Connie Willis – Die Farben der Zeit. Zeitreise-Roman


Der Traum aller Geschichtsstudenten wird wahr, als die Universität Oxford die Möglichkeit anbietet, mittels Zeitmaschine in die Vergangenheit zu reisen und Geschichte tatsächlich vor Ort zu studieren. Doch was so aufregend klingt, führt bald zu den skurrilsten Verwicklungen und Löchern im Raumzeitgefüge – und schließlich ist man nur noch damit beschäftigt, mit Ach und Krach den korrekten Gang der Historie zu retten… (Verlagsinfo)

Die Autorin

Constance Elaine Trimmer Willis wurde am Silvestertag des Jahres 1945 in Denver, US-Staat Colorado geboren. Sie studierte Englisch und Erziehungswissenschaften am dortigen Colorado State College (heute University of Northern Colorado), wo sie 1967 ihren Abschluss machte und als Lehrerin zu arbeiten begann.

Ihre erste Kurzgeschichte („The Secret of Santa Titicaca“) veröffentlichte Willis im Dezember 1970. Bekannt wurde sich durch ihre pointierten Storys. Ein Debütroman (Water Witch; dt. „Die Wasserhexe“, zusammen mit Cynthia Felice) folgte erst 1982. Der Erfolg ermöglichte es Willis, ihren Beruf aufzugeben und sich auf die Schriftstellerei zu konzentrieren.

Die 1945 geborene Lehrerin und US-Schriftstellerin ist seit den achtziger Jahren eine der besten und originellsten Science Fiction-Autorinnen. Die Stories, die dies beweisen, sind in dem Band „Brandwache“ gesammelt (deutsch bei Luchterhand). Sie hat bereits zahlreiche Preise eingeheimst, darunter den HUGO und den NEBULA für ihren Zeitreiseroman „Die Jahre des Schwarzen Todes“ (1992, dt. bei Heyne).

Lincolns Träume“ war 1987 ihr Romandebüt als Solo-Autorin, davor schrieb sie als Ko-Autorin mit Cynthia Felice. Für „Die Farben der Zeit“ wurde Connie Willis mit dem Hugo Gernsback- und dem Locus (Magazine) Award für den besten SF-Roman des Jahres 1997 ausgezeichnet.

Seither hat Willis mehr Auszeichnungen – darunter elf Hugo Gernsback Awards und sieben Nebula Awards – eingeheimst als jede andere Science-Fiction-Autorin. Dabei fühlt sie sich dem Genre keineswegs verpflichtet. Willis setzt ihre Hauptfiguren gern den Attacken karrieresüchtig stromlinienförmiger, politisch überkorrekter, humorloser Zeitgenossen aus, die sie auf diese Weise anprangert.

Mit ihrem Gatten, einem ehemaligen Physikprofessor, lebt Connie Willis heute in Greeley, Colorado.

Handlung

Die Kathedrale von Coventry ist im November 1940 von der deutschen Luftwaffe zerbombt worden. Als die Chrononauten eintreffen, betreten sie ein Trümmerfeld. Sie haben die Aufgabe, in einer der vielen Kapellen eine Urne zu finden, die als die sogenannte „Vogeltränke des Bischofs“ verspottet worden ist. Aber das wissen sie nicht. Die Leitung der kleinen Gruppe hat Leutnant Ned Henry, aber das Reden überlässt er Carruthers. Der muss dem Kirchendiener Rede und Antwort stehen. Doch schon bei der Frage nach den völlig unterschiedlichen Uniformen, die sie tragen, verrennt sich Carruthers in seinen eigenen Lügen. Er muss sich schließlich auf die Königin (die damals allerdings ein Mann war) als Auftraggeberin berufen.

