Archiv der Kategorie: Belletristik

Patterson, James – Tagebuch für Nikolas

Gleich zu Beginn von „Tagebuch für Nikolas“ lernt man Katie Wilkinson kennen, die einsam in ihrer Badewanne sitzt, umgeben von ihrer Katze Guinevere und ihrem Labrador Merlin, die sie aber nicht über ihre Trennung hinwegtrösten können. Sie muss an das Tagebuch denken, das ihr einstiger Freund Matt ihr überlassen hat, ein Tagebuch seiner Frau Suzanne an ihr gemeinsames Kind Nikolas. Doch wie kann das sein? Wie konnte Katie nur so glücklich sein mit Matt und auf eine gemeinsame Hochzeit hoffen, wenn er doch eine Frau und ein Kind hat, obwohl er ihr immer versichert hat, dass er nicht verheiratet ist?

Das Tagebuch wird es erklären.

Suzanne widmet ihrem Sohn Nikolas ein Tagebuch, in welchem sie ihm von ihrer Vergangenheit und ihrer Liebe zu Matt erzählt. Suzanne war einst eine erfolgreiche Ärztin am |Massachusetts General Hospital|, als sie bereits im Alter von 35 Jahren einen Herzanfall erleidet und am Herzen operiert werden muss. Nur vier Wochen nach dem Herzanfall verlässt ihr Lebensgefährte Michael sie, und Suzanne beschließt ihr Leben umzukrempeln, ihren stressigen Job aufzugeben und zieht nach Martha’s Vineyard, wo sie während ihrer Kindheit sämtliche Sommerferien mit ihren Großeltern verbracht hatte.

Dort übernimmt Suzanne eine kleine Arztpraxis und genießt das Leben in Strandnähe, sie trifft einen ehemaligen Freund wieder und freundet sich immer mehr mit dem Mann an, der ihr Haus renovieren soll. Spaßeshalber wird er immer nur Picasso genannt, doch eigentlich heißt er Matt und wird einmal der Vater ihres Sohnes Nicholas sein. Suzanne und Matt verlieben sich ineinander, sind glücklich und heiraten schließlich. Irgendwann kommt dann auch Nikolas auf die Welt und macht ihr Glück perfekt.

Wirklich perfekt? Oder was wird passieren, das Matt dazu bringt, eine Beziehung zu Katie zu beginnen? Welche Erklärungen beinhaltet das Tagebuch?

Zugegebenermaßen habe ich eine kleine Schwäche für schnulzige Liebesromane und auch Liebesfilme, was dazu geführt hat, dass ich Nicholas Sparks’ sämtliche Bücher mit Tränen in den Augen verschlungen habe und immer sehnsüchtig auf neue Werke warte, damit ich mich wieder in wunderschöne Fantasiewelten begeben kann. Doch kann James Patterson Sparks das Wasser reichen, wo er doch sonst in ganz anderen Genres schreibt?

Schon der Inhalt des Buches klingt stark nach einer triefenden Schnulze, die bereits nach zwanzig Seiten auf das unweigerliche Happyend hinarbeitet. Zwischendurch werden gekonnt einige tragische Schicksale wie die Trennung von Matt und Katie oder auch Suzannes Herzanfall eingestreut, um dem Buch etwas mehr an Realitätssinn zu verleihen, doch konnte mich dies alles nicht überzeugen. Hätte mich jemand nach den ersten paar Kapiteln gefragt, wie ich mir das Ende des Buches ausmale, so hätte ich ihm genau das Ende vorhergesagt, wie Patterson es in seinem Buch niederschreibt, es gibt für meine Begriffe in dieser Erzählung leider keine Überraschungen, sodass Sparks-Kenner spitzfindig nach wenigen Seiten das Buch durchschaut haben dürften.

Die Geschichte um Katie wird aus der Sicht eines außen stehenden Erzählers geschrieben, das Tagebuch liest sich logischerweise in Ich-Form aus Sicht von Suzanne. Anfangs fand ich den Sprung vom Erzähler zur Ich-Form etwas verwirrend, aber die Sprünge werden durch ein neues Kapitel und die Freiseiten entsprechend deutlich gekennzeichnet. Verwirrender dagegen fand ich das Auftauchen eines zweiten Matt. Bereits im ersten Kapitel um Katie erfährt der Leser, dass sie von ihrem geliebten Matt verlassen worden ist, der ihr aber Suzannes Tagebuch überlassen hat. Im Tagebuch taucht dann auch recht schnell ein Matt auf, doch plötzlich eröffnet Suzanne dem Leser, dass sie sich in den Maler „Picasso“ verliebt hat und er der Vater von Nikolas ist. Erst später wurde dann klar, dass auch Picasso Matt heißt. Der andere Matt spielt aber später gar keine Rolle mehr, warum also tauchte er überhaupt auf und warum musste er auch noch den gleichen Namen erhalten? Das stiftet unnötig Verwirrung, zumal man beim Lesen eines Liebesromans ja nicht immer ein großes Maß an Aufmerksamkeit mitbringt.

Das Tagebuch ist immer wieder unterbrochen durch Anreden an den geliebten Nikolas beziehungsweise an den starken Ritter Nikolas oder auch den kleinen Prinzen. Allein diese Anredeformen an Nikolas wirken schon ein wenig übertrieben, aber noch kitschiger wird schließlich das allumfassende Glück, das Matt und Suzanne zusammen erleben. Dazu eine kleine (willkürlich herausgegriffene) Leseprobe:

|“Ich musste daran denken, was Matt in der Nacht, als er mir den Heiratsantrag machte, zu mir gesagt hatte: „Ist es nicht ein unermessliches Glück, dass es dich noch gibt und dass wir zusammen glücklich sein können?“ Ja, es war ein unglaubliches Glück, und dieser Gedanke ließ mich schauern, als ich dort am Abend unserer Hochzeit neben Matt stand.“|

In diesem Stil ist nahezu das gesamte Tagebuch geschrieben, Redewendungen wie „unermessliches Glück“ oder „Ich liebe dich“ zählen hier sicherlich zu den am häufigsten verwendeten Floskeln überhaupt. Das Tagebuch ist schwärmerisch, überschwenglich, verträumt und steckt voller Glücksmomente, die im Rahmen des kurzen Buches dennoch etwas zu häufig hervorgehoben werden. Gut, ein Liebesroman sollte triefen und das Wunder der Liebe lobpreisen, aber muss es gleich so übertrieben werden? Muss auf jeder Seite explizit erwähnt werden, wie sehr Matt und Suzanne sich geliebt haben und dass ihr Sohn das perfekteste Wesen auf der Welt ist, das bereits im Alter von weniger als einem Jahr sprechen und laufen kann? Ich erhebe nicht den Anspruch von Realitätsnähe bei einer Liebesschnulze, aber ich hatte auch gerade beim Lesen anderer Rezensionen über dieses Buch den Eindruck, dass „Tagebuch für Nikolas“ für mehr gehalten wird als eine verkitschte Liebesgeschichte, die von vorne bis hinten absehbar ist, und das kann ich nicht nachvollziehen. Ich bemerke weder große literarische Leistungen von Seiten Pattersons noch eine besonders kreative und innovative Liebesgeschichte oder eine Story, die mich am Ende überraschen kann. Wo ist dieses Buch also mehr als eine ganz normale Schnulze?

