Alle Beiträge von Corinna Hein

Haji, Nafisa – Worte auf meiner Stirn

_Über Dichtung und Wahrheit und eine verflixte Großfamilie_

Die Journalistin Saira findet sich nach Jahren der unsteten berufsbedingten Wanderung plötzlich mit Sakina, der jungen Tochter ihrer Schwester, in ihrem Elternhaus in Los Angeles wieder. Rückblickend überlegt sie, wie sich ihr Leben bis zu diesem Zeitpunkt gestaltet hat, und versucht zu ergründen, welche Episoden aus der Vergangenheit ihrer Familie bis in die Gegenwart hineinwirken und ihr eigenes Leben maßgeblich beeinflusst haben.

Der wichtigste Ansatzpunkt in diesem autobiografischen Roman um einen großen pakistanischen Familienclan, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts über die Erdteile verstreut hat, sind die Geschichten, die Sairas Mutter ihren Töchtern seit frühester Kindheit erzählt hat. In ihnen spielen Pflicht, Verantwortung und vor allem die Heirat und Familiengründung die wichtigste Rolle. Sie sollen Moral lehren und Orientierung für den eigenen Lebensweg bieten. Was bei der älteren Schwester Ameena gut funktioniert, wirkt sich auf Saira insofern fatal aus, dass sie die Geschichten früh zu hinterfragen beginnt und mehr wissen will als für die Aussageabsicht der Mutter gut ist.

Auf einer Reise zu Familienfeierlichkeiten nach Indien erfährt Saira als Teenager, dass der Mann, welcher durch seine verhängnisvolle Leidenschaft für den Tanz angeblich bald gestorben ist, nachdem er sich und seine Familie ins Unglück gestürzt hatte, in Wahrheit ihr Großvater war, der sich nach einer Heirat mit einer Engländerin tatsächlich lange Zeit bester Gesundheit erfreute und Sairas Verwandte hinterlassen hat, die sie nie kennen lernen durfte, weil sich ihre Mutter von ihrem eigenen Vater losgesagt hat. Damit beginnt Saira zu verstehen, dass ihre große Familie voller Geheimnisse ist, und im Laufe ihres Lebens entdeckt sie immer mehr Wahrheiten hinter den Geschichten ihrer Mutter. Sie findet heraus, dass diese Geschichten sich aus nicht erfüllten Erwartungen und Enttäuschungen entwickelt haben. Unbeliebte Entscheidungen abseits der indischen und muslimischen Tradition werden dabei aus dem Familiengedächtnis verbannt; notfalls die Personen gleich mit. So hat ihr Großvater sich für die Freiheit und gegen die schöne, fügsame, traditionelle Frau entschieden. Ihre Tante Big Nanima hat sich halb gewollt, halb aus Mangel an Gelegenheit gegen die Heirat und für eine berufliche Karriere entschieden. Schließlich entscheidet sich auch Sairas homosexueller Cousin dafür, seine Neigung der Familie zu enthüllen und katapultiert sich damit aus ihr hinaus.

Das Finden der eigenen Stimme in einem Leben, in dem die Vorstellungen der modernen westlichen Welt und der Traditionen des alten Pakistan sich beständig aneinander reiben, wird durch das Symbol der „Speaker’s Corner“ in London immer wieder illustriert. An diesem Ort der freien Meinungsäußerung lernt der Großvater seine spätere englische Frau kennen, und dort entscheidet sich einmal mehr auch Sairas Schicksal, als sie die Möglichkeit, Journalistin zu werden, erkennt.

Natürlich muss Saira auch lernen, dass die gewonnene Freiheit ihre Schattenseiten hat. Big Nanima zeigt Saira auf, auf welche Möglichkeiten sie für ihren Traum verzichten musste. Aber sie macht ihr auch klar, dass die Traditionen ein Vorteil im Leben sein können und nicht grundsätzlich zurückgewiesen werden müssen. So lebt Big Nanima zwar als Dozentin ein selbständiges Leben, aber sie wird trotzdem nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben von ihrer Familie, die für jedes Mitglied lebenslang Verantwortung trägt, aufgefangen, weil sie ihre Freiheit nur in einem für ihre Familie vertretbaren moralischen Rahmen ausgelebt hat. Als ihre Mutter Saira mit Hilfe des riesigen Familiennetzwerkes an den Ehemann bringen will, rät Big Nanima Saira zu Verständnis für die Tradition und dazu, ihren Lebensweg so zu gehen, dass sie das Gute aus beiden Welten vereint: „Du musst dich entscheiden, was für ein Leben du willst. Aber übereile nichts und wirf nicht alles Alte dem Neuen zuliebe über Bord! Mach Platz für beides, Saira! Das alte Familiennetzwerk, das steht uns bei, wen wir geboren werden – und wenn wir sterben. Es ist nicht immer schlecht. Hier sterben Leute nicht allein und unbemerkt in ihren Wohnungen […] Es gibt Zeiten, in denen man sein Leben nicht selbst in der Hand hat, Saira. Und in diesen Zeiten brauchen wir alle … wie hast Du das genannt? Ein Drehbuch? … Ein Drehbuch, nach dem wir uns richten können.“

Schließlich zeigt die Tradition auch Saira nach Jahren der beruflichen Selbstverwirklichung und mit dem festen Vorsatz, keine Familie zu gründen, eine Möglichkeit, nach dem Tod der Schwester, die den traditionellen Weg der Heirat und Familiengründung gegangen ist, einen Weg zur Weiterentwicklung auf. Das überraschende Ende des Romans, das einmal mehr ein gut gehütetes Familiengeheimnis enthüllt, illustriert, dass es immer wieder Wendepunkte im Leben gibt, weil das Leben immer auch von unvorhersehbaren äußeren Umständen geprägt wird. Sich der Verantwortung zu stellen, bietet Saira die Möglichkeit, sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen und einen Weg zu gehen, den sie für sich bereits verworfen hatte.

Nafisa Haji schreibt mit der bezaubernden Leichtigkeit einer Geschichtenerzählerin über das schwierige Thema der Identitätsfindung von Immigranten in der postmodernen Welt, in der die über Jahrzehnte bewährten Strukturen und Lebensmuster kaum noch Orientierung bieten. Sie stellt die nüchterne westliche Welt, in der das Individuum vorrangig auf sich allein gestellt ist, der lauten, bunten indischen Welt der Großfamilie mit ihren Traditionen, Erwartungen und Verpflichtungen so gegenüber, dass dem Leser nicht nur Kritisches, sondern auch viel Liebevolles über die indische Kultur erzählt wird. Was für die erste Generation der Auswanderer scheinbar noch selbstverständlich ist, kann von den Kindern hinterfragt oder gar abgelehnt werden. Die noch heimlich erschlichene Möglichkeit Sairas zum Theaterspielen in der Schule wird für Sakina bereits selbstverständlicher Teil des Schullebens sein. Sie wird nicht frei von Ängsten und Zweifeln leben. Dennoch wächst auch sie mit den Worten auf, die die Mütter der Familie ihren Töchtern seit Generationen zur Beruhigung in Angstsituationen auf die Stirn schreiben, die bedeuten, „… dass es viele Dinge gibt, die wir nicht verstehen können. Die Vergangenheit. Die schlimmen Dinge, die geschehen sind. […] Und das macht uns Angst. Vor dem, was in Zukunft geschehen kann.“ Aber sie wächst auch mit der Gewissheit auf, dass die Angst ein Bestandteil des Lebens ist und sie trotzdem ihren eigenen Weg zum Glück und zur Zufriedenheit finden wird.

|Originaltitel: The Writing on my Forehead
Übersetzung: Christine Frick-Gerke
368 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3426198421|
http://www.droemer-knaur.de

Stromiedel, Markus – Kuppel, Die

_Die rote oder die blaue Pille? – Zu Besuch im schönen neuen Europa_

„Thriller“ steht auf dem Cover von Markus Stromiedels neuen Roman „Die Kuppel“. Ich mag eigentlich keine Thriller, doch der Umschlagtext, der von Europa als einem „autoritären Überwachungsstaat“ spricht, weckt leicht die Neugier von jemandem, der Orwells „Neunzehnhundertvierundachzig“ und Huxleys [„Schöne neue Welt“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2462 verschlungen hat. Zudem hat der Drehbuchautor Markus Stromiedel sich durch seine Kriminalromane „Zwillingsspiel“ und „Feuertaufe“ bereits einen Namen gemacht. Da ist es nur folgerichtig, auch zu seinem neuesten Werk zu greifen.

Der junge Soldat Vincent Höfler schiebt seinen Dienst in der europäischen Armee in Brüssel auf Sparflamme. Überhaupt hat er sich lediglich verpflichtet, um seinen Vater zu ärgern und vielleicht an der Uni der Streitkräfte studieren zu können. Als ihm die begleitende Untersuchung eines Todesfalls auf einem Militärgelände im Osten Deutschlands übertragen wird, macht man ihm deutlich, dass man gerade ihn dort hinschickt, weil er der entbehrlichste Mann weit und breit ist. Für den Krieg am Horn von Afrika, in dem Europa sich gerade befindet, eignet er sich schon gar nicht, wie er gleich zu Anfang des Romans in einer Trainingssimulation eines Kriseneinsatzes eindrucksvoll beweist.

Also begibt sich der Leser mit Vincent auf eine Fahrt in den kleinen Ort Laage und gleichzeitig hinein in eine beängstigend real anmutende Zukunft: Autofahren ist durch hohe Preise für Strom, Diesel und Wasserstoff zum Luxus geworden; die Autobahnen und Straßen sind vom Verkehr befreit. Die europäischen Städte sind gekennzeichnet durch Vorstadtslums aus Baracken und Zelten, wie man sie aktuell in der dritten Welt findet. Kleinere Ortschaften sind bereits unbewohnt und verfallen wie die heutigen Geisterstädte in Amerikas Westen. Alle Menschen sind ganz selbstverständlich mit einem Tagger ausgerüstet, eine Art am Handgelenk zu tragendes Minihandy, das gleichzeitig Ausweis, Zahlungsmittel und Ortungssystem ist – sehr bequem, sehr normal und letztlich ein freiwillig angelegtes Überwachungsinstrument, das selbstverständlich in seinen verschiedenen Ausführungen auch Fashion und hippes Statussymbol sein kann.

In Laage angekommen, wird Vincent schnell klar, dass an dem Tod des alten Mannes einiges faul ist. So lag die Leiche auf der falschen Seite des Zauns, hätte aufgrund einer Thermobekleidung nicht erfrieren können und wurde, wie ihm die Ärztin Anna in der Leichenhalle zeigt, vermutlich durch eine Injektion getötet. Zu dumm, dass die Leiche noch dazu ganz plötzlich verschwindet und man von Vincent trotzdem erwartet, dass er die Ermittlungen im Sande verlaufen lässt. Er weiß, dass er seine Karriere bei der Armee riskiert, aber er beschließt, sich dennoch gründlicher umzusehen. Seine Spurensuche führt ihn zum First Resort, einem Prototyp der zukünftigen europäischen Altenheime. Wie die täuschend menschlichen Ausbildungsroboter, die Vincents Freund Eddy für die Ausbildung von Medizinern konstruiert, begrüßen auch im First Resort auf den ersten Blick nicht als humanoide Roboter erkennbare Maschinen den Ankömmling. Vincent gelingt es, einen Besuchstermin im Inneren der Glaskuppel, die das gigantische First Resort überspannt, zu erhalten. Was ihn dort erwartet, übertrifft alles Vorstellbare: Die dort lebenden ersten 500 Bewohner von zukünftig 5000 sind in eigenen Wohnungen in einer idyllischem Kleinstadt mit Bachlauf, Geschäften und kleinen Kaffees untergebracht – ein Paradies, für das es sich offensichtlich lohnt, sich auf eine Warteliste setzen zu lassen. Doch warum werden die mitgebrachten persönlichen Gegenstände der Bewohner in großen Lagerhallen außerhalb der Kuppel aufbewahrt? Warum begegnet Vincent in der Kuppel dem Toten vom Zaun, der sich offensichtlich bester Gesundheit erfreut? Und warum findet Vincent schließlich auch seinen Vater im First Resort wieder?

Wer sich die Überraschungsmomente des Kriminalromans nicht entgehen lassen möchte, sollte an dieser Stelle nicht weiterlesen _(Spoiler!)_. Doch natürlich kann die schöne neue Welt, die sich die Menschen unter der Kuppel konstruiert haben, nicht das Paradies sein. Dazu ist die Welt darum herum mit totaler Überwachung und der Verfolgung der Opposition zu gegensätzlich charakterisiert worden.