Der Auftrag

Lady Schrapnell hat den Auftrag für diese Zeitexpedition erteilt, und keiner legt sich ungestraft mit ihr an, ist sie doch ein hohes Tier an der Historischen Fakultät der Universität Oxford. Sie hat zwei Ziele im Sinn. Erstens soll die Kirche wiederaufgebaut werden und in altem Glanz erstrahlen. Zweitens soll die Urne beschafft und verbotenerweise nach Oxford in die Gegenwart des Jahres 2057 geholt werden. Denn das viktorianische Stück spielt in der Familiengeschichte derer von Schrapnell eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Riskant

Die Lady wagt es daher, sich mit den Gesetzen der Kausalität anzulegen und eine „parachronistische Inkonsequenz“ zu erzeugen, wie der Chrono-Wissenschaftler Dr. Chiswick es ausdrückt. Das könnte böse ins Auge gehen, weiß sie, und lässt deshalb die Kathedrale vom Mittelalter bis in die Stunden nach der verhängnisvollen Bombenattacke messen und prüfen. Ned Henry fällt gleich auf, dass alle Kapellen, die den Zünften geweiht waren, von außen durch eine Tür zugänglich war. Doch nach innen versperrte eine hohe, verzierte Schranke den Zugang. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Zeitkrank

Doch man springt nicht ungestraft in der Zeit herum. Man hat ihn vor der Zeitkrankheit gewarnt, die durch Schlafmangel erzeugt wird und sich in Sentimentalität, Unkonzentriertheit, Hörschwäche und vielem mehr äußert. Zuerst bemerkt er die Symptome an Carruthers, dann an dem „jungen Rekruten“, der sich über das Erscheinen einer Katze, einer im 21. Jahrhundert ausgestorbenen Spezies, ereifert, aber schließlich weist Carruthers ihn mehrfach ungehört daraufhin, dass er, Ned Henry, sämtliche Symptome aufweise. Spätestens dann, als Ned eine sentimentale Lobrede an seinen zeitreisenden Begleithund Mr. Spivens richtet. Gleich darauf fühlt sich Ned zurück in die Zukunft gerissen.

Oxford 2057

Er erwacht in einem Hospital in Oxford, rußverschmiert, helmbedeckt und paranoid: Was, wenn Lady Schrapnell ihn hier findet?! Die Krankenschwester, die ihn verhört, versteht nicht, welche Bedeutung diese Lady für Ned hat. Kaum ist sie vor der Tür, verduftet Ned durchs Fenster. Es gelingt ihm, sich Richtung Balliol College durchzuschlagen, denn dort waltet Historik-Prof. Dunworthy, aber er braucht die Hilfe von Dunworthys Sekretär Finch, um die letzten Meter zu schaffen.

Die Agentin

Der Professor ist gerade mit einer Chrono-Agentin namens Miss Kindle beschäftigt, denn sie hat es gewagt, etwas aus dem 19. Jahrhundert zurückzubringen. Was kann es nur sein? Ned versucht zu verstehen, was sie mit Lehm-Plätzchen, Glatzen oder Matratzen meinen könnte, doch als sie selbst erscheint, vergisst er alles: Sie ist eine Lichterscheinung, eine wahre, äh, Sirene oder Dryade: grün und braun und stoffumflossen, ah!

In Kurlaub

Dunworthy erkennt alle Symptome an Ned. Als Dr. Chiswick sich darüber beschwert, welch verheerende Auswirkung die Einmischung Lady Schrapnells hat, schickt Dunworthy Ned erst einmal den von den Lady gesuchten Ned Henry in die Kur, genauer: ins beschauliche 19. Jahrhundert, ins Jahr 1888. Dort sollte er sicher sein und sich erholen können, oder?

In der Abteilung „Zeitreise“ herrscht als einzige Mrs. Warder. Da die Lady ihr alle Kollegen weggenommen hat, hat sie jetzt drei Jobs und ist entsprechend frustriert. Grantig verweigert sie Dunworthy jeden Gehorsam, doch als er schweres Geschütz auffährt, lenkt sie ein. Sie staffiert Ned aus, Finch bringt das Gepäck, doch Dunworthy sorgt sich wegen „Schlupffehlern“ und der chronologischen Inkonsequenz. Laut zwei Theorien können erstere größer werden und die letztere das Universum zerstören.