Als verträumter Liebesroman mag „Tagebuch für Nikolas“ sehr unterhaltsam und nett sein, ich kann aber nicht behaupten, dass mich das Buch schwer beeindruckt hätte. Es ist nicht immer alles „Friede, Freude, Eierkuchen“, aber auch die erwähnten tragischen Schicksale werden so überdramatisiert, dass sie für mich einem Rosamunde-Pilcher-Roman entnommen sein könnten. Solche tragischen Ereignisse machen einen Liebesroman für meine Begriffe nicht zu einem großen literarischen Werk, sondern sie gehören irgendwo zu solchen Schnulzen dazu, denn in den meisten Kitschromanen steht das große Glück erst am Ende einiger Schicksalsschlägen, oder nicht?

Mir persönlich sind nicht einmal die Charaktere besonders ans Herz gewachsen, da sie einfach zu unmenschlich gut waren. Matt scheint der absolute Traummann zu sein, der seiner Traumfrau jeden Wunsch von den Augen ablesen kann und einfach nur perfekt ist, doch gibt es so jemanden wirklich? Ich konnte auch Katies Trauer und ihre Wut nicht mitfühlen, da die Geschichte meiner Meinung nach für solche Gefühle recht abgedroschen ist. Die Personen werden uns durch die Erzählung der Geschichte schon näher gebracht, aber sie werden zu einseitig dargestellt und ihre Fehler gar nicht erwähnt, sodass sie künstlich wirken und daher auch von mir kein Mitleid erhalten konnten.

Das Buch unterhält gut, entlockt uns zwischendurch eventuell die eine oder andere Träne, berührt vielleicht ein wenig, entführt seine Leser für zwei bis drei Stunden in romantische Welten, ist dann aber sicherlich wieder schnell vergessen. Um es kurz zu sagen: ein typischer und kitschiger Liebesroman, der nicht mit Überraschungen aufwarten kann und auch nicht weniger schnulzig ist als beliebige andere Liebesromane zuvor.

_James Patterson auf |Buchwurm.info|:_

[„Das Pandora-Projekt“ 3905 (Maximum Ride 1)
[„Der Zerberus-Faktor“ 4026 (Maximum Ride 2)
[„Das Ikarus-Gen“ 2389
[„Honeymoon“ 3919
[„Ave Maria“ 2398
[„Wer hat Angst vorm Schattenmann“ 1683
[„Mauer des Schweigens“ 1394
[„Stunde der Rache“ 1392
[„Wenn er fällt, dann stirbt er“ 1391
[„Wer sich umdreht oder lacht“ 1390
[„Die Rache des Kreuzfahrers“ 1149
[„Vor aller Augen“ 1087
[„Tagebuch für Nikolas“ 854
[„Sonne, Mord und Sterne“ 537
[„Rosenrot Mausetot“ 429
[„Die Wiege des Bösen“ 47
[„Der 1. Mord“ 1361
[„Die 2. Chance“ 1362
[„Der 3. Grad“ 1370
[„4th of July“ 1565
[„Die 5. Plage“ 3915

Uther, Hans-Jörg (Herausgeber) – Märchenschatz

„Märchenschatz“ ist eine von mehreren Sammlungen, die Hans-Jörg Uther herausgegeben hat. Hier geben sich Märchen aus so ziemlich allen Teilen des deutschsprachigen Raumes ein Stelldichein, darunter allseits bekannte wie „Dornröschen“, „Aschenputtel“ oder „Die Sterntaler“, aber auch andere wie „Die Geschichte von der Metzelsuppe“, „Bruder Lustig“ oder „Der Bärenhäuter“, wobei manches Märchen, dessen Titel dem Leser unbekannt schien, sich beim Lesen unter Umständen als alter Bekannter entpuppt, der hier nur im Kleid einer lokalen, leicht variierten Version auftaucht. Zu dieser Gruppe der weiträumig und dabei leicht unterschiedlich erzählten Geschichten gehören unter anderen „Der Deserteur mit dem Feuerzeug“ (bei Grimms: „Das blaue Licht“), „Vom Vogel Fenus“ („Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“) und „Das Märchen vom Knüppel aus dem Sacke“ („Tischlein, deck dich“). Manch einem, der Preußlers „Krabat“ gelesen hat, mag der „Zauberwettkampf“ bekannt vor kommen. Am meisten überrascht hat mich aber das Märchen „Der arme Schuster“, das in abgewandelter Form eine Geschichte aus 1001 Nacht erzählt! Wie diese Geschichte aus dem Orient ins Donauland kam oder umgekehrt, wäre eine interessante Frage.

Die Unterschiede zu den allseits bekannten Versionen, die meist von den Gebrüdern Grimm aufgeschrieben wurden, reichen von kaum spürbar, wie bei „Hans Wohlgemut“ („Hans im Glück“), über deutlich, wie bei „Die Geiß mit ihren zehn Zicklein und der Bär“ („Der Wolf und die sieben Geißlein“), bis gravierend bei „Das kleine Rotkäppchen“.

In den meisten Fällen betreffen diese Unterschiede lediglich die Ausführung, ohne die zugrunde liegende Aussage zu verändern. Aber nicht immer: Das Märchen vom Rotkäppchen zum Beispiel endet hier ganz aprupt an der Stelle, an der das Rotkäppchen gefressen wird! Kein Happyend!

Nun sind Märchen nicht einfach nette Geschichten, die man sich eben erzählt. Märchen erfüllen einen bestimmten Zweck. Der eine ist der psychologische. Oft wurde den Märchen vorgeworfen, sie seien so grausam, und es wurde fleißig daran gebastelt, sie zu entschärfen. Heute sind Psychologen der Meinung, dass Märchen grausam sein sollen! Märchen helfen dabei, mit Ängsten fertig zu werden. Kinder empfinden es als ermutigend, wenn Hänsel und Gretel die böse Hexe besiegen, und das auch noch ganz allein.

