Cory Doctorow – Upload

Ein Spinner zwischen Komset und Furzmobil

In naher Zukunft gibt es neben den Nationalstaaten noch eine weitere Art von Staaten: virtuelle Netzwerke, die über das Internet verbunden sind. Diese „Stämme“ haben sich nach den Zeitzonen der Erde organisiert. Und sie bekämpfen sich nicht weniger erbittert als ihre Vorbilder in der realen Welt. Nur mit völlig anderen Mitteln. (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Autor

Cory Doctorow ist nach Verlagsangaben Schriftsteller, Journalist und Internet-Aktivist. Er wurde 1971 in Toronto geboren und lebt heute im weltweiten Netz. Man finde ihn unter der Adresse http://www.craphound.com. Aber ich habe die Listen von literarischen Auszeichnungen im weiten Feld der Phantastik durchgeackert und bin mehrfach auf Doctorows Namen gestoßen. So wurde der Roman „Down and out in the Magic Kingdom“, der bei uns als „Backup“ erschien, anno 2004 von den Lesern des einflussreichen LOCUS-Magazins zum besten Debütroman gewählt. Weitere Werke sind „Little Brother„, „Walkaway“ und „Wie man einen Toaster überlistet„.

Handlung

Der Kanadier Art Berry ist ein junger Bursche, der in London für den Riesenkonzern |Virgin/Deutsche Telekom| (V/DT) arbeitet. Er soll eigentlich bessere Benutzerszenarien für die Dienste seiner Telekommunikationsfirma entwickeln, doch sein wirklicher Auftrag besteht darin, genau dies zu sabotieren. Denn er ist ein Angehöriger des Stammes der Standardostküstenzeit der USA, und dort ist man keineswegs daran interessiert, dass V/DT nach USA expandiert.

Mit seinen Stammesgenossen kommuniziert Art jederzeit mit Hilfe seines Komsets, das ihn nicht nur telefonieren und E-Mails verschicken lässt, sondern mittels Tastatur auch Internet Relay Chat (IRC) erlaubt. Im Chat kann sich Art meist ungestört und vertrauensvoll mit seinen Peers verständigen. In einem Geschäft, in dem Ideen Gold wert sind, ist das eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg.

Arts Schicksal ändert sich, als er morgens um drei Uhr eine junge Frau anfährt. Warum sie einfach auf die Straße tritt und was sie eigentlich um diese Uhrzeit hier zu suchen hat, fragt er sich erst einmal nicht. Nach einiger Kabbelei merkt er, dass er sich in die üppig ausgestattete Amerikanerin Linda verknallt hat. Sie sagt, sie sei von ihrem Ex Toby geschieden, aber er prüft das ebenso wenig nach wie ihre anderen Behauptungen. Dass sie für den Stamm der Pazifikzeit arbeiten könnte, fällt ihm erst ein, als es bereits zu spät ist.

Wenige Wochen später findet er sich nämlich in einer Klapsmühle in Boston, Massachusetts wieder. Er ist zwangseingewiesen worden, denn er habe Linda und seinen Kollegen Federico attackiert und sei gemeingefährlich. Art ist völlig zurechnungsfähig, doch wie soll er das beweisen? Er befindet sich in einem Catch-22, bei dem er nur verlieren kann. Also muss er hier raus. Als er auf das Dach der Nervenheilanstalt steigt, fällt die Tür hinter ihm zu und er muss versuchen, sich bemerkbar zu machen. Das gibt ihm zugleich viel Zeit, darüber nachzudenken, wie es nur so weit kommen konnte.

Möglicherweise begann es, als er Federico seine geniale Idee für ein Musikbezahlprogramm für amerikanische Mautstraßen verriet. Zu allem Überfluss machte er Federico dann auch noch mit Linda bekannt. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

Wird es Art gelingen, je wieder in die Freiheit zu gelangen und es seinen Verrätern heimzuzahlen? Er ruft mal seine Großmutter in Toronto an. Zu seiner Überraschung hat auch sie brillante Ideen …

Mein Eindruck

Wie schon „Backup“ (s.o.), lässt sich auch „Upload“ in kurzer Zeit lesen. Die große, gesperrte Schrifttype lässt den Leser gut vorankommen, die kurzen, prägnanten Sätze lassen ihn sogar seitenweise Monologe mit Leichtigkeit bewältigen. Und weil am Ende eines Kapitels stets Neugierde erzeugt wird, ist das Weiterlesen ein Muss.

Ein Irrer erzählt

Der Kniff, dass das ganze Buch das Geständnis eines Typen ist, der in der Klapsmühle sitzt und raus will, macht seine Geschichten erstens fragwürdig und zweitens ironisch. Hat er die Geschichten nur erfunden, um sich uns als „zurechnungsfähig“ hinzustellen? Und wenn ihm dies alles wirklich widerfahren ist, wie können wir dann wissen, ob er sich dann nicht doch als der Mörder herausstellt, als den ihn seine Verräter, Linda und Federico, hinstellen?