Tatsächlich wird dem Leser aber bei der zweiten Lektüre der Schlüsselstellen klar, dass der Autor ihn ordentlich an der Nase herumführt und man es sogar bemerken könnte. Bereits in der eingangs geschilderten Szene, in der Vincent sich in einer Computersimulation im Krieg befindet, wird deutlich, dass man über sogenannte Datenbänder und Computer von der Realität durch nichts zu unterscheidende Umgebungen und Vorgänge ins Gehirn projiziert bekommen kann. Dennoch wird der Leser bei Vincents Besuch des First Resorts durch Vincents Angst vor Verfolgern und des vorgeblich medizinischen Hintergrunds geschickt von der Ähnlichkeit der Prozedur abgelenkt und bemerkt wie der Protagonist bis fast zum Ende des Romans nicht, dass die Kuppel ein großes leeres Gebäude ist, während die vermeintlichen Gäste des Resorts matrixmäßig an einen Rechner angeschlossen und von Robotern überwacht in einer grünen Flüssigkeit schweben, während sie ihr restliches Leben in einer idyllischen Kleinstadt zu genießen glauben.

Auf diese Art und Weise löst man in Stromiedels Zukunftsvision das Problem der Überalterung der Bevölkerung, und mit Vincent kann man sich fragen: „Wo war ich hier gelandet? Im Horrorkabinet eines Wahnsinnigen oder im Refugium eines Visionärs?“ Die Frage wird auf den letzten Seiten durchaus diskutiert, denn Vincent versucht, den Leiter des Resorts dazu zu bewegen, seinen Vater freizugeben, der das First Resort mit einem Altenheim vergleicht: „Waren Sie schon einmal in einem staatlichen Pflegeheim? Haben Sie gesehen, wie die Bewohner dort vor sich hin siechen? Zeigen Sie mir den Menschen, der so alt werden will! Zeigen Sie mir einen Menschen, dem es Spaß macht, hilflos dabei zuzusehen, wie sein Körper verfällt! […] Schmerzen, Leiden, Not, das gibt es bei uns nicht. Wir ermöglichen alten Menschen ein würdiges Leben, so wie wir es in Ihrer sogenannten Realität niemals tun könnten.“ Der Resortleiter argumentiert mit der Überalterung der europäischen Bevölkerung, mit den finanziellen Ressourcen, die dafür aufgebracht werden müssen, die alten Menschen zu versorgen und zu pflegen. Schließlich beugt Vincent sich dem Wunsch seines todkranken Vaters, ihn in der künstlichen Umgebung zu belassen, statt ihn zu einem Pflegefall in der Realität zu machen. Trotzdem wird dem Leiter des Resorts, der bisher von der Brillanz seiner Mission überzeugt war, deutlich gemacht, dass seine fragwürdige Alternative zum Altenheim vom Militär, mit dem er wegen der technischen Möglichkeiten bei der Entwicklung des First Resorts zusammengearbeitet hat, auch missbraucht werden kann und wird – als Gefängnis für Regierungsgegner wie Vincent. Dieser muss sich dafür entscheiden, ob er die Simulation des Lebens wählen oder dagegen antreten will. So erscheint der Roman als Zeichen, dass sich mindestens der Autor seinen hoffnungsvollen Blick auf die Menschheit bewahrt hat und seine Hauptfigur bis zum letzten Buchstaben gegen den schönen neuen Schein kämpfen lässt.

Stromiedels Anleihen an [Orwell,]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1373 Huxley und den Film „Matrix“ sind unübersehbar. Sie beginnen bei der Darstellung eines umfangreichen totalitären und auf Überwachung ausgelegten Regimes, das seine Gegner mit allen Mitteln bekämpft, gehen über eine als Nebenhandlung eingebaute Romanze mit der Ärztin Anna bis zur Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten unserer Zeit und dem, was daraus erwachsen kann. Stromiedel unterfüttert seine Welt mit der aktuellen Debatte über die Überalterung der Bevölkerung. Es wird nicht mehr mit Gewalt oder Konditionierung gearbeitet, sondern wir gelangen mit Hilfe der Technik dorthin, von wo Neo in der noch ferneren Zukunft der „Matrix“ wieder ausbrechen wird: in ein perfektes Leben, an dem nichts Wahres ist.

Der Autor versteht sein Handwerk, denn der Roman ist von der ersten bis zur letzten Seite packend. Da verzeiht man ihm die für die Haupthandlung nicht notwendige, aber vermutlich aus seiner Profession als Drehbuchschreiber heraus eingebaute Verfolgungsjagd und auch den Ausflug des Protagonisten nach Hamburg, welcher der Geschichte das Tempo nimmt und lediglich dazu dient, Elemente des Thrillers, des Kriminalromans und etwas mehr Sex in diese wunderbar beklemmende Dystopie einzubauen. Am Ende bleibt für jeden Leser wieder die Frage, die wir uns 1999 nach „Matrix“ schon einmal gestellt haben: „Die rote oder die blaue Pille?“; „Altenheim“ oder „First Resort“? und stellen wir uns dieses Mal vor, wir sind bei der Beantwortung der Frage keine jugendlich agilen Dissidenten, sondern alte Menschen an der Schwelle zu Krankheit, Schmerzen und Tod. Das gibt der Frage die richtige Würze.

|400 Seiten, Broschur
ISBN-13: 978-3426198278|
http://www.droemer-knaur.de
http://www.markus-stromiedel.de

_Mehr von Markus Stromiedel auf |Buchwurm.info|:_
[„Feuertaufe“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6215

Kastrop, Jessica – Liebe in Zeiten der Champions League

_“Man darf jetzt nicht alles so schlecht reden, wie es war.“_

Spätestens wenn in Büros, auf Laternenmasten und von Wohnzimmerfenstern deutsche Flaggen wehen, fällt es jedem – auch dem letzten nicht an Fußball interessierten Menschen – auf, dass sich entweder eine Fußball-EM oder gar eine -WM nähert. Glaubt man allen Versicherungen und Statistiken, bricht die damit zusammenhängende Hysterie tatsächlich nur alle zwei Jahre aus. Gefühlt tritt ein solches sportliches Großereignis aber wesentlich häufiger auf, und man kann ihm durch nichts – nicht einmal durch geschickte Urlaubsplanung – entgehen. Für diejenigen, denen erst jetzt die Schuppen von den Augen fallen, wäre es für dieses Vorhaben vermutlich ohnehin zu spät. Auch vielen anderen weniger Begeisterten wird eine Flucht nicht vergönnt sein, wenn schon in diesem Sommer wieder der EM-Ball rollt. Sehen wir also der Tatsache gefasst ins Auge und hören mit dem Jammern auf! Was bleibt, ist, sich in nahezu unmenschlicher Toleranz zu üben und sich auf die Zeit nach der EM zu freuen oder zu versuchen, mit Jessica Kastrop die Flucht nach vorn anzutreten.

Die attraktive Sportjournalistin moderiert die Bundesliga und die Europa League auf |Sky| und ist unter einem fußballbegeisterten Vater zu einer Liebhaberin des runden Leders herangewachsen. So etwas kann vorkommen und passiert durchaus häufiger, als man annimmt. Auch eine meiner Arbeitskolleginnen wuchs auf dem Rasen auf, während ihr Vater seine Schiedsrichterfunktion bekleidete. Vermutlich konnte sie eher „Tor“ als „Mama“ rufen. Dennoch hält sie nicht viel von Jessica Kastrop und warnte mich bereits vor dem Lesen des Beziehungsratgebers „Liebe in Zeiten der Champions League“, dass der Ball, welcher die blonde Reporterin dereinst während einer Moderation unsanft am Kopf getroffen hatte, damals schon keinen größeren Schaden mehr anzurichten vermochte. Nun, ja, beim Fußball geht es nicht immer sanft zu – auch nicht verbal und schon gar nicht außerhalb des Rasens. Vielleicht ist Frau Kastrop also gar keine Quotenfrau sondern tatsächlich kompetent, steht jedoch auf den falschen Verein und kann deswegen bei meiner Kollegin nicht punkten. Egal! Wie oben beschrieben, droht die EM, und, da ich in einem Fußballland wie Italien mit einem fußballbegeisterten Lebensgefährten und seiner fußballbegeisterten Familie diesem Großereignis ebenso wenig wie den wöchentlichen Spielen des mittelmäßig erfolgreichen AS Bari entgehen können werde, schlug ich alle Warnung in den Wind und wollte die „besten Beziehungstipps für fußballgeplagte Frauen“ (so der Untertitel) studieren, auf dass der kommende EM-Sommer nicht gleichzeitig der Sommer unseres Beziehungsendes werde.

Der Ratgeber teilt sich in fünf große Abschnitte. Der erste Abschnitt, „Anpfiff“, behandelt, wie man in einem Stadion ganz leicht einen Fußballfan kennenlernt und Verständnis für sein Hobby entwickelt. Kastrop beschreibt den Fußball für den Mann als Ausgleich zur Arbeit, Ventil für Emotionen sowie zum Aggressionsabbau. Er diene dazu, Teamgeist zu entwickeln und siegen oder verlieren zu lernen. Erwachsenen Frauen gelingt es scheinbar nur in einem gefühlsmäßigen Ausnahmezustand und „geschützt durch die rosarote Brille“, Gefallen am Fußball zu finden. In dieser Zeit müsse die Frau das Verständnis für den Fußballmann entwickeln, um späterhin zu lernen, wie seine Beziehung zu einer Frau mit der frühkindlich geprägten Liebe zum Verein auf einen Nenner gebracht werden könne. Die Autorin rührt die Werbetrommel für Fußball als Gemeinschaft fördernden, identitätsstiftenden und grenzüberschreitenden Sport, der zudem auch familienbezogen sei, weil er Väter und Kinder zusammenschweiße.

Teil zwei geht davon aus, dass man sich den Fußballfan nun erfolgreich geangelt hat und versuchen muss, das gemeinsame Zusammenleben um das Hobby herum zu organisieren. Kompromisse und Kooperation stellt sie als Grundpfeiler der funktionierenden Partnerschaft heraus und wirbt auch hier um Verständnis: „Männer bleiben immer kleine Jungs und man soll sie an der langen Leine lassen.“ Wenn man also davon genervt sei, dass der Partner seine Wochenenden nur mit Fußball verbringe, helfe es, sich an die guten Seiten des Partners zu erinnern, sich selbst und den Partner liebevoll anzunehmen, herauszufinden, ob wirklich Probleme vorliegen, fair zu kommunizieren und vor allem die Schuld nicht auf den Fußball zu schieben. Was die Journalistin meint, beschreibt sie in allen Kapiteln anhand von Anekdoten aus der Bundesliga. Dennoch stellt man sich immer häufiger die Frage, ob die „Fußballplage“ nicht vielmehr mit jedem exzessiv ausgeübten und deswegen beziehungstötenden Hobby gleichzusetzen sein könnte. Außerdem verfestigt sich immer mehr das Gefühl von Absurdität, welches die geneigte Leserin bereits im ersten Teil beschlichen hat: Warum sollte man sich einen Fußballfan zum Freund wünschen, wenn man mit dessen Hobby nicht leben kann?

Die Teile drei und vier widmen sich im Grunde vom Sport gänzlich unabhängigen Beziehungsthemen: wie Frau sie selbst bleibt, Freundschaften pflegt, mit Seitensprüngen oder Burnout umgeht, wann Paartherapie sinnvoll ist, was Torschlusspanik bedeuten kann und dass man Lebensziele realistisch stecken sollte. Im Leben ginge es darum, Selbstzufriedenheit zu erreichen und für den Partner begehrenswert zu bleiben.