Der andere ist der pädagogische. Märchen lehren, dass der Gute immer gewinnt, der Böse immer verliert, dass es sich also nicht lohnt, böse zu sein. Genau dieser Punkt ist aber bei der hier erzählten Rotkäppchenversion ausgehebelt! Kein Jäger kommt, um das – zugegebenermaßen ungehorsame und leichtsinnige – Rotkäppchen zu befreien. Der Grundtenor lautet eher: Geschieht ihr recht! Die unschuldige Großmutter bleibt dabei völlig unbeachtet. Dadurch erhält die Geschichte einen Touch von Struwwelpeter-Pädagogik, die inzwischen allerdings stark umstritten ist. Rotkäppchen hat keine Gelegenheit mehr, aus ihrem Fehler zu lernen. Und der Wolf, der doch noch viel böser ist als Rotkäppchen, kommt ohne Strafe davon.

Außer den klassischen Volksmärchen finden sich aber auch Tiergeschichten und Schwänke, so zum Beispiel „Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel“ und „Die sieben Schwaben“. Allen Geschichten gemeinsam ist, dass sie in der typischen Märchensprache belassen wurden, die zum Flair eines Märchens einfach dazugehört. Das wirkt sich gerade bei den beiden vorgenannten äußerst positiv aus, da die wörtliche Rede teilweise sogar die entsprechende Mundart verwendet.

Natürlich lesen sich manche Passagen dadurch etwas umständlich. Das Buch in einem Rutsch durchzulesen, ist anstrengend. Kleine Kinder werden gelegentlich eine Erklärung brauchen, ältere Kinder, die selber lesen, möglicherweise auch, sofern sie nicht aus ihrer Vorlesezeit bereits Märchenerfahrung haben. Aber das gibt sich rasch.

Illustriert ist der Band mit einfachen Bleistiftzeichnungen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und sich vor allem durch Schlichtheit und einem Blick fürs Detail auszeichnen. Sie wurden von Otto Ubbelohde, einem hessischen Zeichner, für eine Ausgabe der Grimmschen Hausmärchen gefertigt und geben nicht nur Szenen aus den jeweiligen Märchen wieder, sondern auch Ausschnitte aus der damaligen Zeit, zum Beispiel in Kleidung und Einrichtung, und runden damit die Gesamterscheinung hervorragend ab.

Insgesamt eine interessante und schön gestaltete Ausgabe abseits der verwässerten und teilweise lieblos hingeklatschten Billigsammlungen, allerdings halte ich es für empfehlenswert, dass im Falle kindlicher Leser die Eltern mit den Kindern über das Gelesene sprechen. Aus eigener Erinnerung weiß ich, dass Kinder vieles gar nicht so deutlich und scharf empfinden wie wir Erwachsenen. Es sind aber auch nicht alle Märchen gleich einfach zu verstehen. Gerade im Falle von „Rotkäppchen“ oder auch der „Mär vom Marchandelbaum“ und der „Eiche am Elbufer“ wäre ein Erfragen des Gelesenen hilfreich, um zu sehen, wie die Kinder mit der Geschichte klargekommen sind.

Hans-Jörg Uther ist Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Essen und außerdem in der Erzählforschung tätig. In der Liste der von ihm veröffentlichten Sammlungen finden sich auch „Sagenschatz“, „Märchen vom Glück“, [„Die schönsten Märchen und Geschichten zur Weihnachtszeit“ 775 und „Das große Buch der Fabeln“. Außerdem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift |Fabula|.

Dave J. Pelzer – Sie nannten mich »Es«

Manche Bücher erzählen eine grausame Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, die uns beim Lesen einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Zuletzt hatte „Mia“ von Liza Marklund bei mir diese Wirkung hervorgerufen, doch nun habe ich „Sie nannten mich Es“ gelesen und fand es mindestens ebenso schockierend …

Stationen einer Kindheit

Das kurze und dünne Buch ist in sieben verschiedene Kapitel eingeteilt, die wichtige Stationen in Dave Pelzers Leben darstellen. Gleich zu Beginn erlebt der Leser Daves Rettung mit. Endlich haben die Schulkrankenschwester und der Schuldirektor genug gesehen von Daves blauen Flecken und Verletzungen, die selbstverständlich nicht von Unfällen stammen. Die beiden verständigen die Polizei und lassen Dave aus der Schule abholen. Zunächst muss er eine Aussage über seine Erlebnisse machen, anschließend ist er jedoch frei – frei von seiner gewalttätigen Mutter, die ihn permanent gequält hat.

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Chevalier, Tracy – dunkelste Blau, Das

Amis haben für gewöhnlich ein ziemlich seltsames Bild von uns Europäern und wehe sie ziehen dauerhaft hierher, dann kann es eigentlich nur Komplikationen und Verwicklungen geben. Sogar solche, die bis ins 16 Jh. zurückreichen. So ergeht es Tracy Chevaliers Protagonistin, als sie mit ihrem Mann berufsbedingt nach Frankreich übersiedelt. Dem Text auf dem Buchrücken nach bietet es sich an, die Geschichte spontan als einen der derzeit höchst beliebten klerikalen Thriller einzustufen. Ein Irrtum. So viel zur Erwartungshaltung. Ob und inwieweit der Eindruck des Teasers beabsichtigt ist, um auf der Welle mitzuschwimmen, soll einmal dahingestellt sein. Doch worum handelt es sich bei dem Roman „Das dunkelste Blau“ nun eigentlich wirklich?

_Die Autorin_
Tracy Chevalier ist gebürtige Amerikanerin des Jahrgangs 1962, wuchs in Washington D.C. auf und lebt heute in London. Vor ihrem Creative-Writing-Studium an der East Anglia University, das sie 1994 abschloss, arbeitete die Quereinsteigerin als Lektorin für Nachschlagewerke. Weitere von ihr erschienene Romane: „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (List, TB 06/2001), „Wenn Engel fallen“ (List, TB 10/2003) und „Der Kuss des Einhorns“ (List, HC 02/2004). [Quellen: Verlagsinfo und amazon.de]

_Zur Story_
Ella Turner und ihren Mann Rick zieht es nach Frankreich. Er ist ein gefragter Architekt und arbeitet an einem Projekt in Toulouse, das sicher mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Somit ist der Umzug nach Frankreich in ein verschlafenes Nest in den französischen Chevennen ein recht dauerhaftes Unterfangen. Ausgesucht hat das neue, abseitige Domizil jedoch Ella, deren Familie vor Generationen aus Frankreich nach Amerika übersiedelte und ihren Namen von Tournier in Turner änderte. Seit ihrer Ankunft in Land des Weichkäses und ihrer Ahnen wird sie von immer wieder dem gleichen Albtraum heimgesucht, in welchem die Farbe Blau eine immens wichtige und traurige Rolle spielt. Zugleich üben die beiden, Nachwuchs zu bekommen, doch gerade der Sex macht die Albträume nur noch schlimmer und intensiver. Ihrem Mann offenbart sie sich jedoch nicht.

