Bertha Werder – Das Haar der Sklavin (Gruselkabinett 184 )

Magische Teppiche im Orient

Während eines Besuches bei seinem Vetter in Konstantinopel wird der verarmte Weber Hassan auf das Begräbnis einer wunderschönen Sklavin aufmerksam, deren goldenes Haar ihn komplett in seinen Bann zieht. Angetrieben von der Gier nach Reichtum beschließt er, das Haar an sich zu nehmen, um daraus einen ganz besonderen Teppich zu weben. Ein fataler Fehler, wie sich schon bald herausstellen wird … (Verlagsinfo)

Die Autorin

Bertha Antoinette Henriette Meyer wurde am 31. August 1822 in Billwerder geboren und am 10. Oktober 1822 in Moorfleet an der Elbe getauft. Ihr Vater Justus Hinrich Meyer war gebürtig aus Clausthal, ihre Mutter Elise Caroline Henriette geb. von Usslar aus Hannover. Ihr Vater war ein wohlhabender Fabrikbesitzer in Hamburg (Essig und Branntwein; „Essigmeyer“).

Nachdem eine Überschwemmung sein Land verwüstet und ein Blitzschlag die Fabrik zerstört hatte, siedelte die Familie nach Clausthal über. Der Vater ging später nach Lissabon, wo er 1842 starb, die Familie zu Verwandten nach Hannover. Áus wirtschaftlichen Gründen war Bertha Meyer gezwungen, eine Stelle als Erzieherin in England anzunehmen, und blieb dort drei Jahre. 1853 machte sie eine Rheinreise. 1854 erblindete sie und starb 1856 in Hannover.

Unter dem Pseudonym „Bertha Werder“ veröffentlichte sie drei Romane, außerdem Aufsätze und Gedichte in verschiedenen Zeitschriften, zum Teil pseudonym, zum Teil anonym, z. B. Städtebilder im illustrierten Familienbuch des österreichischen Lloyd. Ferner lieferte sie Übersetzungen englischer Schriften ins Deutsche und deutscher Schriften ins Englische. Von ihren nachgelassenen Manuskripten Rheinkönigs Hort, ein Rheinmärchen in Versen und Frutti di mare. Seemärchen gab Theodor Delsner kleinere Fragmente heraus.

Werke

Altes Lieben, neues Hoffen. Leipzig: Brockhaus, 1847.
Der Erbe von Killmarnor. 3 Bände. Magdeburg: Emil Baensch, 1850.
Traumfahrt in das Land des Aufgangs. Morgenländische Märchen. Bremen: Schlodtmann, 1851.

Handlung

In Konstantinopel will Hassan der Weber zu einem Verwandten, um ein Darlehen zu erbitten, denn die Geschäfte gehen schlecht. Der Verwandte steht im Dienste des Paschas, und so führt Hassans Weg an die Tür des Harems dieses Fürsten. Erst schimpft der Vetter noch, doch dann gibt er Hassan einen Tipp. Durch einen Spalt in der Tür erspäht Hassan betörend duftende Sklavinnen im Harem, die aber sonderbar still sind. Er folgt ihren Blicken, die auf ein Objekt in der Mitte des Hofes gerichtet sind. Es funkelt aus wie Gold, ist aber verschleiert.

Objekt der Begierde

Das Gold ist eine Eigenschaft des wunderbaren Haars einer verstorbenen Sklavin, die gerade bestattet werden soll. Daher die Stille der Haremsbewohnerinnen. Hassan träumt davon, dieses goldene Haar zu veredeln, indem er es in einen Teppich einwebt. Das Gesicht der Besitzerin dieser Pracht kommt ihm geradezu heilig vor. Der Vetter berichtet, sie sei eine Tscherkessin namens Essica gewesen, aber schon nach drei Tagen im Harem an Heimweh gestorben. Er gibt Hassan eine kleine Summe, doch nachdem Hassan nach Hause zurückgekehrt ist, drehen sich alle seine Wünsche nur um jenes goldene Haar der Sklavin. Das fällt seiner Frau sofort auf, doch weil sie denkt, er habe zu wenig vom Vetter bekommen, tröstet sie ihn.
Um Mitternacht

Er schleicht sich abends zum Friedhof, wo er sich verbirgt. Der Trauerzug erscheint, um Essica zu bestatten. Sobald er wieder abgezogen ist, wagt sich Hassan aus seinem Versteck. Mit den Werkzeugen des Totengräbers öffnet er das Grab, mit einer Schere schneidet er der Toten ihr prächtiges Haar ab, verschließt das Grab und verschwindet heimlich, still und leise. Seine Frau soll nicht erfahren, was er vorhat, und so versteckt er seinen goldenen Schatz. Sein erhoffter Reichtum durch den Verkauf eines ganz besonderen Teppichs soll eine Überraschung werden.