Doch es muss sein: Dunworthys Plan sieht vor, den Schaden, den Miss Kindle angerichtet hat – durch „Lehm-Plätzchen?! – , wiedergutzumachen. Dafür muss Ned möglichst genau in der Zielzeit ankommen. Die Zeit wird knapp, als die LADY alle Ablenkungsmanöver überwindet und droht, Ned aufzuhalten und zu rekrutieren, zeitkrank oder nicht. In letzter Sekunde löst Ned selbst den Zeitsprung aus…

Anfang Juni 1888

Ned landet quer auf den Eisenbahngleisen. Er schafft es gerade noch, sein Gepäck vor dem anrollenden Zug zu retten und die nächstgelegene Bahnstation zu finden. Sie nennt sich großspurig „Oxford“. Eine zurückgelassene Zeitung bestätigt ihm: Dies ist die Zielzeit, nämlich der siebte Juni des Jahres unseres Herrn AD 1888. Na, wenigstens das ist richtig, aber wie lautete noch gleich Dunworthys Auftrag? Er müsse hier eine Kontaktperson treffen und vielleicht nach Coventry fahren. Und der Zielort? Irgendwas mit „End“.

Oxford

Eine alte Frau wartet in Begleitung ihrer junge Nichte vergeblich auf jemanden, der sie abholt. Sie geben ihr Gepäck auf und verschwinden. Anschließend taucht der junge Mann auf, der sie vermutlich abholen sollte, nicht fündig wird und sich neben Ned setzt, um ihn – gebildet verklausuliert – anzubetteln: Er will ein Boot für eine kleine Tour auf der Themse mieten, und ob Ned nicht ein paar Sixpence übrighätte? Sein Zielort lässt Ned aufhorchen und sofort handelseinig werden: „Muchings End“, 40 km hinter Oxford die Themse hinunter. Das klingt zumindest richtig. Wenigstens klingt es nicht nach jenem Kürbisfeld, in das die schöne Miss Kindle geraten war.

Die Bootstour

Oxford im 19. Jahrhundert zu bestaunen, ist für Ned ein Erlebnis, doch Terence, der unternehmungslustige Student, erweist sich als eigensinniger Fremdenführer – ist er vielleicht Neds Kontaktperson? Wie auch immer, der Weg führt zum Themseufer, wo ein Bootsverleiher ihnen eines seiner Boote anvertraut. Sie bringen ihr umfangreiches Gepäck in dem Kahn unter – und eine Bulldogge, die auf den Namen Cyril hört.

Sie legen ab. Terence wandelt auf Freiersfüßen. Er hat eine junge Dame, ach was: eine Göttin! – kennengelernt, die heute um zwei Uhr an der Brücke in Iffley auf ihn warten wolle. Doch etwas kommt dazwischen: Terence St. Trewes‘ eigener Professor Peddick, ein Historiker von altem Schrot und Korn, fällt vor ihnen ins Wasser und muss gerettet werden. So erfahren sie von seinem Streit mit Prof. Overforce in Oxford, der auf die Wirkung der Massen auf den Verlauf der Geschichte fixiert ist. Ganz im Gegensatz zu Peddick, der auf markante Wendepunkte und heldenhafte Persönlichkeiten setzt, die den Verlauf der Geschichte ändern. Was ist nun zutreffend, lautet die unterschwellige Frage, die sich in Neds Geist formt. Er will es herausfinden.

Eine englische Rose

Die Brücke von Iffley kommt in Sicht, bekrönt von einer weißgekleideten Lichtgestalt. Doch Verity ist nicht Terences „Göttin“, denn diese Göttin erscheint unter dem Namen Tossie Mering, eine 17-jährige viktorianische Jungfer. Wie sich bald zeigt, ist Verity Ned Henrys Kontaktperson: Verity Brown ist jene Nixe, die in Dunworthys Institut erblickte. Die Zeit-Agentin hat möglicherweise eine temporale Inkonsequenz ausgelöst, indem sie eine Katze aus der Themse rette und mit nach Oxford brachte. Es ist das erste Mal, dass jemand so etwas geschafft hat, und Ned kann sich vorstellen, dass alle in Oxford ziemlich aufgeregt sind.