Da sie als Hebamme im Gastland nicht praktizieren darf, weil ihr dafür die Zulassung fehlt, und Rick sehr mit seinem Job beschäftigt ist, sucht sie sich Ablenkung. Sie fühlt sich als Fremdkörper im Dorf – man schneidet sie gepflegt in der Nachbarschaft, obwohl sie sich redlich Mühe gibt, ihr verschüttetes Französisch stetig aufzubessern und sich anzupassen. Sie fühlt sich hier auch irgendwie „zuhause“. Es hilft nichts. Kurzum, sie hat niemanden, mit dem sie sich austauschen könnte. Keine Freunde, keine Verwandten. Lediglich ein Cousin in der relativ nahen Schweiz, den sie bislang noch nicht persönlich kennen gelernt hat. Getrieben von innerer Unruhe – vorerst als selbst auferlegte Beschäftigungstherapie – fängt sie enthusiastisch an, ihre Familiengeschichte zu recherchieren und herauszufinden, warum sie im Traum in blitzsauberem Französisch Bibelzitate von sich geben kann.

Ella spürt, dass die Geschichte ihrer Ahnen mit dem stets wiederkehrenden Traum in direktem Zusammenhang steht. Ihre Intuition gibt ihr Recht, doch stellen sich Erfolge beim Wühlen nach alten Dokumenten nur schleppend ein. Dafür findet sie im hiesigen Bibliothekaren Jean-Paul einen zunächst widerwilligen und abweisenden Mitstreiter, der ihr dann aber immer tatkräftiger unter die Arme (und später auch unter den Rock) greift. Das Auffinden einer alten Familienbibel aus dem Besitz der Tourniers bringt sie endgültig auf die Spur eines schrecklichen Verbrechens, das Jahrhunderte zurückliegt. Genauer gesagt aus der Zeit, als die Protestanten Frankreichs – die Hugenotten – unter dem immer mehr um sich greifenden Katholizismus zu leiden hatten und vertrieben wurden. Mitten in dieser Welt des (Aber-)Glaubens spielte sich eine Tragödie in der Familie ab, die Ella in der Jetztzeit so viel Kopfzerbrechen bereitet …

_Meinung_
Schon zu Beginn des Romans erhält der Leser einen Einblick in die Vergangenheit. Genauer gesagt in die Familiengeschichte derer von Tournier, von denen Ella abstammt. Zunächst kann man sich auf die recht wirren und in schneller Zeitrafferfolge präsentierten Fetzen aus der Familienhistorie allerdings keinen klaren Reim machen. Das legt den Grundstein für später immer deutlicher zu Tage tretende Analogien und Parallelen zwischen Ella und ihrem Pendant aus dem 16. Jahrhundert: Isabelle de Moulin. Anfänglich sind diese Flashbacks noch sauber durch Kapitel von der Geschichte in der Gegenwart getrennt, später überschneiden sich die Stränge in schnellerer Abfolge und mogeln sich gegen Ende sogar absatzweise in den Plot. Als weitere Unterscheidung erzählt Chevalier Ellas Geschichte in der Ich-Form, Isabelles Part hingegen beobachtend in der dritten Person.

Man hat den Eindruck, dass besonders Isabelle rudimentäre übersinnliche Fähigkeiten besitzt – zumindest was ihre Connection zu Ella angeht, stimmt das auch irgendwo. Chevalier deutet vermeintlich vorhandene Hexenkünste in diesem Zusammenhang allenfalls nur an. Zum Teil auch recht deutlich, wie beim Bild des immer wieder auftauchenden Wolfes, den Isabelle ganz selbstverständlich als Reinkarnation und Sinnbild ihrer toten Mutter versteht, die helfend in ihr Leben eingreifen will. Leider werden einige dieser vielversprechenden Ansätze in letzter Konsequenz nicht genügend genutzt, um dem Plot mehr Substanz zu verleihen. Solche Festlegungen, ob hier nun tatsächlich paranormale Mächte am Werk sind, oder doch alles nur Aberglaube ist, bleiben dem Leser überlassen. Der kleine Schuss Mystery verpufft ziemlich wirkungslos.

Die wichtige (wie ich finde) Frage, warum die beiden Frauen auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind, bleibt auch am Ende der Geschichte nur vage angedeutet. Wie so vieles. Das gilt auch und speziell für die Personenzeichnung. Die Figuren sind bis auf Ella sehr zweidimensional beschrieben und vegetieren als gesichtslos und vorhersehbar agierende Schablonen vor sich hin. Selten lässt sich Chevalier mal zu detaillierteren Beschreibungen ihrer Charaktere und deren Motive hinreißen. Überraschungen in deren Handeln braucht man demzufolge auch nicht zu erwarten, auch von der Protagonistin nicht. Vollkommen linear entwickelt sich die Geschichte genau in die Richtung fort, wie man es sich beim Lesen gedacht hat. Mit Ausnahme der vielen „toten Links“, d. h. Nebenhandlungen, die aus unerfindlichen Gründen einfach nicht weiterverfolgt werden und frei schwebend irgendwo in der Luft enden.

Man ist versucht, „Das dunkelste Blau“ ziemlich schnell als „Frauenroman“ abzustempeln, und tatsächlich bedient der Roman einige der beliebten Klischees, die diesem häufig zu Unrecht negativ konnotierten Begriff andichtet werden. Eine Dreiecksbeziehung gefällig? Geht klar! Die alte In-der-Fremde-doch-noch-ne-beste-Freundin-gefunden-Leier? Biddeschön, kommt sofort! Sex? Verkauft sich immer gut und ist im Doppelpack auch billiger. Okay, wollen wir mal nicht so ungerecht sein und einräumen, dass sich der Schnulzfaktor in erträglichem Rahmen bewegt. Natürlich landet die von ihrem Mann unverstandene und vernachlässigte (Die Klischees bitte nacheinander eintreten – Danke!) Ella mit dem Nebenbuhler – nebst einem ganzen Sack voller Gewissensbisse – in der Kiste. Beinahe zufällig. Vollkommen ungewollt und unerwartet. Hust. Die Beschreibungen der horizontalen Vergnüglichkeiten fallen harmlos aus, da gibt’s Deftigeres – erotisch sind sie aber auch nicht.