Es ist genau diese Frage, die der Erzähler erst ganz zum Schluss beantwortet. Das fand ich ziemlich raffiniert eingefädelt. Aber im Rückblick ist dies die einzige Methode, die relativ banale Story so zu erzählen, dass sie bis zum Schluss spannend und abwechslungsreich bleibt.

Die Stämme

Ich sage „relativ banal“, denn im Grunde dreht sich alles um ein Allerweltsgeschehen. Der junge „Held“ ist noch etwas grün hinter den Ohren, vertraut den falschen Freunden und wird übers Ohr gehauen. Irgendwas neu daran? Eigentlich nichts außer dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass es sich bei den Protagonisten um Angehörige verfeindeter Stämme handelt. Plötzlich haben wir es nicht mit Individuen oder Klassenvertretern zu tun, sondern mit Vertretern eines neuen sozialen Phänomens: virtuelle Stämme. Bei dem Wort „Stamm“ assoziieren wir sofort „Indianer“. Doch wird sich Art Berry wirklich auf das kulturelle Niveau von sogenannten „Wilden“ hinabbegeben? Das ist eine spannende Frage.

Dem Autor geht es deshalb verständlicherweise nicht so sehr um eine Thriller-Story (die es nur ansatzweise gibt), sondern um die Schilderung dieses neuen Phänomens, das sich bereits heute in Ansätzen zeigt. Auf dieses Phänomen und seine begleitenden Umstände wie etwa übertragbare digitale Identitäten bin ich bereits am Anfang von Charles Stross‘ visionärem Roman [„Accelerando“ 2863 gestoßen. Stross treibt die Sache viel weiter, weil sein Anspruch wesentlich höher ist als der von Doctorow.

Nein, der Autor von kleinen Gesellschaftssatiren wie „Backup“ und „Upload“ wollte einfach nur eine kleine Vignette aus der allernächsten Zukunft zeichnen, vielleicht aus dem Jahr 2010 oder 2012. Die technisch-soziale Entwicklung im Internet schreitet derart rasch voran, dass Voraussagen nur noch für nächsten 18 bis 24 Monate gewagt werden. Es sei denn, man nennt sich „Analyst“, arbeitet für ein Marktforschungsinstitut und hat die Lizenz, öffentlich Voraussagen bis zum Jahr 2012 treffen. Was sich die Leute für Szenarien hinsichtlich des Jahres 2020 ausdenken, bleibt völlig geheim. Es wäre einfach zu schrecklich und zu disruptiv.

Das Hauptproblem

Es ist die zentrale Idee Art Berrys, die mir Kopfzerbrechen bereitet hat. Da haben wir also eine Strecke Autobahn (die Interstate 90 in den USA), die an beiden Enden Mautstellen aufweist. Diese Kontrollstationen sind nicht popelige Geldsammelstellen, sondern hochgezüchtete Überwachungsterminals für alle mögliche Medien (Musik, Video) der Autofahrer, auf die urheberrechtliche Verwertungsgebühren erhoben werden. Auf einem modernen Autoradio, das über eine Festplatte verfügt, sind also tausende von Musiktiteln gebührenpflichtig gespeichert.

Die Gebühren sind folgerichtig an der Mautstation zu entrichten, aber erst dann, wenn neue hinzugekommen sind, die der Fahrer unterwegs heruntergeladen hat. Jetzt kommt’s: Woher soll er denn die Titel herunterladen, wenn nicht über eine Satellitenverbindung oder über ein WLAN, denkt sich der heutige PC-Nutzer? Doch bei Doctorow muss es noch eine weitere Technik geben, die eine Art WLAN zwischen zwei parallel fahrenden Autos aufbaut, so dass diese ihre Musiktitel austauschen können (manchmal nicht ganz freiwillig). Oder die Autobahn selbst, die selbstverständlich privat betrieben wird, stellt die entsprechende Kommunikationsbrücke bereit. Bei einer Autobahn, die |Virgin/Deutsche Telekom| gehört, liegt dieser Gedanke nahe.

Okay, die Lage des Autofahrers ist also folgende: Die Mautstation nähert sich, und er hat unterwegs jede Menge Musiktitel (legal, illegal, scheißegal) eingesammelt, für die er nun löhnen soll. Ist das gerecht? Für die Betreiber der Autobahn schon, aber für den Fahrer sicher nicht. Art Berrys Idee besteht nun darin, den armen Autofahrer dafür zu |belohnen|, dass er Musiktitel tauscht, als wäre er Napster persönlich. Er trägt ja etwas zum Marketing der Musikproduzenten bei, oder? Und je mehr und öfter er das tut, desto besser sollte man ihn belohnen. Der Firmenname |PayTune ©| sagt schon alles.

