleich schaurig-schön wie ein Schauerstück der Schwarzen Romantik ist. Besonders David Turba als Dorian und Tom Vogt als Lord Wotton gefielen mir. Die Nebenfiguren stimmen ebenfalls und überzeugen durch Kompetenz. Den Erzähler hätte man fast weglassen können, denn er tritt meist als Stimme der „richtigen“ Moral auf.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Stimmen von Hollywoodstars einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Augen- bzw. Ohrenmerk sollte man auf das ungewöhnlich eingesetzte Piano richten und auf die wundervoll gespielten Stücke von Chopin.

Basierend auf: The picture of Dorian Gray, 1891
ca. 152 Minuten auf 2 CDs
ISBN-13 der Doppel-CD-Ausgabe: 978-3-7857-4142-9

http://www.titania-medien.de

Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:

[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
[„Das Amulett der Mumie“ 1148 (Gruselkabinett 2)
[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
[„Die Unschuldsengel“ 1383 (Gruselkabinett 5)
[„Das verfluchte Haus“ 1810 (Gruselkabinett 6)
[„Die Totenbraut“ 1854 (Gruselkabinett 7)
[„Spuk in Hill House“ 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
[„Frankenstein. Teil 1 von 2“ 2960 (Gruselkabinett 12)
[„Frankenstein. Teil 2 von 2“ 2965 (Gruselkabinett 13)
[„Frankenstein. Teil 1 und 2“ 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
[„Die Blutbaronin“ 3032 (Gruselkabinett 14)
[„Der Freischütz“ 3038 (Gruselkabinett 15)
[„Dracula“ 3489 (Gruselkabinett 16-19)
[„Der Werwolf“ 4316 (Gruselkabinett 20)
[„Der Hexenfluch“ 4332 (Gruselkabinett 21)
[„Der fliegende Holländer“ 4358 (Gruselkabinett 22)
[„Die Bilder der Ahnen“ 4366 (Gruselkabinett 23)
[„Der Fall Charles Dexter Ward“ 4851 (Gruselkabinett 24/25)
[„Die liebende Tote“ 5021 (Gruselkabinett 26)
[„Der Leichendieb“ 5166 (Gruselkabinett 27)
[„Der Glöckner von Notre-Dame“ 5399 (Gruselkabinett 28/29)
[„Der Vampir“ 5426 (Gruselkabinett 30)
[„Die Gespenster-Rikscha“ 5505 (Gruselkabinett 31)
[„Jagd der Vampire. Teil 1 von 2“ 5730 (Gruselkabinett 32)
[„Jagd der Vampire. Teil 2 von 2“ 5752 (Gruselkabinett 33)
[„Jagd der Vampire“ 5828 (Gruselkabinett 32+33)
[„Die obere Koje“ 5804 (Gruselkabinett 34)
[„Das Schloss des weißen Lindwurms“ 5807 (Gruselkabinett 35)