Den Leser dürstet es natürlich, das Kuddelmuddel am Ende aufgelöst zu wissen. Wer mit wem und wie und warum überhaupt. Nach den ganzen Sackgassen in der Handlung wähnt man sich im Recht, die Auflösung des Rätsels zu erfahren. Das gelingt Chevalier aber nur zum Teil, die Geschichte und der damit verbundene tragische Mordfall in der Familie Tournier während der Hugenotten-Vertreibung im Jahre Fuffzehnhundertpiependeckel bleibt ungesühnt. Die Schuldigen werden nicht bestraft, de facto erfährt man eigentlich gar nichts weiter. All die kleinen eingearbeiteten Hinweise sind für die Katz bzw. für den Wolf. Den Reißwolf. Dass das letzte Drittel ganz besonders mit der heißen Nadel geklöppelt wurde, bemerkt man an einigen Inkonsistenzen, stellvertretend etwa das plötzliche Auftauchen der Figur Lucien, den Chevalier schlichtweg vergessen hat, zuvor in irgendeiner Form vorzustellen.

Die mühselig aufgebaute und konstruierte Handlung in der Vergangenheit ist historisch ganz gut recherchiert, doch vergeudet Chevalier hier um des lauen Finales in der Gegenwart Willen jede Menge Potenzial, mehr in die Tiefe zu gehen. Die böse Schwiegermutter, der patriarchische Ehemann (Volle Deckung – schon wieder tief fliegende Klischees!), ja, selbst Isabelle, der man so arg und übel mitgespielt hat – immerhin eine wichtige Schlüsselfigur – verschwinden in bester Cliffhanger-Manier schlussendlich im Vakuum der Story. Absolut unbefriedigend. Stattdessen gibt’s ein versöhnliches (aber wenig überraschendes) Schlag-auf-Schlag-Ende für Ellas Albträume, den Beziehungsstress und die Akklimatisierungsprobleme in der neuen Heimat. Und verständnisvolle Verwandte hat sie auf einmal auch gefunden, zusätzlich zur neuen besten Freundin – versteht sich.

_Fazit_
Würde man die ganzen Platitüden streichen, die in losen Enden münden, wär’s eine schöne und übersinnlich angehauchte Novelle geworden. Alternativ dazu wäre eine detailliertere Ausarbeitung der vorhandenen guten Ansätze dazu angetan gewesen, aus dem Roman viel mehr heraus zu kitzeln. So jedoch überwiegt das recht uninteressante Füllwerk, um als recht plattes Transportmedium für die sich anbahnende Romanze zu dienen. Wischiwaschi. Wer aufgrund des Covertextes mit einem sakralen Thriller vom Schlage eines Eco oder Brown rechnet, sei gewarnt.

„Das dunkelste Blau“ ist eine – im wahrsten Sinne des Wortes – triviale Criminal-Love-Story mit einem kleinen Touch von Mystery, den Tracy Chevalier aber leider nur oberflächlich streift. Dank der unscharfen Figurenzeichnung und der vorhersehbaren Handlung sicherlich keine schwere Kost und zwischen Suppe und Kartoffeln schnell durchgelesen. Empfehlenswert höchstens als seichte Bettlektüre für schlaflose Genre-Liebhaber. Wer Gehaltvolleres mag, macht einen Bogen um diese künstlich aufgepumpte und dadurch recht unausgegoren wirkende Kurzgeschichte.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „The Virgin Blue“
Penguin, London 1996
Deutsche Erstveröffentlichung: dtv München 1999
Übersetzung: Agnes C. Müller
ISBN: 3-423-20702-7 (2. ungekürzte TB Neuauflage 05/2004)

Ildikó von Kürthy – Freizeichen

Einen Namen im Frauenbuchgenre hat sich die Stern-Journalistin Ildiko von Kürthy durch ihr Erstlingswerk „Mondscheintarif“ gemacht, welches bereits wenig schmeichelhaft verfilmt wurde. Mit „Freizeichen“ hat sie ihren dritten Roman veröffentlicht, der ebenfalls im |Wunderlich|-Verlag erschienen ist und nun als Taschenbuch bei |rororo| vorliegt.

Der Leser befindet sich gleich zu Beginn mitten in einem Gedankenmonolog der Hauptperson Annabel wieder, die sogleich berichtet, dass sie nun endlich vor dem Problem steht, sich zwischen zwei Männern entscheiden zu müssen. Eigentlich ist sie bereits seit viereinhalb Jahren mit Ben zusammen, doch im Alltag ist die Leidenschaft flöten gegangen und Annabel fragt sich nun, ob diese Beziehung so noch Sinn ergibt. Kurzentschlossen – eine Fettanalysewaage und Max Frisch haben ihren Teil dazu beigetragen – fährt sie für ein paar Tage zu ihrer reichen Tante nach Mallorca, um dort über ihre Beziehung und ihre Frisur nachzudenken. Auf Mallorca angekommen, muss sie feststellen, dass ihr Koffer nicht mitgeflogen ist und ihre überschüssigen dreieinhalb Kilo sich vielleicht doch nicht so günstig verteilen, wie ihre Freundin Mona ihr das immer wieder versichert.

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Nicholas Sparks – Du bist nie allein

Spätestens durch seinen Roman „Weit wie das Meer“, der unter dem Titel „Message in a bottle“ mit Kevin Costner verfilmt worden ist, hat Nicholas Sparks sich einen Namen gemacht durch seine unvergleichlichen Liebesromane. Seine Bücher zeichnen sich durch blumige Sprache und eine meist tragische Liebesgeschichte aus, doch in seinem neuen Buch „Du bist nie allein“ (auf Englisch: „The Guardian“) wagt Sparks einen Spagat zwischen zwei Genres. Seine Intention war dabei die Verbindung einer großen Liebe mit der Gefahr, wobei der Schwerpunkt allerdings für Sparks auf der Liebesbeziehung liegen sollte.