Die Sache hat allerdings für die Gesetzesvertreter einen Haken: Werden auf diese Weise zehntausende von Musiktiteln illegal ausgetauscht, dann haben sie damit ein Problem, denn die Verwertungsgebühren fallen nicht mehr an. Es ist ein schlaues Benutzerszenario, wie es sich ein Genie wie Art ausdenken kann, doch irgendjemand zahlt hier die Zeche. Fragt sich nur, wer.

Doctorow erklärt dieses Konzept ein- oder zweimal, aber nicht besonders eingehend, denn es soll sich ja um eine „normale“ Unterhaltung zwischen zwei Kollegen handeln. Deshalb muss sich der Leser eine Menge selber zusammenreimen. Vielleicht wirkt dadurch diese Idee nicht so überzeugend, wie sie es eigentlich sein soll. Und wer sich nun fragt, was denn daran so toll sein soll, der schaue sich bloß man an, wie lukrativ ein Pay-Music-Programm wie |iTunes| geworden ist. Hier werden Millionen von Dollars umgesetzt. Und wenn man |PayTune ©| weltweit einsetzen würde, kämen wahrscheinlich ein paar Milliarden Dollar zusammen. Es geht also nicht um Peanuts.

Die Übersetzung

„Upload“ ist ein irreführender deutscher Titel, denn in der ganzen Handlung werden zwar ständig Daten ausgetauscht, aber ein großer Upload ist weit und breit nicht festzustellen. Hier hat sich das SF-Lektorat lediglich einen ähnlich verbreiteten Begriff wie „Backup“ aus dem Computer-Wörterbuch herausgesucht. Denn ein Titel wie „Eastern Standard Tribe“ sagt dem deutschen Leser einfach nichts, sofern dieser Leser nicht den Begriff „Eastern Standard Time“ + „tribe“ (Stamm) damit verbindet. Der Originaltitel ist schon ziemlich witzig, allerdings nur für Eingeweihte.

Ansonsten konnte ich außer dem einen oder anderen Druckfehler erstaunlicherweise keine Fehler finden. Iwoleit ist der Autor des Zukunftsromans „Psyhack“ und kennt sich mit Technologien aus, die heute an der vordersten Front der Entwicklung stehen und deren Umsetzung wir bereits innerhalb von fünf bis zehn Jahren erwarten können. Vielleicht gibt es deshalb kein Glossar im Buch. Der Übersetzer kann alles bereits als bekannt voraussetzen – auf die Gefahr hin, den einen oder anderen Leser zu überfordern. Aber wozu gibt es denn die |Wikipedia|?

Unterm Strich

Die Schilderung von grotesken Szenen in London, Boston und Toronto ist zwar recht unterhaltsam in ihrem ironischen Humor, aber das macht noch keinen unterhaltsamen Zukunftsroman aus, der den Leser bei der Stange hält. Auch die vielen Sexszenen mit Linda rissen mich nicht gerade vom Hocker, vom Auftreten von Arts Oma und den Szenen in der Klapse ganz zu schweigen.

Da waren mir die Chat-Sessions auf dem Komset doch schon lieber, denn sie erfordern eine größere Aufmerksamkeit. Nur dann merkt man, was der Witz daran ist, wenn ein Teilnehmer aus einem Chatroom hinausgeekelt wird. Auch die Erwähnung der Datenbank |Lexis-Nexus| verdient Interesse, denn sie lässt sich – auch im Buch – zu allem Möglichen missbrauchen. Hacker finden hier eine kleine Fundgrube.

Es gibt ein paar recht witzige Einfälle, so etwas das „Furzmobil“. Das ist ein Auto, das nicht mehr von Benzin – das ist der Welt (außer für Flieger) längst ausgegangen -, sondern mit Biogas bzw. Methan betrieben wird. Das Gas stammt aus der Kacke von Tieren und Menschen, bildet quasi deren Fürze – ergo der Spitzname „Furzmobil“. Als ein gut gezielter Ziegelstein Art Berrys dessen Kofferraum trifft, sind die Folgen spektakulär: eine gewaltige Explosion. Ups! Aber was kann man von einem Insassen der Klapsmühle schon erwarten? Vielleicht sitzt Art ja wirklich mit voller Berechtigung darin.

Taschenbuch: 318 Seiten
Originaltitel: Eastern Standard Tribe, 2004
Aus dem US-Englischen von Michael K. Iwoleit
ISBN-13: 9783453524132
http://www.heyne.de

Schreibe einen Kommentar