Prinzessin Arjumand

Das Kätzchen, um das so viel Aufhebens gemacht wird und das auf den stolzen Namen „Prinzessin Arjumand“ hört, wurde von Tossies und Veritys Kutscher cum Butler Baine in den Fluss geworfen. Was mag er sich wohl dabei gedacht haben, wundert sich Ned. Verity teilt ihm den zweiten Grund mit, warum diese Katze so besonders wichtig ist. Sie spiele laut Tossies Tagebuch im Juni 1888 eine bis dato unbekannte Rolle bei der Anbahnung ihrer ehelichen Beziehung mit einem mysteriösen Herrn C, der in Lady Schrapnells Stammbaum eine zentrale Rolle spiele. Fortan will Ned genau auf Katzen achten, denn Lady Schrapnell tut es sicherlich auch und wird wie Verity nach einem Herrn C Ausschau halten.

Doch sowohl Verity als auch Tossie Mering, ihre Besitzerin, suchen die Katze bislang vergebens. Erst als Terence und Ned Prof. Peddick mitsamt ihrem Boot wiederfinden und eine Picknickpause einlegen, kommt Ned dazu, den Korb, den Finch ihm in letzter Sekunde in die Hand gedrückt hatte, zu öffnen: Heraus schaut die Prinzessin, die schon überall gesucht wird – und sie macht sich auch gleich wieder aus dem Staub…

Mein Eindruck

Die Autorin liebt Screwball-Komödien der 1930er und 1940er Jahre, je absurder, desto besser. Aber sie liebt auch Detektivromane der 1930er Jahre, etwa von Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers. So kommt es, dass Verity und Ned Henry einander nicht bloß als Sherlock Holmes und Watson anreden, sondern auch als Poirot und Miss Marple, ja sogar als Lord Peter Wimsey und seine Kollegin Harriet.

Vorlagen und Folien

Dieses dynamische Duo ist sich seiner Rolle zunehmend bewusst, denn es sieht immer klarer, dass es einen Puppenspieler gibt, der mit ihnen ein Stück gibt, das eine fatale Ähnlichkeit mit einem Roman von einem gewissen Jerome K. Jeromes (1859-1927) hat: „Three Men in a Boat (To Say Nothing of the Dog“ (1889; dt. „Drei Mann in einem Boot – vom Hunde ganz zu schweigen“). Das ist der Grund, warum der vorliegende Roman im Original „…to say nothing of the dog“, heißt. Und wenn man sich nun grübelnd, welcher Hund gemeint sein könnte, so liegt die Antwort auf der Hand: Es ist Cyril, die Bulldogge, das Inbild des politischen Briten.

Agenten des Chaos

Cyril liegt im Dauerclinch mit Prinzessin Arjumand, der edlen Katze, die so viel Chaos anrichtet – und auch den Goldfischen von Colonel Mering nachstellt. Übrigens ist mit ihrem Namen jene Prinzessin Arjumand gemeint, zu deren Ehren ein indischer Maharadscha das Grabmal „Taj Mahal“ errichten ließ. Der Grund: Sie hatte ihm über ein Dutzend Kinder geboren. Ganz so brav ist die Katze allerdings nicht. Offenbar dachte die Autorin, dass ein Hund im Boot viel zu brav wäre und unbedingt eine Gegenspielerin erfordere. Dieser Plan ging hundertprozentig auf – und er weist die Rolle von Tossie Mering voraus.

Detektive der Liebe

Denn Tossie spielt eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie die vermaledeite Standvase in der Kathedrale. Tossie wird nämlich eine Vorfahrin von Lady Schrapnell zur Welt bringen, und dafür braucht es einen Vater, der allerdings bis dato unbekannt ist. Sein Name fängt mit C an, weiß die Forensikerin aus der Zukunft zu berichten, als sie die verklebten Tagebücher Tocelyn Merings auswertet.

Unsere beiden Superagenten Verity Brown und Ned Henry sind also im Auftrag der korrekten Liebe unterwegs. Ihre Korrekturen sind aber eher suboptimal als hilfreich. Eine der einschlägigen Szenen ist der auf mehrere Kapitel ausgedehnte Wohltätigkeitsbasar bei den Merings. Es herrscht ein chaotisches Kommen und Gehen. Während sich Verity kurz mal in die Zukunft absetzt, versucht Ned, die Stellung zu halten. Er will Tossie zum Hufeisenwerfen verleiten, doch wie sich zeigt, spielt sie nur nach ihren eigenen Regeln! Wie soll er nur die junge Frau, die Mutter der Schrapnell’schen Zukunft, im Zaum halten? Er hat sich in ihr getäuscht und unterliegt zusehends. Am Ende des Tages jedoch ist Tossie spurlos verschwunden und die Katastrophe perfekt.