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Uther, Hans-Jörg (Hrsg.) – schönsten Märchen und Geschichten zur Weihnachtszeit, Die

Märchen und Geschichten gehören zur Advents- und Weihnachtszeit wie Lebkuchen oder Kerzenlicht. Diese besondere Sammlung trägt dieser Stimmung Rechnung, wenn auch auf ungewöhnliche Art. Literarische Werke von Theodor Storm, E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde und Theodor Fontane geben sich ein Stelldichein mit Volksmärchen aus Irland, Norwegen, dem Odenwald und der Lüneburger Heide. Alle haben mehr oder weniger mit Weihnachten zu tun, und sei es auch nur ganz am Rande.

Die ersten drei Geschichten über Frau Holle, Nikolaus und Christkind gehören zusammen und erzählen in ganz eigener Weise, wie das Christkind nach Europa kam. Die Mischung aus heidnischen Überlieferungen und christlichem Gedankengut ist für manchen vielleicht überraschend und gewöhnungsbedürftig, gleichzeitig aber auch Darstellung eines Übergangs. Gerade zu einer Zeit, als viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten, wurde noch viel in Bildern und Symbolen gedacht, insofern spiegelt sich hier die Christianisierung einer Volksseele, die uns so nicht mehr bewusst ist, weil wir inzwischen schon so lange in einer christlichen Umgebung aufwachsen.
Außer diesen dreien ist lediglich „Das Tannenbäumchen“ ein echtes Weihnachtsmärchen. Die übrigen Volksmärchen haben ihren Bezug zu Weihnachten nur im Zeitpunkt der Handlung, die sich selbst nicht unbedingt um Weihnachten dreht.
Die literarischen Texte dagegen rücken Weihnachten als Fest wesentlich stärker in den Mittelpunkt. Die meisten sind gar nicht als Weihnachtsgeschichten geschrieben, da sie aber großteils für diesen Band onehin zu lang wären, wurden die entsprechenden Abschnitte als Auszüge aufgenommen oder der Text wurde ggf. gekürzt. So entstanden Momentaufnahmen in den unterschiedlichsten Stimmungen, von ausgelassener Fröhlichkeit in „Weihnachtsabend“ aus Wilhelm Raabes „Die Chronik der Sperlinggasse“ über Melancholie in „Da stand das Kind am Wege“ aus Storms „Immensee“ bis hin zu Verzweiflung in Tiecks „Weihnacht-Abend“.

Insgesamt fand ich die Auswahl der Texte recht gelungen, mit zwei kleinen Ausnahmen. „Die verwünschte Burg“, ein irisches Elfenmärchen, spielt zwar an Weihnachten, es fehlt ihr aber im Hinblick darauf jegliches Flair, irgendwie passt sie nicht in den Kontext des Buches. Außerdem wirkt sie gegen Ende abgehackt und hinterlässt das Gefühl, dass das doch nicht alles gewesen sein kann. Ich vermisste einen Kern in der Geschichte. „Der Wolf angelt“ erwähnt das Wort Weihnachten überhaupt nicht, und obwohl die Geschichte an sich nicht wirklich schlecht war, fragte ich mich, warum sie in diese Sammlung aufgenommen wurde. Auch hier fehlt der Bezug zum eigentlichen Thema des Buches.
Oscar Wildes „Der glückliche Prinz“ spielt ebenfalls nicht ausdrücklich an Weihnachten, was in diesem Fall aber überhaupt nicht stört, da die Aussage der Geschichte zu Weihnachten passt.
Entgegen der gängigen Kurzbeschreibung nicht enthalten sind „Die Schneekönigin“ und „Väterchen Frost“, was ich vor allem angesichts der erwähnten beiden „Fehlgriffe“ äußerst bedauerlich finde.

Positiv aufgefallen ist mir, dass die Texte sprachlich nicht überarbeitet wurden, bzw. dass Uther sie nicht in modernes Deutsch übertragen hat. In vielen modernen Ausgaben haben die Märchen dadurch einen Großteil ihres Zaubers verloren.
Dasselbe gilt für die zwölf Illustrationen, die dezent in Schwarzweiß gehalten sind und teilweise aus alten Quellen wie dem Augsburger Bilderbogen stammen. Auch das Bild des Schutzumschlags ist schön gemacht, ganz unaufdringlich und nicht so schreiend grell, wie es heute auch bei Weihnachtssachen bereits oft der Fall ist.
Außerdem hat das Buch ein Quellenverzeichnis, was für mich vor allem im Hinblick auf die Textausschnitte und gekürzten Texte interessant war. Wer Interesse an den vollständigen Texten hat, weiß also, wo er suchen muss.

Alles in allem ein hübsches Bändchen für ein paar ruhige Minuten vor dem brennenden Kamin oder beim Schein von Adventskerzen. Wer etwas sucht, um in der Hektik des Vorweihnachtsgetriebes seine eigentliche Weihnachtsstimmung wiederzufinden, liegt hier bestimmt nicht falsch. Zum Vorlesen für Kinder ist das Buch allerdings nur bedingt geeignet. Die literarischen Texte sind naturgemäß sprachlich und inhaltlich ein paar Stufen zu hoch, aber auch die Volksmärchen sind nicht alle uneingeschränkt kindergeeignet. Am ehesten lassen sich die Märchen um Frau Holle und das vom Tannenbäumchen vorlesen, die stammen aber auch aus einem Kinderbuch mit Weihnachtsmärchen. Der damaligen Zeit entsprechend klingen sie stellenweise etwas kitschig, Kinder wird das aber wohl nicht stören.

Hans-Jörg Uther ist Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Essen und außerdem in der Erzählforschung tätig. Er hat eine ganze Liste von Märchensammlungen veröffentlicht, darunter „Sagenschatz“, „Märchenschatz“, „Märchen vom Glück“ und „Das große Buch der Fabeln“. Außerdem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift Fabula.

http://gutenberg.spiegel.de/raabe/sperling/sperling.htm
http://gutenberg.spiegel.de/storm/immensee/immensee.htm
http://gutenberg.spiegel.de/fontane/ellernkl/ellernkl.htm
http://gutenberg.spiegel.de/etahoff/floh/floh01b.htm
http://gutenberg.spiegel.de/arndt/msarndt/avenstak.htm