Teil fünf befasst sich mit dem Ende von Beziehungen. Auch hier arbeitet Kastrop mit Fußballvergleichen; „… haben Sie schon einmal eine Fußballmannschaft gesehen, die sich direkt nach der Niederlage wieder in ein Spiel gegen die Siegermannschaft stürzt? … und zwischen Hin- und Rückrunde der Bundesliga gibt es nicht zufällig sogar eine Winterpause! Da sollen die Spieler auftanken, Mannschaften werden ergänzt, alten Wunden geleckt, Trainer manchmal entlassen und neu berufen.“ Fußballer sind also Menschen mit einer relativ normalen Psyche und haben bestimmte Strategien entwickelt, mit Niederlagen fertig zu werden. Wenn Fußballer das können, kann es die verlassene Frau selbstverständlich auch. Am Beispiel von Kate Middleton wird betrachtet, wie man sich seinen Prinzen wieder zurück erobert, und es werden entsprechende Verhaltensregeln aufgestellt. Für den Fall, dass es damit trotzdem nicht klappt, hat Jessica Kastrop ebenfalls einen Ratschlag und ein passendes Zitat parat: „Niederlagen einzustecken, zählt ganz sicher nicht zu den leichtesten Aufgaben im Leben. Aber trösten Sie sich mit einem Fußballzitat: ‚Man darf jetzt nicht alles so schlecht reden, wie es war‘ (Fredi Bobic).“ Für die Zeit danach gibt sie ebenfalls zahllose Ratschläge und empfiehlt z. B. Internetdating. Darf man ketzerisch fragen, warum sie nicht vorschlägt, sich einen anderen von den Tausenden Männern im Fußballstadion zu angeln?

Der letzte Teil, „Das Finale“, ist jedoch wieder auf einen Fußballfan bezogen. Hier finden sich konkret wertvolle Tipps, die eine Hochzeit mit einem Fan nicht zum Desaster werden lassen – beispielsweise den Hochzeitstermin in die Sommerpause eines ungeraden Jahres zu legen, damit einem die Eingangs besprochenen Großereignisse nicht in die Quere kommen. Im Anhang sind schließlich die Sprüche versammelt, mit denen man bei Fußballfans punkten können soll. Problem ist nur, dass man diese genauso schnell wieder vergisst, wie man sie gelesen hat, wenn man sich dafür einfach nicht interessiert. Schon beim Lesen des ersten Teils des Buches stellt man sich als Leserin die Frage, warum man sich in einem Stadion einen Freund suchen sollte, wenn man sich nicht für Fußball interessiert und die ganze Atmosphäre dort als befremdlich empfindet.

Kastrop schreibt für ein – vorsichtig formuliert – „blondes“ Klientel, das damit rechnet, dass „die klassische Viererkette“ im Sport etwas mit Schmuck zu tun habe. Außerdem wird den Leserinnen von vornherein unterstellt, dass sie sich im Grunde nicht für Fußball, sondern für Schuhe interessieren, denn immer wieder weist sie auf den „Sex and the City“ liebenden Shoemaniac hin (S. 28, 41, 48). Allerdings sind manche Vergleiche mit Klatschpressethemen zur besseren Illustration der Vorgänge in einem Fußballfanherzen durchaus witzig und erleichtern das Verständnis: „Nur mit ‚eigenen Pokalgesetzen‘ lässt es sich erklären, warum zum Beispiel der FC Bayern im Jahr 1994 am unterklassigen TSV Vestenbergsgreuth scheiterte. Bis dato eine Riesenschmach für alle Bayern-Fans. So in etwa würde sich Brad Pitt fühlen, wenn ihn Angelina Jolie wegen Guido Westerwelle verlassen würde. So in etwa …“ Um eine Fußballanfängerin zu beeindrucken, lässt sie also genügend Sachkenntnis und Erfahrung blitzen. Dennoch darf bezweifelt werden, dass ihre Anleitung dafür, sich als Interessierte zu maskieren, einem Laien viel nutzen wird, wenn das nötige Herzblut fehlt. Schlimmstenfalls manövriert man sich mit dem gefährlichen Halbwissen aus vorgeschlagenen Kommentaren und der Kenntnis vereinzelter Anekdötchen in eine ausweglose Situation der Bloßstellung, wenn der Mann interessiert auf einen solchen Kommentar eingeht. Ich jedenfalls werde mir trotz der Lektüre des Ratgebers meine eigene Strategie im Umgang mit Fußballfans bis zum Beginn der EM zurechtlegen müssen. Vermutlich werde ich mich wie immer völlig desinteressiert zeigen und milde lächeln, wenn sich die Fans vor dem TV versammeln. Die Spielzeiten der Champions League haben sich beispielsweise als wertvolle Leseminuten erwiesen. Das lässt sich mit Sicherheit auf die Europameistermeisterschaftsspiele übertragen. Bei mir stapeln sich bereits die dicksten Wälzer.

„Liebe in Zeiten der Champions League“ liest sich durch den lockeren Ton auch für einen Nicht-Shoemaniac, der nie „Sex and the City“ gesehen hat, schnell und flüssig. Das Buch ist sogar manchmal amüsant; z. B. zeugt der Buchtitel, der, wenn man ihn als Anspielung auf „Liebe in Zeiten der Cholera“ liest, den Fußball mit einem gefährlichen Brechdurchfall gleichsetzt, von einer gewissen Komik, die hoffentlich beabsichtigt war. Leider habe ich auf Seite 58 des Ratgebers beschlossen, mich der Kopfballtheorie meiner fußballaffinen Arbeitskollegin anzuschließen. An dieser Stelle konnte sich die Autorin nicht zurückhalten, von ihrer Beziehung mit einem Süditaliener zu berichten. Sie tritt dafür ein, die Beziehungen mit einem Italiener zu überdenken und lieber auf einen weniger charmanten, aber dafür weniger familiär gebundenen deutschen Mann zurückzugreifen. Als Einzelkind war es ihr offensichtlich nicht vergönnt, deutsche Großfamilien kennenzulernen. Dadurch wäre sie vielleicht mit entsprechendem Verständnis für größere Familien ausgestattet worden – so wie ihr Aufwachsen unter Fußballfans sie für das Leben mit Fußballfans abgehärtet hat. Kurz und gut: „Liebe in Zeiten der Champions League“ kann man lesen, muss man aber nicht.

|240 Seiten, Paperback
ISBN-13: 978-3426785454|
http://www.droemer-knaur.de
http://jessica-kastrop.de

Mtawa, Nicole – Sonnenkinder. Mein Leben für die Armen in Indien

_Vom Kampf um eine bessere Welt_

Die junge Nicole macht Abitur und beginnt, nachdem ihr Wunsch nach einer Hebammenausbildung nicht in Erfüllung geht, mit einem Studium. Alles scheint darauf zu hinzudeuten, dass sie den unspektakulären Lebensweg einer Frau aus gutbürgerlichem Haus gehen wird. Ein „Work and Travel“-Aufenthalt führt sie jedoch nach Australien, wo ihr Fernweh geweckt wird. Sie erkennt, „dass es nicht viel braucht, um die Welt zu bereisen und dabei jeden Tag neue wertvolle Erfahrungen zu machen.“ Nach ihrer Rückkehr sucht sie schnell die nächste Möglichkeit, wieder aus dem behüteten Leben in Deutschland auszubrechen. Sie fliegt zu einem Praxissemester nach Tansania und stellt fest, wie freundlich man dort aufgenommen wird, wie schnell man mit den Menschen in Kontakt kommt und mit wie wenig Mitteln man ein ganzes Leben in einem armen Land wie diesem verändern kann. In ihr wächst der Wunsch, ihr Leben mit den Menschen eines solchen Landes verbringen zu können. Noch während ihres Aufenthaltes in Tansania wird ihr Interesse an Indien geweckt, weil ihr dort das Leben der Armen als noch härter beschrieben wird.

Wieder gelingt es ihr, ihr Studium durch ein Praktikum mit ihren sozialen Interessen zu verbinden. Sie fliegt nach Indien und landet zufällig in einem Aschram, in dem auch behinderte Kinder betreut werden. Dort lernt sie den bis auf die Knochen abgemagerten Ganesh kennen, dessen bedauernswerter Zustand sie dazu bringt, all ihre verfügbare Zeit, Kraft und Mittel dafür einzusetzen, dass dieser Junge seinem bereits prognostizierten Tod entrinnt. Als es ihm wieder besser geht und das Datum ihrer Abreise immer näher rückt, gelingt es ihr schließlich sogar, für Ganesh und einen weiteren Jungen, der ihr sehr ans Herz gewachsen ist, Plätze in sozialen Projekten zu finden, die sich speziell um behinderte Kinder kümmern, so dass sie nach fünf Monaten mit einem guten Gefühl abreisen kann. In Indien wird ihr jedoch klar, dass sie ihr Leben solchen Kindern widmen möchte, um die sich sonst niemand auf der Welt kümmert.

Die Zeit ihrer Diplomarbeit führt sie zurück nach Tansania. Wie sie dort ihren späteren Ehemann kennenlernt und sich den Nöten der Straßenkinder annimmt, schildert sie in ihrem ersten Buch „Sternendiebe“ (2009), das sie beim Verlag |Droemer Knaur| unterbringen kann. Ihre Dankbarkeit für diese Entscheidung und die Möglichkeiten, die der Verlag ihr damit eröffnet, kommt in „Sonnenkinder“ ganz deutlich zu Ausdruck. Sie erhält so viel Aufmerksamkeit durch die Medien und Zuspruch durch Leser, dass sie sich schließlich ermutigt fühlt, den gemeinnützigen Verein „Human Dreams e. V.“ zu gründen, mit dem sie ihr lang erträumtes Projekt, ein Heim für voll pflegebedürftige Kinder in Indien zu errichten, auf einen finanziellen Grundstock stellen und sofort daran gehen kann, es in die Tat umsetzen.

In „Sonnenkinder“ erzählt sie außer der langen Vorgeschichte, die ihre Motivation deutlich werden lässt und dem Leser den größten Respekt vor dieser junge Frau einflößt, nun den ebenfalls nicht ganz einfachen Weg, ein Haus zu finden und nach den Bedürfnissen einer Pflegeeinrichtung auszustatten, die Erlaubnis zum Betrieb zu erhalten sowie geeignetes Personal zu finden, das ihren Idealismus teilt und sich wie sie selbst über alle Maßen engagiert. Kinder, die ihrer Hilfe bedürfen, finden sich dagegen vergleichsweise schnell. Einige von ihnen kann man auf den Farbfotos in der Mitte des Buches sehen.

„Sonnenkinder“ ist das ohne Dramatik flüssig erzählte und deswegen nur umso ergreifendere Zeugnis einer Frau, die ihr Leben in den Dienst für eine gute Sache stellt. Da hätte es des Untertitels nicht bedurft, denn sie gibt zwar nicht ihr ganzes Leben für die Armen in Indien, aber sie setzt einen beträchtlichen Teil ihrer Kraft und ihres Engagements dafür ein.

Während sich der Normalbürger mit Anfang dreißig bereits ein bequemes Leben in vier Wänden mit allen nötigen Versicherungen einrichtet, wandelt sie seit Jahren zwischen den Kontinenten und steckt alles verdiente Geld in ihre Projekte und eine bescheidene Zukunft in Tansania. Immer wieder findet sie Mitstreiter und motiviert ihre Umgebung, sich ihrem Feldzug für diejenigen anzuschließen, denen niemand sonst hilft. Sie macht dem Leser deutlich, wie gut es uns in Westeuropa geht und mit wie wenig finanziellen Mitteln in anderen Ländern bereits großartige Projekte auf die Beine gestellt werden können. Ohne direkt für etwas zu werben, stärkt sie damit das Bewusstsein dafür, dass tatsächlich eine kleine Spende, die einem Normalverdiener in Deutschland kein Loch ins Portemonnaie reißt, für ein Projekt in einem Entwicklungsland immer sinnvoll ist.

Man kann ihr nur wünschen, dass sie mit ihrer Offenheit und der nicht ganz ungefährlichen Bereitschaft, sich vorurteilsfrei auf das Schicksal anderer einzulassen, weiterhin so glücklich im Leben fährt und auch ihre Pläne hinsichtlich der Kinder bettelnder Frauen in Tansania in Zukunft verwirklichen kann. Wir brauchen Menschen, die uns ein bisschen Hoffnung dahingehend schenken, dass diese Welt nicht so egoistisch und kalt ist, wie sie im Alltag häufig wirkt. Daher ist dieser Erfahrungsbericht absolut lesenswert.

|240 Seiten, broschiert
ISBN-13: 978-3426784518|
http://www.droemer-knaur.de

Autoren-Team Oculus – Gegen Märchen ist kein Kraut gewachsenen

_Ambitioniertes Projekt auf Kosten der Autoren_

„Es war einmal“ – so fangen viele Märchen an. Das gibt dem Leser die Gewissheit, dass man an ein Märchen geraten ist, und so beginnt auch die Auswahl der 25 Kräutermärchen, die der |Oculus|-Verlag aus der Fülle von ca. 100 zu einem Schreibwettbewerb eingesandten Texten für seine Anthologie „Gegen Märchen ist kein Kraut gewachsenen“ getroffen hat.