Non-player characters (NPCs)

Was kann nur passiert sein? Ned und Verity, unsere wackeren Agenten der Zeit und der Liebe, raufen sich die Haare. Ganz einfach: Sie haben sich von noch jemandem täuschen lassen. Butler wie Baine, die Bücher lesen, sind offenbar gewiefter als Chrononauten. Als sich Tossie mit dem Butler anlegt, hat dieser bereits entnervt gekündigt und darf sie ungestraft – wie zuvor die Katze – in den Fluss werfen. Sowas ist der Prinzessin Tossie noch nie passiert, doch die Strafpredigt, die er ihr hält, wäscht ihr den Kopf so gründlich (und ein wenig idealistisch), dass sie beschließt, ihr Leben zu ändern… Au weia, jetzt brennt bei Ned und Verity die Hütte, von Mrs. Mering ganz zu schweigen, die reihenweise in Ohnmacht fällt (nicht nur wegen des engen Korsetts, sondern auch wegen der Gespenster, die sie zu sehen meint).

Ein weiterer solcher NPC ist eine Frau, die in und um die Kathedrale von Coventry tätig ist. Erst als Ned in jener Bombennacht die Kirche durchsucht, sieht er sie vorüberhuschen wie einen Schatten. Und eine weitere, scheinbar zufällige Zwischenstation Anfang des 20. Jahrhunderts deckt ihre Verbindung zu Prof. Dunworthy auf. Während Ned sich wie eine Schachfigur durch die Zeit geschoben fühlt, entdeckt er die Spur jener Frau häufiger. Kontakte führen wie in einem Graphen zu auffälligen Verbindungen. Nur zusammen mit der scharfsinnigen Verity alias harriet kann er wie weiland Lord Peter Wimsey die Adresse der Frau ausfindig machen. Auf ihrem Dachboden liegen und stehen Schätze – alle in jener Bombennacht aus der Kirche gerettet.

Der Druck der Zeit

Neds und Veritys Leben als Agentin ist alles andere als einfach und bequem. Ständig stehen sie unter Strom, nicht nur seitens Lady Schrapnell – die eh nur einmal „die Bühne“ betritt, sondern vor allem wegen der sich überschlagenden Ereignisse. Erscheint der Roman in der ersten Hälfte noch recht idyllisch und gemütlich, sondern geraten die Dinge in der zweiten völlig außer Kontrolle: Tossie brennt durch, Professor Peddick ertrinkt um ein Haar, immer wieder brennt die Kathedrale – und Ned reist auf einer Odyssee durch die Epochen.

Das ist nur der Vorgeschmack auf das Finale. Denn der Tag X ist jener Tag, an dem die unwiderstehliche Lady Schrapnell ihren Nachbau der Kathedrale feierlich vor aller Augen eröffnen will. Der Tag X ist genau der Jahrestag jener Bombennacht. Wie es die Ironie der Geschichte will, ist es der gleiche 15. Juni, an dem auch die Schlacht von Waterloo stattfand. Die Autorin holt das Maximum aus dieser Übereinstimmung heraus, und der Techniker in der Zeitagentur führt nicht ohne Grund zahlreiche Simulationen durch, wie die Schlacht von Waterloo noch hätte verlaufen können. Waren Napoleons Hämorrhoiden schuld an der Niederlage, oder lag’s am Wetter oder weil ein General Napoleons Sauklaue nicht lesen konnte? Die Autorin kennt die Schlacht ebenso genau wie den Verlauf der Luftangriffe auf London.