Die Erscheinung

Fortan werde er nachts arbeiten, sagt er seiner verwunderten Frau. Gesagt, getan. Schon in der ersten Nacht, als er die goldenen Haare in einen neuen Teppich einarbeitet, erscheint ihm der Geist der Sklavin Essica. Sie will ihr Haar zurück, doch er verspricht, ihr Haar zu veredeln. Sie klagt ihm ihr Leid, denn sie war eine Prinzessin unter den Tscherkessen, wurde ihren Eltern geraubt und versklavt. Essica war eine Tänzerin und ihr Vater ein großer Krieger. Als die Sonne aufgeht, verschwindet der Geist.

Verfolgt

Misstrauisch überwacht und verfolgt Hassans Frau seine nächtlichen Aktivitäten, doch als sie die Stimme einer klagenden Frau hört, erwacht erst ihre Eifersucht, dann ihr Mitleid. Einige Tage später ertappt sie ihn beim Weggehen, ohne ihr Bescheid zu geben. Sie folgt ihm auf den Basar, und siehe da, sein Teppich funkelt in der Morgensonne. Die Interessenten sind sich einig, dass es sich um ein Wunderwerk handelt. Doch Hassan weigert sich, die Angebote zu akzeptieren. Erst als ein Hauptmann der Tscherkessen den geforderten Preis bezahlt, willigt Hassan in den Handel ein. Seine Frau ist verblüfft, wie geschäftstüchtig ihr Mann sein kann. Bevor er den Teppich zur angegebenen Wohnstätte des Hauptmanns bringt, schneidet sie heimlich einen Streifen ab.

Als Hassan, der davon nichts bemerkt, den Teppich zum Haus des Hauptmanns bringt, wartet er noch draußen am Fenster. Schon bald erscheint der Geist der toten Sklavin, der um seine verlorene Heimat klagt. Der Hauptmann erkennt seine frühere Geliebte wieder und will sie zurück in die Heimat holen. Doch die nächste Bitte Essicas verschlägt ihm und dem lauschenden Hassan den Atem…

Mein Eindruck

Essicas Geschichte ist die Geschichte eines Todes und einer Wiederauferstehung samt Erlösung, ermöglicht durch Hassans Kunst. Was zunächst wie eine ziemlich düstere Geschichte von Menschenraub und Versklavung klingt, wandelt sich durch Hassans Kunst in ihre Gegenteil. Durch ihre Wehklage vermag Essica Hassane Herz zu erweichen, so dass seine Gier nach Gewinn schließlich durch Mitleid mit ihrem Schicksal gemildert wird. Dafür erhält er einen seltenen Lohn – aber wir erfahren nicht, wie Essica ihren Wiedererschaffer belohnt. Erst als sie in ihre Heimat zurückkehrt, ersteht ihr Geist aus dem Teppichwieder, bevor er endgültig verschwindet.

Die Autorin Bertha Werder weist der Kunst im allgemeinen eine erlösende, das Leben transzendierende Macht zu. So kann der Geist der Sklavin aus Hassans Teppich wiederauferstehen, sofern durch Kunst genügend Mitleid erzeugt worden ist. Diese Form der (christlichen?) Nächstenliebe erlöst die Tscherkessin – die wohl aus dem heutigen Georgien stammt – aus ihrem Leid und ermöglicht ihr eine kurze Wiederkehr, als sie die geliebten Eltern wiedersehen darf. Ihr Geliebter, der Käufer des Teppichs, schwört indessen bittere Rache an jenem Pascha, der Essica rauben ließ.

Ob diese Geschichte feministisch ist, sei dahingestellt. Denn die Rechte als Frau erlangt Essica ja nicht aus sich heraus, sondern durch das Mitleid, das sie in Hassan weckt. In ihrem ehemaligen geliebten erweckt ihr Schicksal Rachedurst, in ihren Eltern Jubel. Es geht also sehr viel um die Emotionen, die Essica zu wecken in der Lage ist. Sie stehen der Geldgier Hassans gegenüber – und der Gier des Paschas nach frischem Frauenfleisch…

Die Sprecher

Patrick Bach spricht den gierigen, aber schließlich doch bekehrten Teppichweber ganz hervorragend, sein „Vetter“ Jean Paul Baeck ist ein knausriger Verführer. Hassans Frau wird von Antje von der Ahe recht zurückhaltend gesprochen, denn sie spioniert ihrem heimlichtuerischen Mann zwar nach, stellt ihn aber nur einmal zur Rede, und das auch nicht besonders energisch. Da sie keine Kinder hat, hängt ihre Existenz von ihrem Mann ab. Dass sie heimlich eingreift, ist das Äußerste, was sie wagen darf.