Weise Frauen und Kräuter sind darin eine häufig genutzte Symbiose, doch es tummeln sich zwischen den gut 240 Seiten auch Drachen, Hexen, Feen, Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen sowie andere Personage des Genres. Die Themen sind auf der einen Seite vertraut märchenhaft und auf der anderen Seite fantasievoll über das Märchen hinaus. Sie erstrecken sich von einem Mädchen, das mit einer geheimnisvollen Kräuterfrau auszieht, um seiner Mutter zu helfen und die Hand des Prinzen zu gewinnen („Das geheimnisvolle Kraut“), über die nur durch weise Voraussicht einer Kräuterfrau abgewendete Apokalypse in „Lavendula“ und „Die List der Königin“, die mit Hilfe eines Krautes ihr Land vor Eroberern zu schützen versteht, bis zu „Samanthas Traum“ von der Sehnsucht des Menschen nach der Verbundenheit mit der Natur. Das Märchen „Die Hasel“ erzählt eine zeitlose und sprachlich hervorragend ausgearbeitete Geschichte von Liebe, Opfer und Erlösung sowie einem Leben im Einklang mit der Natur. Ähnlich im Gedächtnis wird das Märchen vom Drachen „Chillo Pfefferoni“ bleiben, das mit einem Augenzwinkern und originellen magischen Utensilien wie einer Feuerspeiflasche von einer Prinzessin erzählt, die nicht gerettet werden will, und davon, wie Chillo Pfefferoni dennoch vorschriftsmäßig alle Regeln für seine Initiation einhalten kann, um als erwachsener Drache anerkannt zu werden.

Ich hätte mir in einigen Märchen ein strengeres Lektorat oder ein gründlicheres Korrektorat gewünscht. Darüber hinaus ist „Krähen über dem Erlenbusch“ beispielsweise zwar spannend, geheimnisvoll und sogar sprachlich überzeugend, aber es fehlt das Märchenhafte; die Moral, die Trennung von Gut und Böse und das Happy End. Die Geschichte über Ursula, die zu Bärlauch wurde, wirft Fragen auf, die man mit einem Märchenkonzept aus Gut und Böse hätte beantworten können: Warum liebt das Mädchen jemanden, der sie vergessen hat? Warum hat er sie überhaupt vergessen? Demgegenüber fehlt in „Melissa“ selbst das obligatorische Hochzeitsfest nicht. „Annas Garten der Seele“ ist sehr didaktisch und fällt eher unter die Kategorie Mysteriöses und Lebenshilfe als unter Märchen.

Unter die didaktischen Geschichten fallen weiterhin die Herleitung der Bezeichnung Migräne und der Verarbeitung der Heilwirkung des gleichnamigen Krauts in „Basilikum“ oder „Ricco und die Kraft des sonnengelben Krauts“ über den Einsatz von Johanniskraut gegen Depressionen. Dem Märchen von „Artemisia“ hätte eine konsequente Überarbeitung hinsichtlich der Zeitformen und eine Überarbeitung der unlogischen Zusammenhänge gutgetan. Zunächst wird zum Beispiel erklärt, dass sich der Himmel zur schwarzen Nacht verfinstert, wenn Dragos geflogen kommen, aber wenn Artemisia kommt, blendet plötzlich die Sonne.

Die Herausgeberin wollte die Vielfalt der Märchen zeigen. Daher hat auch ein gereimtes Märchen Eingang in die Anthologie gefunden. Leider fehlt dort völlig die Handlung und es handelt sich bestenfalls um eine in schlichten Reimen und uneinheitlichem Rhythmus eingeführte Figur einer Kräuterfrau. Auch ordnen sich die Zeitformen dem Reim unter, was nicht für die Qualität der Lyrik spricht. An dieser Stelle hätte man die Autorin wie einige andere mehr in diesem Buch eigentlich vor sich selbst schützen müssen, denn jedem Autor wird es ein Bedürfnis sein, nicht so offensichtlich an der Oberfläche kritisierbare Texte abgedruckt zu finden.

Zeitformen- und Wortfehler in Sätzen wie „Layla war in diesem Moment überwältigt, ja, sprachlos von seiner Schönheit und seiner Farbenpracht, dass es nicht zu beschreiben ist.“ (S. 76) hätten leicht ausgemerzt werden können. Teilweise lesen sich ganze Absätze dieser Märchen wie Aufsätze aus der Oberstufe (vgl. S. 160), die mit deutlicher Überarbeitung berichtigt und geglättet werden müssten, bevor man sie zwischen Buchdeckel packt, denn die vorhandenen guten Arbeiten gehen zwischen ihnen unter. Auffällig sind auch der unprofessionell anmutende Satz der Texte mit Leerzeilen statt Einrückungen und die Zeichnungen, die von mäßig begabten Schülern angefertigt zu sein scheinen. Die Frage, ob man sich dieses Buch für 17 Euro leisten muss und sich die Ausgaben der Autoren, die sich an der Herstellung des Buches beteiligten, gelohnt haben, darf daher gestellt werden.

|Broschiert: 240 Seiten
ISBN-13: 978-3942567039|
http://www.oculus-verlag.de

Schmidt, Karla (Hg.) – Hinterland

_Ausflug ins Unbekannte_

Das „Hinterland“ – unendliche Weiten, ein unerforschtes Gebiet jenseits alles Bekannten. Nein, das wird keine Rezension eines Reiseführers durch die östlichen Bundesländer. Zumindest Thüringen hat jedoch dem musikalischen Satiriker Rainald Grebe zur Folge immerhin etwas gemeinsam mit der vorliegenden Kollektion der 20 von David Bowies Songs inspirierten Science-Fiction-Erzählungen. So soll Bowie über Thüringen schon einmal hinweggeflogen sein.

In den Geschichten, die Karla Schmidt unter dem Titel „Hinterland“ zusammengetragen hat, wird der Geist Bowies aber nicht nur als Gag heraufbeschworen, sondern die Autoren haben sich eingehend mit den Songs des wohl einflussreichsten Popmusikers des 20. Jahrhunderts beschäftigt und sich zu Erzählungen über fremde und dennoch vertraute Welten inspirieren lassen. Auf Bowies Spuren dringen sie in das Hinterland seines Schaffens vor und entwerfen kritische Visionen unserer Welt, angefangen von der näheren Zukunft bis hin zu zeitlich weit entfernten Roboterwelten („Life on Earth“).

Dabei tummeln sich auf den Seiten kein Ziggy Stardust kein Major Tom und schon gar keine Marsmännchen. Vielmehr setzen sich die Autoren mit den Konsequenzen der sich bereits abzeichnenden Tendenzen unserer Zeit auseinander und verarbeiten Themen wie zunehmende Umweltverschmutzung und in geistlose Abhängigkeit von der Technik geratene Menschen („Jenseits der Mauer“). Sie schreiben über totalitäre Regime, die an Orwell erinnern („Tief blau“) oder eine nicht minder verstörende Gesellschaft, in der Verbrechen an ihrem künstlerischen Wert gemessen werden („Triptychon“); eine Welt, in der der Terror, den man heute überwiegend nur aus dem Orient kennt, auch die westliche Welt beherrscht („Kamera(d) Action!“), oder spekulieren über die menschliche Entwicklung hin zu physisch sowie psychisch degenerierten Wesen („Purgatorium“, „Kleines Mädchen aus China“ u. a.).

Diese Geschichten liest man nicht einfach nur und blättert die nächste Seite um, sondern sie sind selbst Inspiration, an der Stelle weiterzudenken, wo die Protagonisten, wenn sie aus der Masse heraustreten und zu erkennbaren Individuen werden, scheitern. Mit Grausen verfolgt man die Gedanken des Konzernleiters, der zum Erhalt seines eigenen Status quo und der bequemen Unwissenheit der Menschen zum Massenmörder wird („Vierte und Erste Sinfonie oder: Müllerbrot“), oder bedauert Janus, der einem selbstbestimmten Leben bereits sehr nahe kommt, um dann in ein Stadium noch größerer Abhängigkeit zurückgeworfen zu werden („Erlösungsdeadline“).

_Alles in allem_ merkt man dieser gelungenen Sammlung an, dass hier reife Autoren mit Sachkenntnis, Fantasie und Leidenschaft am Werk waren. Ihnen gefallen nicht nur einige seiner Songs, sondern eingestreute Details wie die unterschiedlichen Augenfarben Bowies und biografische Fakten outen sie als Fans oder zumindest als sorgfältige Rechercheure. Sehr gut gelungen sind die kurzen einführenden Texte vor jeder Erzählung, in denen man einige Informationen über die Autoren bekommt und feststellen kann, dass es sich um gestandene Schriftsteller mit reicher Erfahrung handelt, und die einleitenden Worte, in denen die Autoren über die Auswahl des sie inspiriert habenden Songs schreiben. Eine gute Idee war es, gerade diese Betrachtungen über die Songs auszugliedern. So erhält der Leser die Möglichkeit, seine Verbundenheit mit dem Schaffen Bowies zu testen, indem er die einleitenden Texte erst später liest und quasi detektivisch herauszufinden versucht, um welche Songs es sich handeln könnte. Manches liegt auf der Hand („Das ist nicht Amerika“), andere Parallelen erschließen sich ohne Hilfestellung nur wahren Kennern („Hinterland“).

Karla Schmidt und ihre Autoren laden den Leser ein, sie an einen überraschenden und geheimnisvollen Ort zu begleiten, an dem sowohl Songs als auch Geschichten entstehen. Für 14,95 Euro lohnt es sich durchaus, diese Einladung zu einem erfrischend tiefgründigen und inspirierenden Ausflug in die Zukunft anzunehmen.

|Taschenbuch: 383 Seiten
ISBN-13: 978-3938065693|

Classic Shop

Gabaldon, Diana (Autor) / Nguyen, Hoang (Illustrator) – Feuer und Stein. Eine Liebe in den Highlands

_|Highland-Saga|:_

01 „Feuer und Stein“
02 „Die geliehene Zeit“
03 „Ferne Ufer“
04 „Der Ruf der Trommel“
05 „Das flammende Kreuz“
06 „Ein Hauch von Schnee und Asche“
07 „Echo der Hoffnung“
08 „Der magische Kreis“

_Zurück auf Anfang_

Anfang der 1990er Jahre beginnt Diana Gabaldon mit der Veröffentlichung ihrer Highlander-Saga um die Krankenschwester Claire Randall, welche durch einen mysteriösen Steinkreis in den schottischen Highlands aus der Nachkriegsgegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts in das 17. Jahrhundert verschlagen wird und dort auf alles trifft, was man aus den Geschichtsbüchern kennt: den Einfall der Engländer in Schottland und den daraus resultierenden Krieg, inklusive des Zubehörs wie Gemetzel, Folter oder politische Ränke. Ist Claire zunächst noch ausschließlich daran interessiert, in ihre Zeit und zu ihrem Mann Frank zurückzukehren, ändert sich das angesichts seines ihm äußerlich bis aufs i-Tüpfelchen gleichenden, allerdings absolut hassenswerten Vorfahrens Jack Randall und ihrer aufkeimenden Liebe zu dem jungen Highlander Jamie Fraser, welcher sie durch eine Heirat davor schützt, als Spionin hingerichtet zu werden. Schließlich entwickelt sich zwischen Claire und Jamie eine leidenschaftliche Liebe, die sie durch alle Unbill dieser Zeit gehen und jeden sein Scherflein zum erfolgreichen Überleben beitragen lässt.

Mit der Einführung einer mit umfassendem modernem Wissen über Medizin und Geschichte ausgestatteten Person in eine historischen Romanze setzte Gabaldon einen Trend, der viele ähnlich gelagerte Zeitreise-Liebesromane nach sich zog. Sie erarbeitete sich eine internationale Fangemeinde, die ihr über vier immer länger und uninspirierter werdende Fortsetzungen von „Feuer und Stein“ und die in mehreren Bänden ausgelebte Leidenschaft für eine ursprüngliche Nebenfigur „Lord John Grey“ die Treue hält. Als ihr angeboten wird, ihren größten Erfolg als Graphic Novel herauszubringen, erfüllt sich ein Traum für Gabaldon, die ihre Karriere als Autorin für |Disney Comics| begonnen hat. 2010 erscheint „The Exile. An Outlander Graphic Novel“ in den USA. |Blanvalet| legt 2011 die deutsche Ausgabe mit dem Untertitel „Eine Liebe in den Highlands“ auf und zieht sich den Unmut zahlreicher enttäuschter Fans zu, indem damit geworben wird, die Geschichte aus der Sicht Jamies zu zeigen, obwohl die Autorin bereits im Vorwort schreibt, dass sie die Sicht von Jamies Patenonkel Murthag gewählt hat.