Wie auch immer: Am Tag X müssen Ned und Verity des Bischofs Vogeltränke, schließlich auf einem vergessenen Dachboden entdeckt, das scheußliche Trumm mitsamt zahlreicher Reliquien mehr oder weniger unauffällig in das Innere der Kathedrale schaffen, und zwar unbedingt an den korrekten Platz. Eine schweißtreibende Aufgabe, die den Leser zum Nägelbeißer und Lehnenkraller macht!

Die Übersetzung

S. 109: „Hythe Brigde Street“: Statt “Brigde“ sollte es korrekt „Bridge“ heißen.

S. 167: „schau, dort im Schilf sieht [man] das Körbchen von Moses.“ Das Wörtchen man fehlt.

S. 183: Au weia, eine verhedderte Satzstellung! „Außerdem handelte es sich hier um nicht (!) die Katze von Königin Victoria…“. Korrekt muss es „nicht um die Katze…“

S. 225: „Schlacht von Bulge im Zweiten Weltkrieg“: Gemeint ist wohl die Ardennenschlacht. Bei der sahen die Amis gar nicht aus. Die Ardennen werden ausdrücklich erwähnt.

S. 265: „Chaiselounge“ statt „Chaiselongue“.

S. 297: „Professor Mering und sein zufälliges Zusammentreffen mit Colonel Mering“. Nun, der Professor kann nicht genauso heißen wie der Colonel, doch wie dann? Der einzige Professor, der „live“ auftritt, ist Terences Mentor Professor Peddick.

S. 316: „Der Bahnhof von Oxford war 30 Meilen und vier Tage von Muchings End entfernt.“ Wie immer sind Zeit und Raum hier sehr relativ.

S. 402: „Vielleicht möchten Sie Ihr ein Verlobungsgeschenk kaufen.“ Weil die Rede von einer Frau ist, sollte das „Ihr“ klein geschrieben werden.

S. 463: „bei einer Simulation[en]“: Die Endung kann wegfallen.

S. 479: „kam ein neuer Schaff[n]er“: Das N fehlt.

S. 495: „Die St. Pancras Station wurde im Blitzkrieg nicht getroffen.“ Es ist verwirrend, wie der Übersetzer die angloamerikanische Bezeichnung „The Blitz“ auf einen ganzen Feldzug überträgt, der in Deutschland nur auf den Polen- und den Frankreich-Feldzug angewandt wird. Was die Anglos meinen, sind ausschließlich die deutschen Luftangriffe aus England, Gegenstand von zwei weiteren Romanen der Autorin. Gemeint ist übrigens der Bahnhof St. Pancras.

S. 500: „Immer noch Tossie[s] Arm haltend…“: Das S fehlt.

S. 554: „E pur si muove.” Das soll Galileo Galileo gesagt haben, und zwar auf Italienisch. Korrekt lautet der Satz aber: „Eppur si muove.“ (Und sie bewegt sich doch.)

S. 645: „Damit wir sahen, dass sie sich während des Angriffs nicht in [der] Kirche befand?“ Das Wörtchen „in“ fehlt. Mit „sie“ ist natürlich des Bischofs Vogeltränke gemeint und mit der Kirche die Kathedrale von Coventry.

S. 645: Eine Frage der Satzzeichen: „Und wenn das Kontinuum so begierig gewesen war, Verity und mich loszuwerden. [oder ,] Warum war das Netz nicht einfach geschlossen geblieben…?“ Ein Komma würde hier viel mehr Sinn ergeben.

Die Fußnoten

Die Übersetzung ist „vom Übereifer eines ansonsten sehr akkuraten Übersetzers geprägt wird, der es sich zur Aufgabe macht, die Leser darüber ins Licht zu setzen, welche literarischen Werke vergangener Jahrhunderte Connie Willis fledderte, um ihr Werk mit dem nötigen Zeitkolorit zu versehen“, wie Michael Drewniok bemängelt: „Das Ergebnis: eine Flut von Fußnoten, deren inselhaftes Auftreten jedoch erstaunt; weite Textstrecken bleiben völlig unkommentiert; offensichtlich blieb dem Übersetzer schlicht keine Zeit, seinem Erläuterungswahn durchgängig zu frönen.“

Diese Fußnoten wurden offenbar im Bewusstsein angelegt, dass die Tiefen und Untiefen der viktorianischen Lyrik in unseren vom Internet geprägten Jahren längst nicht mehr bekannt sind. Das dürfte übrigens auch für die vielen Shakespeare-Zitate gelten, die Drewniok ebenfalls beklagt. Die Fußnoten entheben den Leser der Notwendigkeit, ständig was googeln zu müssen.