Die weibliche Hauptfigur ist zweifellos Essica. Die Sklavin klagt und seufzt, dass es einen Stein erweichen würde. Ihre Seufzer sind mit Hall und Hauch unterlegt und verstärken so die Wirkung ihrer gespenstischen Erscheinung. Die alte Sklavin, Essicas Eltern und Geliebter dienen alle e ein Resonanzkörper dazu, die Bedeutung ihrer einstigen und hoffentlich künftigen Existenz zu verstärken. Der Regisseur tritt als Basarbesucher in einem Cameo-Auftritt auf.

Geräusche

Eine große Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Diesmal stammen die Samples aus einer orientalischen Stadt, die über einen Basar und einen Harem verfügt. Hassans Webstuhl ist ebenso deutlich zu hören wie die knarrende Tür zu seiner Werkstatt. Er wird in klingender Münze bezahlt. Ebenso vernehmlich ist auch der Galopp jenes Pferdes zu vernehmen, das von Essicas Vater geritten wird. Sogar das gewohnte Käuzchen hat einen kurzen, aber willkommenen Auftritt. Alle diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Es lag nahe, einer orientalischen Szene auch die passende Musik beizufügen. Und da Essica zu Lebzeiten eine Tänzerin war, hat diese Musik auch einen gewissen Swing. Da es sich aber um eine Gespenstergeschichte handelt, wechselt die Stimmung durch Einsatz unheimlicher Hintergrundmusik zu einer düsteren Szenerie. Bei Essicas Bestattung ertönt eine klagende Weise, die von einer Sologeige vorgetragen wird.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die titelgebende Sklavin. Deutlich sind ihre Ketten an Hand- und Fußgelenken zu erkennen, aber auch ihr wallendes goldenes Haar, das ihr bis zu den Füßen reicht. Sie steht als Gespenst direkt auf Hassans kostbarem neuen Teppich, in den ihr reales Haar eingewoben ist. Hassan weicht mit vorgestreckter Hand vor der Geistererscheinung zurück. Sehr geschickt ist die perspektivische Verkürzung dargestellt. Durch die zwei Fensterbögen ist eine orientalische Moschee mit einem darüber schwebenden Mond zu sehen. Insgesamt eine sehr gelungene Illustration.

Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS und der SHERLOCK HOLMES Reihe bis Sommer 2023 (Folge 187) verzeichnet. Die Vorschau wird online auf der neugestalteten Homepage bestens dargeboten. Die letzte Seite des Booklets zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Ab Herbst 2022/Herbst 2023

Folge 176: Benson: Das Lächeln des Toten
177: Furia Infernalis
178: Benson: Das unheimliche Turmzimmer
179: Der Fall Medhans Lea – Flaxman Low 3
180: Blackwood: Das unbewohnte Haus
181: Connell: Das gefährlichste Spiel der Welt (2/23)
182: Loring: Sarahs Grabmal (3/23)
183: Eric Stenbock: Die andere Seite (4/23)
184: Werder: Das Haar der Sklavin (5/23)
185: Lovecraft: Die Musik des Erich Zann
186: ETA Hoffmann: Der Ghoul
187: Blackwood: Die Weiden

Unterm Strich

Der positive Eindruck dieser Folge des Gruselkabinetts hängt eindeutig von der emotionalen Wirkung ab, die die Handlung auf den Hörer erzielen kann. Der Voyeurismus der ersten Szene an der Mauer des Harems spiegelt die patriarchalische Kultur wider, wenn sie auch im Widerspruch zur betrüblichen Stimmung der Haremsdamen steht: Eine der Ihren ist verstorben. Doch die geisterhafte Erscheinung der klagenden Sklavin vermag den gierigen Charakter Hassans nach und nach zu erweichen, so dass der erhoffte Teppichkauf ihm viel mehr menschlichen Lohn einbringt als schnöden Mammon.

Dass die Kunst – hier die des Teppichwebens – die herzen der Menschen zu bewegen vermag und schließlich für Gerechtigkeit sorgt, ist eine sehr romantische Vorstellung. Sie dürfte vielen heutigen Hörern geradezu verwegen, wenn nicht sogar abwegig erscheinen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Als die Bild von vertriebenen Kriegsflüchtlingen um die Welt gingen, öffnete dies die Herzen (und Grenzen) der westlichen Länder, die die Frauen und Kinder bereitwillig aufnahmen.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der bekannten Sprecher wie Patrick Bach und Antje von der Ahe vermitteln das richtige Kino-Feeling. Für Sammler ist die Reihe inzwischen ein Leckerbissen.

CD: 47:14 Minuten
ISBN-13: 9783785785331

Titania Medien

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