Bedenkt man, dass der Roman „Feuer und Stein“ gut 800 Seiten umfasst und besonders durch seine liebevolle und ausführliche Schilderung der Highlands und der Figuren sowie durch ausgefeilte Dialoge und detailreiche erotische Szenen besticht, dann wird bereits das Grundproblem deutlich, dass es einer 200-seitigen Comicadaption schwermacht, an diesen Erfolg anzuknüpfen: mangelnde Ausführlichkeit. Der ursprüngliche Plot musste extrem komprimiert werden und beschränkt sich im Wesentlichen auf die erste Hälfte des Romans. Selbst Lesern, die den Roman kennen, fällt es jedoch schwer, in den sprunghaft erzählten Episoden, in denen vieles nur angerissen werden kann, die Romanhandlung nachzuvollziehen. Die wichtigen Schlüsselszenen sind allerdings beisammen: Claire, die ahnungslos durch den Steinkreis ins 17. Jahrhundert gelangt und dort sofort auf Jack Randall trifft, der sie für eine Dirne hält; Jamies Problem mit dem Eid der MacKenzies; Claires und Jamies Hochzeit und mehr. Natürlich darf auch Claires Lieblingsfluch „Jesus H. Roosevelt Christ!“ nicht fehlen.

Die Schilderung von bekannten Ereignissen aus der Sicht Murthags wäre nicht nötig gewesen. Die neu eingefügten Handlungsfäden um Geillis und ihren Begleiter Kenneth wirken überflüssig. Die Idee dahinter mag löblich sein: Der Leser soll neue Sichtweisen auf die Geschichte kennenlernen und die Motivation der Nebenfiguren besser verstehen. Allerdings dürfen die Szenen die bekannte Handlung nicht mehr verändern und, wenn sie relevant oder gar besser gewesen wären, hätten sie sich schon im Roman durchgesetzt. Aber sie waren für den Roman offensichtlich unerheblich und in der Graphic Novel verwirren sie nur. Die komplizierten politischen Verflechtungen des MacKenzie-Clans hingegen, dem Jamie verpflichtet ist, können mit dem wenigen Raum, den die Szene in den Bildern einnimmt, nicht einmal ansatzweise verstanden werden. Die Neueinsteiger, die mit der stylischen Form Graphic Novel eventuell für den Roman interessiert werden sollten, würden sich daher nicht im Plot zurechtfinden und dürften nur schwer zu überzeugen sein. Für das Verständnis wären einige „oark“s und „uff“s in den Sprechblasen weniger und dafür ein paar erklärende Sätze mehr ratsamer gewesen.

Mit der Figur des „Kenneth“ wird sogar ein komplett neuer Charakter eingeführt. Als Zeitreisender mit Verbindungen zur ebenfalls zeitreisenden der Hexerei angeklagten Geillis Duncan trägt er jedoch lediglich dazu bei, das Phänomen Zeitreisen beliebiger zu machen und Claires besonderes Schicksal noch mehr zu entzaubern, als es der Figur der Geillis in den Fortsetzungen von „Feuer und Stein“ schon gelungen ist.

Der amerikanische Illustrator Hoang Nguyen mit vietnamesischen Wurzeln, der auch schon für |Marvel Comics| arbeitete, hat sich der grafischen Umsetzung der Geschichte angenommen. Diana Gabaldon beschreibt im Nachwort ausführlich die Diskussionen, die sie und ihre Fans bestritten haben, um den Charakteren das richtige Aussehen zu geben. Vor allem im ersten Teil der Graphic Novel zeichnen sich die Hauptpersonen auch durch Detailtreue aus. Jamies Gesicht ist anfangs markant und voll lebendigen Ausdrucks während es in den letzten Szenen nur noch flächig und mimiklos gezeichnet ist. Dadurch wirkt er sehr jung und glatt. Er sieht nicht aus wie der geborene Anführer oder wie jemand, der Spuren gelebten Lebens mit sich herumträgt. Das Gleiche gilt auch für die Nebenfiguren, die sich allesamt stark ähneln und weiche Gesichtszüge sowie rote Haare zeigen. Selbst Claire mutete auf manchen Bildern ein wenig asiatisch an. Möglich, dass Nguyen hier seine Erfahrungen mit Mangas zum Hindernis geworden sind.

Besser geglückt ist dem Zeichner die Darstellung von Stimmungen, insbesondere das Spiel mit Licht und Schatten. Gut gewählte Farben unterstreichen die Atmosphäre der Orte. Die Freiheit der hellgrünen Berge kontrastiert mit den dunklen Kampfszenen, die wie die überwiegende Zahl von Bildern als Close-ups gehalten sind. Dennoch ist die Darstellung der Landschaft überwiegend plakativ und die Ausarbeitung von Hintergründen überwiegend spärlich. Für eine Graphic Novel hätte man die Bilder viel sorgfältiger zeichnen müssen.

Die häufig anzutreffende Erotik kommt nicht von ungefähr, denn sie hat bereits im Roman einen hohen Stellenwert. Claires sehr kurvige Darstellung ähnelt in vielen Bildern jedoch einem Pin-up. Man hätte dem Zeichner sagen müssen, dass ihre vollen Brüste unnatürlich gepusht aussehen und der Schwerkraft nicht mehr zu unterliegen scheinen. Sie trägt auch Kleidung, die für eine resolute und praktische Frau, als die sie charakterisiert wird, nicht passend ist. Trotz aller Kritik zeigen die Bilder generell nicht zu viel, sondern lassen die entscheidenden Körperpartien aller Personen ausreichend bedeckt.

Eine gute formelle Idee war, die Szenen, die in der Vergangenheit spielen, nicht in streng rechteckigen Bildern darzustellen, sondern sie wie ausgerissene Seiten aussehen zu lassen. Durch unterschiedliche Sprechblasenformen wird auch Gesprochenes optisch von Gedachtem getrennt. Störend wirken die Comicstrip-typischen, teilweise unverständlichen Soundblasen mit „Worten“ wie „>sknxk<". Das mag in Comics legitim sein, aber in ihrer gehobenen Form der Graphic Novel für ein erwachsenes Publikum wirken sie deplatziert. Auch die Übersetzungen in Sprechblasen verwendeter gälischer Ausdrücke noch im selben Bild stören optisch und lenken vom Bild ab. Sie wären im Anhang besser aufgehoben. Generell hat man die Möglichkeiten des Mediums nicht ausgeschöpft, sondern eher einen langen traditionellen Compicstrip gezeichnet. Die Aufmachung ist mit rotem Hartcovereinband, Schutzumschlag und hochwertigem Papier, das die Bilder gut zur Geltung bring, sehr gelungen. Man hätte vielleicht ein anderes Rot als die Farbe von "Das flammende Kreuz" für den Schutzumschlag wählen und statt der kitschigen Abbildung auf dem Cover wieder ein keltisches Symbol verwenden können, aber optisch fügt sich der Band durchaus ins Gesamtbild der Saga. _Insgesamt ist diese Graphic Novel_ also nur etwas für hartgesottene Fans. Doch selbst diese werden anschließend sofort zum Roman greifen - zum einen, weil sie noch einmal genau wissen wollen, wie alles begann, und zum anderen, weil für einen Stoff wie "Feuer und Stein" diese Form die angemessenere ist. Ein Bild mag zwar mehr als tausend Worte sagen, aber es erreicht nicht annähernd ihren wortgewaltigen Schmachtwert: "Ich habe aus Freude geweint, meine Sassenach [...] Und ich habe Gott gedankt, dass ich noch zwei Hände habe. Zwei Hände, mit denen ich dich halten kann, mit denen ich dir dienen, mit denen ich dich lieben kann." Ach, Jamie! Seufz ... |Gebunden: 224 Seiten Originaltitel: The Exile - An Outlander Graphic Novel Übersetzung: Barbara Schnell ISBN-13: 978-3764504229| http://www.dianagabaldon.de http://www.blanvalet.de

Dierssen, Oliver – Fausto

Nie wieder schlechte Zensuren in Rechtschreibung. Keine Probleme bei seitenlangen Aufsätzen über verschiedenste Themen oder bei Fremdsprachentests. So einen hilfreichen Bücherdämon wie Oliver Dierssens Fausto kann wohl jedes Schulkind gut gebrauchen. Doch er landet nun mal zusammen mit einer Kiste alter Zeitschriften beim 14-jährigen Joseph „Joschel“ Fittich – seines Zeichens pickelgeplagter Loser aus der neunten Klasse – und damit fangen seine Probleme erst richtig an, denn der Deutschlehrer Kattmann wittert bald, dass es bei Joschels plötzlich aufgetretener Hochbegabung nicht mit rechten Dingen zugehen kann, und auch die Jungen in seiner Klasse halten ihn für einen Betrüger, so dass er auf die Hilfe des Neulings Markus angewiesen ist, um nicht verprügelt zu werden. Immerhin verschafft ihm das auch die Aufmerksamkeit seines heimlichen Schwarms Canan.

Wenigstens Joschels leicht durchgeknallte Mutter Hanne glaubt, dass ihr Sohn etwas ganz Besonderes ist und vielleicht doch mehr als seine Segelohren von seinem Vater geerbt hat, der als Korrespondent für die FAZ arbeitet, seinen Sohn jedoch seit Jahren nicht mehr besucht hat. Und doch steckt hinter allem nur Fausto – ein mehrere hundert Jahre alter pelziger Dämon mit einem Horn auf der Stirn, der sich als Tintenfleck durch beschriebene Seiten frisst, sich dabei von Rechtschreibfehlern ernährt und ganz nebenbei auch noch Texte produzieren kann.

Wie Joschel Canans Zuneigung gewinnt und fast wieder verspielt, wie sich seine Freundschaft mit Fausto entwickelt, er zuletzt gemeinsam mit Canan und dem Klassenstreber ein Abenteuer um Leben und Tod bestehen muss und ob Joschels Vater tatsächlich beim Schreibwettbewerb der FAZ erscheinen und stolz auf seinen Sohn sein wird, hat Oliver Dierssen auf die 445 Seiten seines Romans gebannt. Jede der 30 Kapitelüberschriften ist mit zauberhaften Kritzeleien illustriert, wie man sie in Schulheften finden könnte.

_Dierssen schreibt in_ nicht zu flapsiger Jugendsprache, die selbst für Erwachsene sehr amüsant zu lesen ist. Die Themen sind angemessen für Jungen und Mädchen im frühen Teenageralter. Doch es ist besonders erfreulich, dass das Buch Jungen anspricht, da diese von der Jugendliteratur eher stiefmütterlich behandelt werden. Mit Humor und Einfühlungsvermögen dreht sich alles um das Überleben in der Pubertät, wenn die Eltern anfangen schwierig und Freunde wichtiger als die Eltern zu werden, wenn die Schule als notwendiges Übel angesehen wird und das Herz zum ersten Mal für eine Person des anderen Geschlechts zu schlagen beginnt. Überhaupt fühlt sich der erwachsene Leser an seine eigene Pubertät erinnert: „Das böse Wort mit P. Dieses Thema mochte ich überhaupt nicht, hierüber wollte ich mit Hanne nicht sprechen, ich verweigerte jede Aussage: Über die Haare, die an verschiedenen Stellen meines Körpers wuchsen. Über die Videos an verschiedenen Stellen meiner Festplatte. Darüber, wie unfassbar eklig die verschiedenen Hanne-Geräusche waren, die bis vor Kurzem jeden Samstagabend dumpf durch die dünne Wand drangen, als Hanne noch regelmäßig Besuch kriegte. Nichts davon wollte ich mit meiner Mutter besprechen. Aber das schien auch nicht nötig zu sein. Denn sie benahm sich, als würde sie bereits alles wissen. Widerlich.“

Die Themen sind zeitgemäß. Die erste Liebe aus der Sicht eines Jungen zu erleben, hat neben den gewollt komischen Elementen auch etwas Berührendes. Besonders fällt der sensible Umgang mit der schwierigen Familiensituation der Fittichs auf, die gerade aus der Sicht Joschels deutlich macht, wie enervierend der Umgang mit wechselnden Partnern und die permanente Enttäuschung durch den genetischen Vater für das Kind sind.