Bret Easton Ellis – American Psycho

Bret Easton Ellis’ Kultroman „American Psycho“ hält den amerikanischen Yuppies der 80er Jahre ein hässliches Spiegelbild vor und vermittelt als Nebenprodukt dem mittelständischen Leser mit drei Hypotheken die beruhigende Botschaft, dass ein Job an der Wall Street und ungezählte Kreditkarten kein Garant für ein glückliches und erfülltes Leben sind. Nun ist diese Erkenntnis heutzutage weder überraschend noch neu, doch wie Ellis seine Abrechnung mit dem amerikanischen Traum an den Leser bringt, war seinem Verlag |Simon & Schuster| bei der Erstveröffentlichung des Romans im Jahre 1991 einen Skandal wert. Er hatte dort bereits zwei Romane veröffentlicht und für „American Psycho“ einen Vorschuss erhalten. Als das Buch jedoch auf den Markt kam und der Chef von |Paramount| (zu dessen Konzern |Simon & Schuster| gehört) in einer Zeitung Auszüge aus dem Roman las, ließ er „American Psycho“ vom Markt nehmen und die bereits gedruckten Exemplare einstampfen. Dies löste natürlich eine noch größere Kontroverse über den Inhalt des Buches und eine eventuelle Zensur von Seiten des Verlags aus, bis sich der Vintage-Verlag|Ellis’ Buch annahm und den Roman neu herausbrachte.

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Nicholas Christopher – Franklin Flyer

Der junge US-Amerikaner Franklin Flyer, ein Abenteuer und Erfinder, wird in den 1930er Jahren in eine Nazi-Verschwörung verwickelt. Später steigt er zu einem der reichsten Männer des Landes auf, während er gleichzeitig als Geheimagent im Dienst der Regierung die Welt bereist und dabei haarsträubende Abenteuer erlebt … – Ein ‚literarischer‘ Abenteuerroman. Was das sein soll, muss der Leser selbst entscheiden. Objektiv beurteilt ist „Franklin Flyer“ ein fabelhaft geschriebenes, sehr unterhaltsames, mit einprägsamen Figuren besetztes Stück ‚Edel-Pulp‘. Überflüssig wirken diverse übernatürliche Elemente, weil sie gar zu deutlich als intellektuelle Spielerei ohne echten Handlungsbezug erkennbar sind. Nicholas Christopher – Franklin Flyer weiterlesen

Dunne, Dominick – Zeit des Fegefeuers

|Originaltitel: A Season in Purgatory|

Anfang der Siebzigerjahre lernt der weitgehend mittellose Harrison Burns auf der katholischen Eliteschule Milford den charismatischen Constant Bradley kennen, der einer reichen Unternehmerfamilie entstammt. Zwischen den ungleichen Jungen entsteht eine tiefe Freundschaft und Burns verbringt zunehmend mehr Zeit mit Constant und dessen Familie. Auf deren Landsitz Scarborough lernt er im Laufe der Zeit auch die Schattenseiten und Uneigenheiten des herrischen und skrupellosen Vaters sowie der Schwestern und Brüder von Constant kennen. Gerald Bradley findet als neureicher Emporkömmling trotz aller finanziellen Zuwendungen und Spenden keine Achtung in der alteingesessenen, feinen Ostküsten-Gesellschaft, wozu auch die Gerüchte über seine mehr als zwielichtigen Partner aus New Yorker Mafiakreisen und dubiose Geschäftspraktiken beitragen. Seine Frau Grace setzt alles daran, in der kirchlichen Gesellschaft zu Ehren zu kommen und lebt in einem Dauerzustand religiöser Verblendung, während Gerald seine Söhne mit allen Mitteln in hohe politische Ämter manövrieren will.

Als besonders aussichtsreich gilt der gut aussehende Constant mit seinem einnehmenden Wesen und der Fähigkeit, Menschen zu blenden und zu manipulieren. Aber die dunklen Seiten von Constant sind noch weit bedrohlicher, im Alkoholrausch erschlägt dieser nach einem Tanztreffen der örtlichen Debütantinnen die junge Winnifred Utley, die zwar seiner Einladung zu einem nächtlichen Treffen im Wald gefolgt ist, dann aber seinen sexuellen Wünschen offenbar nicht geneigt war. Der hochmoralische Burns hilft ihm zwar zunächst bei der Beseitigung der Spuren, leidet danach aber unter enormen Gewissensbissen. Gerald Bradley besticht den Jungen mit der Zahlung seines Studiums sowie einem einjährigen Aufenthalt in Europa, worauf sich Burns und Constant dann endgültig aus den Augen verlieren.

17 Jahre später ist Burns ein gefeierter Schriftsteller und Constant auf dem Weg in das amerikanische Repräsentantenhaus. Der alternde Gerald Bradley will Burns, der bereits früher einmal eine Rede für Constant geschrieben hat, zu einem Buch über Familie, Moral und andere Grundwerte überreden, das unter Constants Namen erscheinen und ihm den Weg in die große Politik ebnen soll. Wider besseres Wissen lässt sich Burns zu einem Familientreffen auf dem mittlerweile nach Southampton verlegten Landsitz überreden, bei dem sein lange gehegter Groll gegen seine eigene Mittäterschaft und die Machenschaften der Bradleys endlich ausbricht und sich die Situation dramatisch zuspitzt. Burns teilt sich schließlich den Behörden mit und es kommt zum Prozess gegen Constant, in dessen Verlauf jeder seine ganz persönliche Abrechnung präsentiert bekommt.

„Zeit des Fegefeuers“ ist kein Kriminalroman. Statt um die Aufklärung einer Straftat geht es um Schuld und Sühne, Ehre und Gewissen, moralische Grundwerte des Einzelnen und der Gesellschaft. Dies entwickelt sich langsam und subtil, und über einige Passagen hinweg ist der Unterschied zu einer der typischen, überladenen Familiensagen nicht mehr allzu groß. Die Vielzahl der Personen und deren familiäre Zusammenhänge werden allesamt sehr ausführlich dargestellt, obwohl der Anteil einiger Protagonisten an der eigentlichen Geschichte eher nichtig ist. Bis auf die fast lächerlich anmutende Szene von Burns Kampf mit dem „Hausmafioso“ der Bradleys ist die Geschichte jedoch schlüssig und nachvollziehbar und überzeugt durch eine besondere Atmosphäre und Spannung.

Dominick Dunne schreibt seit 1980 einen Erfolgsroman nach dem anderen, ein Großteil davon wurde verfilmt. Seine Werke gelten zumeist als kritische Beobachtungen der amerikanischen Gesellschaft und werden in den USA zuweilen mit denen Truman Capotes verglichen.