Ich zumindest war dafür sehr dankbar, denn selbst ein studierter Anglist muss nicht alle Werke eines gewissen Lord Alfred Tennyson kennen. Ständig sehen sich Studenten wie Terence bemüßigt, ihren hohen Bildungsstand vor der holden Weiblichkeit unter Beweis zu stellen – warum bloß? Die von Walter Scott erdichtete „Lady von Shalott“ – eine schöne Wasserleiche in einem Boot – spielt übrigens indirekt eine bedeutende Rolle in den Gedanken und Taten der Figuren. Die zitierten Gedichte usw. dienen also keinem Selbstzweck.

Durch die Motti, die den einzelnen Kapitel vorangestellt sind, betreibt übrigens die Autorin selbst, eine Art Zitierkult. Die Folie ist, wie zu erwarten, häufig Jerome K. Jeromes Roman „Three Men in a Boat“. Wenn es da etwa heißt: „Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen“, dann passt dies genau zur folgenden Handlung.

Das Cover

Über die Titelillustration ließe sich trefflich streiten, aber sie ist noch um Lichtjahre passender als das ursprünglich geplante Motiv mit einem Raumschiff oder Flugzeug. Dieses war in Heyne-Programmvorschauen zu sehen.

Unterm Strich

Trotz seines massiven Umfangs von rund 720 Seiten fand ich den Roman dennoch erstaunlich leicht und unterhaltsam zu lesen. Weil es sich im Grunde um einen Detektivroman der 1930er Jahre handelt, ist die Suche nach der verschwundenen Vogeltränke des Bischofs und ihrem Dieb mindestens ebenso spannend wie die Suche nach jenem unsichtbaren Agenten der Gegenseite, der dafür sorgt, dass die Chrononauten in allen möglichen Zeitinseln auftauchen.

Diese Frage steht in direktem Zusammenhang mit der nicht ganz so akademischen Frage Professor Peddicks, wer eigentlich den Verlauf der (überlieferten) Geschichte bestimmt. Die bis heute aktuelle Frage betrifft die Frage nach der geschichtlichen Verantwortung: Braucht es Heldinnen und Helden, die den Verlauf der Geschichte ändern, oder reichen auch soziale Bedingungen und Massenphänomen wie in Asimovs Psychohistorik (vgl. „Foundation“)? Im zweiten Fall könnten wir alle die Hände in den Schoß legen und abwartend Tee trinken wie die Engländer.

Wer Zeitreisen ebenso mag wie Detektivromane der 1930er Jahre, die prüden, gespenstergläubigen und schwärmerischen Viktorianer gerne mal durch den Kakao gezogen sieht, ist mit diesem turbulenten Roman an genau der richtigen Adressen. Auch Romantiker kommen auf ihre Kosten: Werden Ned und Verity einander ganz am Schluss in die Arme fallen? Wer ist der geheimnisvolle Mr. C, den Tossie heiraten wird? Welche Rolle spielt jene geheimnisvolle Diebin im Leben von Professor Dunworthy?

In einer echten Screwball-Komödie bleibt alles spannend und rätselhaft bis zum Schluss. Fans von Cary Grant und andere Screwball-Größen sind klar im Vorteil. Aber man muss sie nicht kennen – die Autorin gibt entsprechende Hinweise. Das gleiche gilt für die genannten Detektivromane. Doch welcher Gegenspieler unseren wackeren Zeit-Agenten Streiche spielt, darf hier nicht verraten werden.

Für die vielen Sach- und Stilfehler gibt es einen halben Punkt Abzug.

Taschenbuch: 719 Seiten.
O-Titel: To Say Nothing of the Dog or How We Found the Bishop’s Bird Stump At last, 1997
Aus dem Englischen von Christian Lautenschlag.
ISBN-13: 9783453187832

https://www.heyne.de

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