_Der 30-jährige Oliver Dierssen_ hat mit „Fausto“ bereits seinen zweiten Roman veröffentlicht. Bei seinem Roman „Fledermausland“ (2009), der mit dem |Deutschen Phantastik Preis| in der Kategorie „Bester deutschsprachiger Debütroman“ ausgezeichnet wurde, setzten der Autor und der |Heyne|-Verlag noch auf das relativ sichere Trendthema „Vampire“. Mit dem furchtsamen, Rechtschreibfehler fressenden Bücherdämon Fausto hat Dierssen jedoch eine Figur geschaffen, die bisher nicht ihresgleichen hat. Es bleibt zu wünschen, dass der originelle kleine Kerl in vielen Kinderzimmern Einzug hält.

|Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 448 Seiten
31 S/w-Abbildungen
ISBN-13: 978-3-453-26001-6|
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

_Oliver Dierssen bei |Buchwurm.info|:_
[„Fledermausland“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6417

Nievo, Ippolito – Ein Engel an Güte

_Kabale und Liebe in der alten Republik Venedig_

Die junge Morosina, der buchstäbliche Engel an Güte, fiebert im Jahr 1749 ihrer Entlassung aus dem venezianischen Kloster der Seraphinerinnen entgegen, in dem sie, finanziert vom Gönner ihrer Familie Inquisitor Formiani, „einem Mann, der ausnahmslos alle Gaben des großen Staatsmannes und ausnahmslos alle Laster des venezianischen Edelmanns in sich vereinte“, sechs Jahre erzogen wurde. Nun hofft sie, endlich zu ihren Eltern auf das heimatliche Landgut zurückkehren zu können. Doch was der italienische Autor Ippolito Nievo (1831-1861) zu Anfang des Romans in einer Klosterszene als gängiges Laissez-faire, das zu dieser Zeit in allen Bereichen der Republik Venedig herrscht, beschreibt, gleicht mehr einem herrschaftlichen Salon zur Karnevalszeit. Ströme von jungen Herren und Familienmitgliedern drängen unablässig in die ohnehin überfüllten Klosterräume. Aufgeputzte Menschen, deren Kleidungsstil so detailliert beschrieben wird, dass man sie förmlich vor Augen hat, vergnügen sich bei Smalltalk und Musik. Es wird geflirtet, was das Zeug hält, und natürlich gelästert.

Schnell lernt der Leser Morosinas Vater kennen, der in Aufmachung und Verhalten sofort deplatziert aus der Masse heraussticht, von ihr jedoch trotz seiner Erscheinung als „ausgefallenes Exemplar“ bedingungslos geliebt wird. Allerdings ist er nicht gekommen, um sein Kind nach Hause zu holen und ihr unter anderem endlich, wie lange von ihr gewünscht, ihre Stiefmutter vorzustellen. Sie erfährt, dass sie zunächst beim greisen Formiani leben soll, der sie kurz darauf zu seiner Frau erwählt. Aus Dankbarkeit für die Unterstützung ihrer Familie und aus Gehorsam ihrem Vater gegenüber kommt es ihr gar nicht in den Sinn, sich gegen diese Heirat zu stellen, obwohl sie seit ihren frühen Kindertagen den Cavaliere Celio liebt.

Im Kloster von Ränken und Sittenlosigkeit umgeben, hat sie sich dennoch ihr reines Wesen erhalten, welches sich in ihren Kindertagen unter den wachsamen Augen des Gerichtsschreibers Chirichillo herausgebildet hat. Dieser hatte die Vaterrolle an ihr übernommen und „für ihn war Herzensgüte der Dreh- und Angelpunkt jeder moralischen Vollkommenheit. Daher waren Lieben, Trösten, Glauben, Verzeihen, Gehorchen seine Lieblingsverben, und alles, was er sagte, war dazu angetan, Morosina deren praktische Anwendung einzuprägen. Sodann folgte in seinem Wertesystem die Seelenstärke. … und auf diesem Weg gelangte er zur Notwendigkeit der Sittlichkeit.“ Sowohl der Vater als auch Chirichillo erscheinen als einfach gestrickte komische Charaktere vom Land in der Tradition der Comedia del’Arte. Sie kontrastieren stark mit den berechnenden Stadtmenschen, und auch Morosina, die im Kloster zahlreiche gegenteilige Erfahrungen gemacht hat, besticht mit ihrer Herzensgüte, die teilweise an Einfalt grenzt, dadurch, dass sie das Spiel, in welchem sie Formiani zur Weiterführung seines Stammbaumes auserkoren hat, nicht als solches durchschaut. Statt mit Celio, der nicht ganz so reinen Herzens wie Morosina ist, ihrem Gatten untreu zu werden und die Kinder zu zeugen, die Formianis Neffen um den Zugriff auf dessen Erbe bringen sollen, ist sie fest entschlossen, Formiani eine treue Ehefrau zu sein und auf ein späteres Glück mit Celio zu hoffen. So viel Lauterkeit wirkt schließlich ansteckend und zwing die Männer, ihren Plan aufzugeben. Der 74-jährige Inquisitor stirbt glücklicherweise nach nur vier Monaten, und so steht dem märchenhaften Ende mit der Hochzeit der Liebenden und einer großen Kinderschar nichts mehr im Wege.

Ippolito Nievo ist neben Alessandro Manzoni der bedeutendste italienische Romancier des 19. Jahrhunderts und wird vor allem wegen seiner zahlreichen Gedichte und des Romans „Bekenntnisse eines Italieners“ geschätzt. Der |Manesse|-Verlag hat 2010 den Roman „Ein Engel an Güte“ in der Reihe „Bibliothek der Weltliteratur“ in einer vielbeachteten Neuübersetzung herausgebracht, die 2011 den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis gewann. Die Geschichte um Morosina und Celio dient dem Autor dabei als Leitfaden, an dem er auf unterhaltsame Weise die politischen und gesellschaftlichen Zustände der bei der Entstehung des Romans längst untergegangenen venezianischen Republik des 18. Jahrhunderts beschreibt und mit der Hoffnung der Entwicklung eines vereinten italienischen Staates spielt. Der Bildungsaspekt des Romans in Form von abschweifenden Beschreibungen der Kultur, der Lebensart, der politischen Intrigen und der Querelen zwischen Lagunenstadt und Festland verlangen dem Leser ein wenig Geduld ab, aber das pralle Sittengemälde und die komischen Szenen machen alles wieder wett. Ippolito Nievo selbst war es leider nicht vergönnt, das unabhängige und vereinte Italien zu erleben, das er erhofft hatte. Er kämpfte zwar an der Seite des italienischen Nationalhelden Garibaldi im zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg, starb jedoch einen Monat nach der Vereinigung Italiens unter der Herrschaft des Hauses der Savoyen mit nur 29 Jahren bei einem Schiffsunglück.

Dass der |Manesse|-Verlag den Roman „Ein Engel an Güte“ in sein sorgfältig aufgemachtes Weltliteraturprogramm aufgenommen hat, gilt als Zeichen, dass man ihn gelesen haben sollte. Wer Literatur mag, die mehr als nur unterhalten will, ist damit bestens bedient, und auch Nievos lesenswerter Roman „Bekenntnisse eines Italieners“ ist in dieser Edition in der Übersetzung von Barbara Kleiner erschienen.

|Originaltitel: Angelo di Bontà, 1856
Deutsche Erstveröffentlichung 1877 als „Ein Engelsherz“
Neuübersetzung aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Mit Nachwort von Lothar Müller
Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 560 Seiten|
[Manesse-Verlag]http://www.manesse-verlag.de

Lev Tolstoi / Sofia Tolstaja – Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Rosenkrieg im Haus Tolstoi

„Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ (Matthäus 5,28) – Schon die als Vorwort gewählten Bibelzitate Tolstois für seine Erzählung „Kreutzersonate“ machen deutlich, dass es im Folgenden um die Auseinandersetzung mit der Sexualität und der Ehe gehen wird, die man am besten gar nicht erst eingehen sollte, da das Himmelreich nur durch Enthaltsamkeit erreicht werden kann (Matthäus 19, 10-12).

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Kinkel, Tanja – Im Schatten der Königin

_Parole: Durchhalten_

„Was bist du bereit, für deine große Liebe zu geben – und welcher Preis ist so hoch, dass er nicht bezahlt werden darf?“ Auch in ihrem aktuellen Roman „Im Schatten der Königin“ macht Tanja Kinkel sich über eine beeindruckende Frauengestalt und das ewig aktuelle Thema der „Liebe“ her; dieses Mal über Elisabeth I. von England, das Ganze verpackt in eine Kriminalgeschichte.

Die Frau eines engen Vertrauten der Königin wird tot am Fuße einer Treppe aufgefunden, und sofort munkelt das Reich, dass ihr Mann Robert Dudley oder gar die junge Königin Elisabeth etwas mit diesem Tod zu tun haben könnten. Für Elisabeth steht der Verlust des Thrones auf dem Spiel; für ihren Freund und Günstling Robert Dudley gar das eigene Leben. So weit die Fakten, dann setzt Tanja Kinkel ein, die nach umfangreichen Recherchen mit „Im Schatten der Königin“ ihre eigene Version der historisch verbürgten Begebenheit vorstellt. Roberts bester Freund Tom Blount übernimmt darin das schwierige Amt, den Fall zu untersuchen und ihn, obwohl auch er sich der Unschuld seines Freundes manchmal nicht ganz sicher ist, aufzuklären. Zwielichtige Gestalten behindern den Aufklärungsprozess, denn obwohl er fernab vom Hof ermittelt, sieht sich Tom Blount schnell in die Machtspielchen des Hofes verstrickt.

Wie immer verwebt Tanja Kinkel in sehr elegantem sprachlich hervorragendem Stil historische Fakten mit dem Schicksal von Menschen, die sie dem Leser nahebringen will. Sie sind gefangen in den Zwängen ihrer Zeit und Stellung, aber in ihrem Handeln doch so frei, dass sie die psychologisch gut ausgearbeiteten Probleme lösen können. Blount beispielsweise wird durch seine Ermittlungsarbeit gezwungen, immer wieder sein eigenes Leben mit dem seines Freundes zu vergleichen. Er erkennt, dass er seine Ehe vernachlässigt und seine Frau beinahe so behandelt, wie er es bei seinem Freund und in dessen Ehe kritisiert. Elisabeths Leben als Prinzessin und Königin wird durch die Konfrontation mit und aus Sicht der sehr lebendigen Gestalt ihrer Amme für den Leser nachvollziehbar als Gratwanderung zwischen höchster Macht und absoluter Machtlosigkeit geschildert.

Dennoch erscheint die Kriminalgeschichte eher spannungsarm, weil die Aufklärung des Falles immer wieder von der Schilderung der für den Kriminalfall unwichtigen Einzelschicksale von Nebenfiguren unterbrochen wird. Tom Blount bleibt bis auf den Fakt, dass es mit seiner Ehe nicht zum Besten steht, blass und schwer greifbar, so dass er nicht zu Identifikationsfigur werden kann. Die Amme Kat Ashley hingegen wird durch ihren Konflikt und den unbedingten Willen, ihr „Kind“ vor Ungemach zu beschützen, sehr plastisch herausgearbeitet, so dass es schließlich kaum überrascht, dass sie im Geheimen ermittelt. Auch der Komödiant Frobisher lockert die sachlich-trockene Ermittlungsarbeit etwas auf. Zum Ende hin gewinnt der Roman dann tatsächlich noch etwas an Fahrt, wenngleich die Lösung des Kriminalfalls nicht unbedingt überrascht.

Im Ganzen kann man nicht warm werden mit „Im Schatten der Königin“. Es gelingt nicht einmal, die Tote für ihr unglückliches Leben und dessen tragisches Ende zu bedauern. Der 2009 erschienene Roman „Die Säulen der Ewigkeit“ hatte mehr Abenteuer und Figuren zu bieten, an die man sich auch nach einem Jahr noch lebhaft erinnert. „Im Schatten der Königin“ verlangt vor allem eins: Durchhaltevermögen.