Conroy, Pat – Herren der Insel, Die

Erzählt wird die Geschichte einer Familie, die von Liebe und Hass, von Zärtlichkeit und Gewalt zerstört und zusammengehalten wird. Als die Dichterin Savannah Wingo nach einem erneuten Selbstmordversuch in einer psychiatrischen Klinik von der Therapeutin Susan Lowenstein behandelt wird, macht diese sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer berühmten Patientin und holt deren Zwillingsbruder Tom nach New York. Tom Wingo übernimmt die Aufgabe, die er seit jeher unfreiwillig inne hat – er ist das Gedächtnis von Savannah. Mit Widerwillen und in Erinnerung an Schweigegelöbnisse seiner Mutter gegenüber, beginnt er die Lebens- und Leidensgeschichte der Wingokinder zu erzählen.

Aufwachsend auf Melrose Island, einer kleinen Insel vor South Carolina, lernen sie das Handwerk des Krabbenfischens von ihrem Vater Henry Wingo, einem einfachen, zur Gewalttätigkeit neigenden Mann, und den Sinn für die Natur von ihrer Mutter Lila, einer ehrgeizig aufstrebenden Frau. Zwischen den Eltern tobt ein immerwährender, mal schwacher, mal heftiger Krieg. Luke, Savannah und Tom entwickeln jeder für sich unterschiedliche Verhaltensmuster, um die nicht vorhersehbaren elterlichen Schlachten, in die sie mit hineingezogen werden, zu verarbeiten. Der Älteste, Luke, ist der Tatkräftige unter den Dreien. Er lenkt die Gewalttätigkeit des Vaters auf sich, um seine Geschwister zu schützen, er greift zum Gewehr, um gegen ihn zu kämpfen, während Tom die Leichtigkeit des Vergessens anstrebt, unterstützt von den Worten seiner Mutter, die alle Kinder zum Schweigen verdammt. Sein Ziel ist es, ein normaler Durchschnittsbürger zu werden, was ihm leider nicht gut gelingt. Savannah hingegen driftet in bedrohliche Wahnvorstellungen ab, hat massive Gedächtnislücken und verwandelt mit Toms Hilfe die traumatischen Erlebnisse in poetische Verse, die sie zwar zu einer erfolgreichen Dichterin machen, aber ihre zerbrochene Seele nicht heilen können, so dass sie in kurzer Zeit mehrere, immer ernster werdende Selbstmordversuche unternimmt. Über allem schwebt das Wort „Callenwolde“, das der Schlüssel zu Savannahs Heilung zu sein scheint, dessen Geschichte jedoch in Tom fest eingeschlossen ist.

Aber auch in der Gegenwart sieht es nicht besser aus: Henry Wingo, unfähig seiner Frau das zu geben, was sie will, zerbricht an der Scheidung, während Lila ihren Aufstieg in die gehobenere Schicht nach langer Planung geschafft hat. Luke wurde als Amokläufer bei polizeilicher Gegenwehr erschossen. Toms Frau hat einen Liebhaber und will sich von ihm trennen, er selbst ist arbeitslos und unzufrieden mit sich. Zynisch und verbittert kämpft er gegen sich selbst, gegen seine eigene Familie und auch gegen die Therapeutin. Savannah liegt im lebensbedrohlichen Zustand in der Klinik und ist wieder einmal auf die Hilfe ihres Bruders angewiesen. Selbst die Therapeutin Susan Lowenstein hat private Probleme, die sie nicht bewältigen kann.

Nach und nach dringt Dr. Lowenstein in die Schreckensgeschichte der Wingos ein, macht sich an die schwere Aufgabe, das Siegel der Verschwiegenheit zu durchbrechen und die Heilung mittlerweile nicht nur von Savannah in Angriff zu nehmen, sondern auch von Tom und nicht zuletzt von sich selbst.

Pat Conroy, aus South Carolina stammend und zur Zeit in Rom lebend, schuf ein Buch, das herzzerreißender und denkanregender kaum sein kann. Lebhaft erzählt er in einem ständigen Wechsel von wunderschönen, verträumten und kalten, selbstzerstörerischen Bildern die Geschichte einer psychoanalytischen Selbstfindung, die den Leser unwillkürlich dazu bringt, auch mal in sich selbst hineinzuhorchen, um vielleicht eine schnelle Analyse seiner eigenen Lebenssituation zu vollziehen.

Erfolgreich verfilmt wurde das Buch unter dem Titel „Der Herr der Gezeiten“ von und mit Barbra Streisand, die die Therapeutin Susan Lowenstein spielt, mit Nick Nolte an ihrer Seite als Tom Wingo.

_Leseprobe:_

|“Ich wünschte, es gäbe keine Geschichte, über die hier zu berichten wäre. Lange Zeit habe ich so getan, als hätte meine Kindheit nicht stattgefunden. Ich hielt sie tief in meiner Brust verschlossen. Nein, ich konnte sie nicht herauslassen, ich folgte dem fragwürdigen Beispiel meiner Mutter. Gedächtnis ist auch eine Sache des Willens, und ich entschied mich gegen mein Gedächtnis. Da ich die Liebe zu meiner Mutter und meinem Vater brauchte, trotz all ihrer menschlichen Schwächen und Gebrechen, konnte ich es mir nicht leisten, sie unverblümt auf die schweren Vergehen anzusprechen, die sie an uns Kindern begangen hatten. Ich konnte sie nicht verantwortlich machen oder ihnen die Schuld an schweren Fehlern geben, die sie nicht hatten verhindern können. Sie hatten ihre eigene Geschichte, eine Geschichte, an die ich mich nur mit Zärtlichkeit und Schmerz zugleich erinnere und die mich all ihre Vergehen an den eigenen Kindern verzeihen ließ. In Familien gibt es kein Verbrechen, das nicht vergeben werden könnte.

Nach Savannahs zweiten Selbstmordversuch besuchte ich sie in New York in einer psychiatrischen Klinik. Ich beugte mich zu ihr hinab, um sie in europäischer Manier auf beide Wangen zu küssen. Nachdem ich tief in ihre erschöpften Augen geblickt hatte, stellte ich ihr eine Reihe von Fragen – wie stets, wenn wir uns nach langer Trennung wiedersahen.

‚Wie war dein Familienleben, Savannah?‘ erkundigte ich mich im Tonfall eines Interviewers.

‚Hiroshima‘, flüsterte sie.

‚Und wie war dein Leben, seit du den sicheren, warmen Schoß deiner fürsorglichen, einträchtigen Familie verlassen hast?‘

‚Nagasaki‘, antwortete sie mit einem bitteren Lächeln um den Mund.“|