Gebundene Ausgabe: 424 Seiten
ISBN-13: 9783426198179
[www.droemer-knaur.de]http://www.droemer-knaur.de
[www.tanja-kinkel.de]http://www.tanja-kinkel.de

_Tanja Kinkel bei |Buchwurm.info|:_
[Die Puppenspieler 83
[Der König der Narren (Die Legenden von Phantásien) 1181
[Götterdämmerung 1409

Paul Ott (Hg.) – Sterbenslust. Erotische Kriminalgeschichten

Sex sells

Sex und Verbrechen sind zwei anziehende Themen, die scheinbar nie langweilig werden. Das wird schnell offensichtlich, wenn man die Vielzahl der Krimis und Liebesromane betrachtet, die Jahr für Jahr auf den literarischen Markt geworfen werden. Da liegt es nahe, beide Themen zu verbinden – so geschehen von 21 namhaften Autoren und Autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren erotische Kriminalgeschichten Paul Ott in dem vorliegenden Sammelband „Sterbenslust“ aus dem |Gmeiner|-Verlag zusammengetragen hat.

Paul Ott (Hg.) – Sterbenslust. Erotische Kriminalgeschichten weiterlesen

Haubold, Frank W. (Hrsg.) – Traum vom Meer, Der

_Frei für das Meer_

„Der Traum vom Meer“ – bereits der Titel klingt nach Wellenrauschen, salzigem Wind und Urlaubslektüre, und tatsächlich entführt der Sammelband mit „Geschichten von nahen und fernen Ufern“ seine Leser zunächst mit Wilhelm Hauffs Erzählung vom „Gespensterschiff“ zu den fernen Ufern des Orients. Über Kafkas fragmentarische Erzählung vom toten „Jäger Gracchus“, den das Wasser an den Quai von Riva spült, führt die Reise mit Rainer Maria Rilkes Geschichte „Die Stimme“ weiter bis an den weißen Ostseestrand. Doch der Herausgeber Frank Haubold nutzt diese Klassiker nur zur Einstimmung und Abrundung seiner Anthologie, denn im Wesentlichen zeigen zeitgenössische Autoren u. a. aus Deutschland, England und Bulgarien, was sie zum Thema „Meer“ zu schreiben haben.

Die Geschichten vom Meer sind märchenhafte Erzählungen wie Karl Ludwig Saligmanns „Sindbads achte Reise“, welche den Märchenhelden auf ein Kriegsschiff des 21. Jahrhunderts verschlägt. Dort lernt er, dass sich wesentliche Züge der Menschheit in Jahrhunderten nicht verändern werden und die Hoffnung auf ein Paradies aufgegeben werden muss. Auch die Erzählung „Der Puppenmacher von Canburg“ knüpft an die Tradition Hauffs an. Sie beschreibt ein spießiges kleines Kaff, welches sich von anderen spießigen kleinen Käffern nur dadurch unterscheidet, dass man dort eine ungewöhnliche Hunderasse züchtet. Der Puppenmacher Alois Sonnenschein bringt seinem Namen angemessen Wärme und Licht in die abweisende Atmosphäre der Gesellschaft von Canburg. Doch einzig die Kinder erkennen in dem Fremden einen Zauberer. In der kleinen Sophie weckt er sogar die Liebe zum Tanz, die ihr später Beruf und Berufung werden soll.

Schon in den ersten Geschichten zeigt sich, dass das Meer nicht nur Faszination und Abenteuer bedeutet. Vielmehr ist es in den vorgestellten Werken als Inspiration sowohl für die Autoren als auch für deren Figuren zu sehen. Geschichten vom Meer sind dabei immer auch Beziehungsgeschichten. In dieser Anthologie findet man vor allem die Endlichkeit der Liebe thematisiert. So wird Edgars und Lilith Liebesbeziehung am Meer in „Griechenland“ auf den Prüfstand gestellt. Sie entpuppt sich als an den unterschiedlichen Erwartungen des anderen gescheitert und mündet in eine Katastrophe. In „Die Windsbraut“ entscheidet sich der Erzähler für die stürmische Windsbraut und verlässt seine Familie. Caro aus „El Hierro“ erkennt in einem Hotel am Meer, dass sie 21 Jahre ihres Lebens für drei bizarre Begegnungen mit einem geheimnisvollen Fremden verschwendet hat. Für die sich liebenden Geschwister aus „Eros hinter dem Vorhang“ ist der Aufenthalt am Meer ebenfalls von jeher schicksalsträchtig gewesen. Obwohl beide dagegen ankämpfen, wird das Tabu der körperlichen Liebe zwischen Geschwistern, unabhängig davon ob sie vollzogen wird oder nicht, unvermeidlich ins Verderben führen.

Spannend ist die Kriminalgeschichte „Die Irritation“ der Autorin Anke Laufer, die 2009 bereits mit einer anderen Geschichte für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert worden war. Hervorragend konstruiert und sprachlich geschickt, lässt sie ihre Ich-Erzählerin als Zeugin in einem Mord aussagen, den sie selbst begangen hat. Aus Rache für eine verschmähte Liebe, die zu einem einsamen und trostlosen Leben mit einem anderen Mann geführt hat, belastet sie einen unschuldigen Mann, der sie an ihre frühere Liebe erinnert. Das tiefe Wasser des Ärmelkanals wird dabei zu ihrem Komplizen. Doch das Meer steht nicht nur für das dunkle Grab der toten Frau, sondern auch symbolisch für das Grab der Träume und Sehnsüchte der Ich-Erzählerin.

Offensichtlich stirbt es sich im Meer am effektvollsten. Das scheint auch die Geschichte „Die Bienen“ zu bestätigen. Die Binnenhandlung erzählt eine klassische Dreiecksgeschichte, bei der sich verschmähte Liebe in Hass und Eifersucht verwandelt, so dass der Tod aller Beteiligten den traurigen Abschluss bildet. Die Bienen tragen hierbei den Kampf aus, den die Menschen nicht zu kämpfen wagen. Für den Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist diese Geschichte Mahnung und Warnung zugleich. Doch wirkt „Die Bienen“ wegen des romantischen Schlusses versöhnlich und gibt der funktionierenden Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern noch eine Chance.

Das Meer als Spiegel der Gefühle der handelnden Figuren findet der Leser in der Geschichte „Schwere See“ besonders eindrucksvoll ausgestaltet. In ihr überflutet die stürmische Nordsee gerade Hamburg, während die Ich-Erzählerin, deren Mann eine Affäre hat, ein Kind zur Welt bringt, das ebenfalls aus einem Seitensprung entstanden ist. Das wilde tobende Meer entspricht den überfließenden Gefühlen von Schmerz und Wut der Gebärenden, die vor allem wegen eines nicht vollendeten Abnabelungsprozesses von ihrem Vater in ihrer Ehe und ihrem Leben bisher nicht glücklich werden konnte.

Aufenthalte am Wasser führen jedoch immer zu schicksalhaften Begegnungen, die alles verändern können. In „Macht“ führt die Reise zum Meer zur Überwindung von Ängsten, aber gleichzeitig auch zu einem besonders schweren, einem doppelten Abschied. „Der Rothaarige“ zeigt das Festhalten an einer Liebe, deren dürftige Grundlage nur noch ein gegebenes Versprechen darstellt. In der befreienden Umgebung des Wassers wird klar, wie es ist, wenn man etwas unbedingt möchte und einsehen muss, dass es nicht funktioniert. Auch der Protagonist in „Pfirsiche und Fische“ erkennt, dass er nicht beides haben kann und sich zwischen seiner künstlich nach Pfirsich riechenden und der natürlichen Frau vom Meer entscheiden muss.

Den Höhepunkt der Sammlung bildet jedoch zweifellos die Titelgeschichte „Der Traum vom Meer“. Schon der erste Satz macht klar, dass hier trotz der märchenhaften Erzählweise eine deutliche Abkehr vom Märchen stattfindet und Wünschen das Leben nur komplizierter macht. Susanna Neuenweg erzählt bildgewaltig von der Odyssee einer „sonderbaren“ Gesellschaft“, bestehend aus dem gewalttätigen Ahab, einer gescheiterten Selbstmörderin, eines Diebes, einer Mörderin mit indischen Wurzeln und anderen Außenseitern der modernen Gesellschaft. Die originellen Typen, die allesamt an der Gesellschaft kranken, retten sich buchstäblich auf Ahabs Draisine und sind damit unterwegs zum Meer. Die Erzählerin möchte gar nach Atlantis, was man durchaus als Sehnsucht nach einem paradiesischen Ort verstehen kann. Doch auch in der relativ freien Gesellschaft auf dem kleinen „Landschiff“ ist das Leben kein Zuckerschlecken. Die Autorin beschreibt die erotischen Beziehungen, die Abhängigkeit von den Fähigkeiten des Anderen oder die Gewalt in knappen präzisen Sätzen, so dass man gründlich lesen muss, bis der häufig nur in einem Halbsatz verborgene Schlüssel zur Erkenntnis der Situation die surreale Beschreibung in einem neuen Blickwinkel erscheinen lässt. |“Jeder hat seine Quest. Vielleicht verfolgt Schambart nun eine andere. Heute Morgen habe ich bei Ambra eine blutige Haarnadel gefunden. Unter unserem Schiff stinkt etwas. Ich möchte hier nicht bleiben.“| In diesem anspruchsvollen Text gibt es keine Floskeln, ist kein Wort zu viel geschrieben. Die inhaltliche Abkehr vom Märchen erstreckt sich somit auch auf die sprachliche Gestaltung. Nur die Namen der Protagonisten und ein Märchen innerhalb der Geschichte haben sich den märchenhaften Charakter bewahrt. Geschickt werden damit die Träume, Sehnsüchte und Welten ausgenutzt, die sich hinter ihnen verbergen und nur in wenigen Sätzen angedeutet werden müssen, um beim Leser ihre Wirkung zu entfalten.

Ein wenig blass wirken dagegen Geschichten wie „Sohn der Insel“, die so entspannt daherkommt, wie man sich das Leben auf einer einsamen Südseeinsel vorstellt, wenn Naturgewalten, Monster oder Piraten ausbleiben, sowie „Heimkehr“, die unabgeschlossen wirkt und man sich eher als Anfang einer längeren Erzählung vorstellen kann. Das „Prosaische Fischerlied“ besteht aus aneinandergereihten Worten und Satzfetzen. Sie ergeben nicht immer Sinn wie die „verlockt, verliebt, verleiteten“ Krähen und muten eher wie ein atemloses Spiel mit Worten an, die mehr Energie für die Nacht versprechen, als man sich bei einem Fischer nach seinem anstrengenden Tagwerk vorstellen kann.

Doch insgesamt handelt es sich bei „Der Traum vom Meer“ um einen interessanten Querschnitt durch die zeitgenössische deutsche Literatur. Der Autor Herausgeber Frank W. Haubold, der dem Meer auch persönlich verbunden ist, hat dafür mit Schriftstellern zusammengearbeitet, die er bereits aus vorhergehenden Anthologieprojekten kennt, und das Thema als Wettbewerb in einem Literaturforum ausgeschrieben. Die besten Geschichten haben es zwischen die Deckel des knapp 200seitigen Hardcovers geschafft. Das Buch ist auch handwerklich gut gestaltet. Besonders eindrucksvoll sticht der von Crossvalley Smith alias Dr. Martin Schmidt entworfene Schutzumschlag hervor, von dem aus dem Leser zwischen aufgetürmten Wolken und einem grünblauen unruhigen Meer ein wachsames Auge entgegenblickt. Hoffentlich lässt diese auffällige und geheimnisvolle Gestaltung zahlreiche Leser in Buchhandlungen zugreifen. „Der Traum vom Meer“ hätte es verdient.

|192 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3862372126|
http://www.projekte-verlag.de
http://www.frank-haubold.de
[Interview mit Frank Haubold]http://buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=106

Thiele, Johannes – Alles über den kleinen Prinzen

_Verführerisches Sekundärwerk_

Es wird nur wenige Menschen in der westlichen Welt geben, die noch nie von Antoine de Saint-Exupérys Bestseller [„Der kleine Prinz“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6256 gehört haben. Zahlreiche Zitate aus der Geschichte über einen jungen Prinzen, der seinen Weg auf die Erde findet und dort auf einen in der Wüste abgestürzten Piloten trifft, haben sich als Aphorismen in das Menschheitsgedächtnis eingegraben; als bekanntestes Beispiel dürfte wohl der Ausspruch gelten, dass man nur mit dem Herzen gut sehe, weil das Wesentliche für die Augen unsichtbar sei. Nach der Bibel ist „Der kleine Prinz“ das meist übersetzte Buch und hat bereits seinen Weg in die unterschiedlichsten Adaptionen von Comics über Hörbücher bis zu Bühnen- oder Filmversionen genommen.

Der Autor und Publizist Johannes Thiele blickt mit seinem Buch „Alles über den Kleinen Prinzen und wie er seinen Weg zu den Herzen der Menschen fand“ über die eigentliche Geschichte hinaus und widmet zahlreiche Kapitel gerade dieser Wirkung des Buches und den von ihm inspirierten künstlerischen oder auch sozialen Leistungen. Er macht damit die immense Wirkung des Stoffes auf seine Leser deutlich und weckt Verständnis dafür, dass die Bedeutung des vorgeblichen Märchens weit über ein solches hinausgeht.

Natürlich geht er auf die Biografie des Autors ein und bespricht dabei insbesondere die Motive, die sich im „Kleinen Prinzen“ wiederfinden. Er beschäftigt sich mit den Originalillustrationen und setzt diese in Bezug zu den Illustrationen der zahlreichen Übersetzungen und Adaptionen. Doch hauptsächlich ist Thiele ein Fan, der fleißig recherchiert hat und mit allerhand Zahlen aufwartet, welche die Rechtmäßigkeit des Ruhms des „Kleinen Prinzen“ belegen, so dass man als Leser schließlich seinen Hut vor den Erfolgen des Stoffes zieht. Thiele hat sein Sekundärwerk mit Herzblut geschrieben, das dazu führt, dass sich seine Bewunderung auf den Leser überträgt.

Natürlich kann es nicht gelingen, „Alles über den Kleinen Prinzen“ zu schreiben. Schnell wird deutlich, dass jedes Kapitel und vor allem die Interpretationen im Grunde nur Untersuchungsansätze bieten können, die wiederum für sich Stoff für ein eigenes Buch oder weitere Untersuchungen böten. Leider klingen die Kapitel über den |Karl Rauch|-Verlag recht eigenwerbend, und auch die Abbildungen von Ausgaben aus diesem Verlag, wo man sich Abbildungen von Erstausgaben vorstellen könnte, muten eher wie Eigenwerbung an. Doch bietet das Buch neben dem guten Einstieg in den Stoff und seiner Bedeutung zahlreiche Fotos, bekannte Illustrationen und Zitate aus dem „Kleinen Prinzen“ sowie eine sehr schöne typographische Aufmachung mit unterschiedlichen Schriftarten und -farben und eingefärbte Seiten, die über diesen Kritikpunkt hinwegsehen lassen. Als i-Tüpfelchen wären nur noch ein Lesebändchen und ein Leinenumschlag möglich gewesen. Dennoch können Bücherfreunde und Liebhaber der Geschichte Saint-Exupérys durch die bestehende, sehr ansprechende Aufmachung, die schon beim Schutzumschlag beginnt, leicht dazu verführt werden, dieses Buch für eines ihrer Bücherregale zu erwerben, um immer wieder darin zu blättern und zu schmökern. Dieser Verführung nachzugeben, sei ihnen hiermit wärmstens ans Herz gelegt.

|239 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3792001509|
http://www.karl-rauch-verlag.de

Hermann Laage / Norbert Roedel – Operation Noyade: Der letzte Flug von Antoine de Saint-Exupéry in den Vercors

Das Leben schreibt die besten Geschichten

Der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry ist den heutigen Lesern vor allem durch seine Erzählung [„Der kleine Prinz“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6256 bekannt. Die meisten wissen auch, dass diese und andere Erzählungen des Autors von seinen Erfahrungen und Erlebnissen als Berufspilot inspiriert wurden, und so mancher hat sich sicherlich gefragt, welche wunderbaren Werke Saint-Exupéry der Welt noch geschenkt hätte, wenn er nicht – so wollen es die Geschichtsbücher – während eines Aufklärungsflugs im Zweiten Weltkrieg abgestürzt wäre.

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Dalager, Stig – Im Schattenland

_“Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“_

Es ist der Morgen des 11. September 2001, an dem der Rechtsanwalt Jon Backsgaard zum ersten Mal seinen muslimischen Mandanten Ifrahim Mohammed trifft. Dieser ist des Mordes an einem jüdischen Juwelier angeklagt. Doch seiner Aussage nach wurde ihm dieser Mord untergeschoben, weil er zufällig Kenntnis von einem Anschlag auf die New Yorker U-Bahn erhalten hat und ihn terroristische Kreise so aus dem Weg schaffen wollten. So aussichtslos dieser Fall wegen seiner scheinbar unmöglichen Beweisbarkeit auch von allen Top-Anwälten New Yorks abgewinkt wurde, so gewiss nimmt sich der Gerechtigkeit liebende und bis zur Selbstaufgabe mutige Anwalt Backsgaard dieses Falles an. Während er mit seinem Mandanten spricht, schlagen die sich durch unzählige Fernsehbilder und Fotos ins Weltgedächtnis eingegraben habenden Flugzeuge ins World Trade Center ein, wo seine Lebensgefährtin Eve in ihrem Büro arbeitet, weil Jon die gemeinsame Reise zu deren Vater nach Israel aufgrund des neuen Falles verschoben hatte.

Durch einen Anruf alarmiert, macht er sich sogleich heldenhaft auf, um seine Freundin aus dem einstürzenden Südturm zu retten und in den Folgewochen ein Video zu erjagen, das die Unschuld seines Mandanten beweist. Während er von Schuldgefühlen Eve gegenüber und auch gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin Stine sowie dem gemeinsamen autistischen Sohn, welchen er in Wien zurückgelassen hat, und nicht zuletzt von Alpträumen geplagt wird, gerät er zudem ins Visier der amerikanischen Terrorermittler, was ihn schließlich mitten hinein ins Schützenfeuer des Israel-Palästina-Konfliktes führt.

Wie man an dieser äußerst knappen Zusammenfassung des Plots bereits erkennen kann, sind die Figuren des dänischen Autors Stig Dalager in sämtlichen sozialen und politischen Problemkreisen der aktuellen Zeitgeschichte verankert. Backsgaard lebt als moderner Nomade auf verschiedenen Kontinenten. Hin- und hergerissen zwischen den unterschiedlichen Welten und zwei Frauen, weiß er weder, wo er seine Heimat verorten soll, noch, wem tatsächlich sein Herz gehört. Außerdem ist ihm deutlich bewusst, dass er der Verantwortung für sein Kind nur unzureichend nachkommt. Eve versucht in Amerika den Gespenstern zu entkommen, die sie aus der Lebensgeschichte ihres Vaters geerbt hat, der in Israel lebt und dort seine Zeit in Auschwitz verdrängt. Ein Arzt, der Eve im Krankenhaus betreut, hat im Golfkrieg gekämpft und ein Trauma davongetragen. Natürlich wird auch Amerikas große Wunde, der Vietnamkrieg, angesprochen, und als sei das noch nicht genug an Zündstoff, versetzen sich die Figuren in ihren Träumen in andere Figuren hinein, so dass der Leser unter anderem auch noch Osama Bin Laden in seiner Höhle begegnet.

Auch mit Hilfe der gewöhnungsbedürftigen Wahl des Präsens wird der Leser durch einen 330 Seiten währenden Strudel der Ereignisse gewirbelt und muss dabei versuchen, den roten Faden des Romans im Auge zu behalten, was sich durch die Vielfalt an Themen, Nebenfiguren und Handlungsorten nicht immer einfach gestaltet. Doch wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und so kann jeder Leser über das politische Ereignis nachsinnen, das ihn am meisten bewegt. Aus weiblicher Perspektive hebt man bereits bei Backsgaards heroischer Rettungsaktion aus dem brennenden Hochhaus zweifelnd eine Augenbraue und kann zum Schluss nur noch den Kopf schütteln, wenn er sich auf der Suche nach dem Hamas-Terroristen Zawawi in den israelischen Kugelhagel wirft.

Der nüchterne Sprachstil aus kurzen Sätzen, präzisen Dialogen und knappen Beschreibungen klingt auf den ersten Seiten noch analytisch und vertrauenswürdig, so als könne er Erklärungen bieten oder würde zu Wahrheiten führen. Doch er verspricht mehr, als er halten kann. Es gibt in diesem Buch keine Erklärungen, keine Gewinner und keinen befriedigenden Erfolg des Ermittlers Backsgaard. Auch er ist am Schluss wieder nur unterwegs auf einem neuen Weg ins Ungewisse. Der Leser ahnt Akte-X-mäßig dunkel, dass die Wahrheit irgendwo da draußen ist. Aber das Schattenland hat sich längst zu einer Schattenwelt ausgedehnt, deren Dunkelheit auch Fiktion nur partiell erhellen kann.

Mit „Im Schattenland“ bietet der |Eichborn|-Verlag eine gute Möglichkeit, sich mit dem Werk eines der bedeutendsten dänischen Autoren der Gegenwart bekannt zu machen. Viele seiner über 40 Prosawerke, Gedichtbände und Drehbücher wurden international herausgebracht bzw. aufgeführt. So hat er sich beispielsweise in „Zwei Tage im Juni“ (Kiepenheuer, 2004) der Thematik des Stauffenberg Attentats auf Hitler angenommen oder in „Das Labyrinth“ (Picus, 2007) seinen Anwalt Jon Backsgaard in die rechtsextreme Szene von Wien geschickt. Mit „Im Schattenland“ und seinen anderen politischen Thrillern nimmt sich der studierte Literaturwissenschaftler Problemen der aktuellen Zeitgeschichte an und bietet handwerklich gut gemachte Unterhaltung.

|Übersetzt von Heinz Kulas und Jette Mez
336 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3821861005|
http://www.eichborn.de

Meyer, Axel S. – Buch der Sünden, Das

_Spannender Ausflug ins frühe Mittelalter_

_Im Jahr 845_ fallen die Normannen in Paris ein und zerstören nicht nur die Stadt, sondern auch das bisherige sorglose Leben des kleinen Odo, Sohn des mächtigsten Mannes der Stadt. Ragnar, der Anführer des wütenden Packs, tötet dessen Vater. Seine Mutter wird geschändet und verschleppt. Odo überlebt den Angriff nur durch großes Glück und ist fortan von einem unstillbaren Hass auf die Mörder seiner Eltern und den Schänder seiner Mutter besessen.

Jahre nach diesem Vorfall – Odo wurde bereits in einem Kloster zum Priester ausgebildet – verschlägt es den jungen Mann in das Kloster Sankt Gallen, wo er das „Buch der Sünden“ stiehlt. In diesem Buch soll geschrieben stehen, wie man die Sünden in ihrer Vollkommenheit erkennt und vernichtet. Der bedauernswerte Odo wandelt sich vom Opfer zu Täter. Er stellt sein Leben allen christlichen Geboten zum Trotz unter die Aufgabe, die Sünden in ihrer menschlichen Gestalt ausfindig zu machen und die Dämonen zu vernichten, um damit das Gottesgericht einzuleiten. In der siebenten Sünde, dem Dämon Superbia, glaubt er Ragnar, den Anführer der Normannen, die inzwischen halb Europa in Angst und Schrecken versetzt haben, erkannt zu haben.

Er reist nach Haithabu, in dem er das Babylon des Nordens vermutet, wo er die Prophezeiung erfüllen möchte. In der aufblühenden Stadt, dem Tor zum Norden, lebt auch der Schmied Einar mit seiner Frau und seinem Sohn Helgi. Der Priester ist dort nicht gern gesehen, da die Dänen ihre eigenen nordischen Götter anbeten, doch man lässt ihn beim Neubau der Kirche vorerst gewähren, auch wenn er Männer abzieht, die der Stammesfürst zur Kriegsvorbereitung benötigt. Während also Odo die Schwelle vom Glauben zum Fanatismus überschreitet und genau den brutalen Anweisung zur Vernichtung der Sünden folgt, wobei er einen Menschen nach dem anderen auf bestialische Weise abschlachtet, lenkt der Autor nun den Fokus auf den Sohn des Schmiedes, welcher sich in die Sklavin des größten Konkurrenten seines Vaters verliebt. Aber Helgi gerät in Odos Visier, als der Priester den Verdacht schöpft, dass der junge Däne die aktuelle Verkörperung der siebenten Sünde ist.

Dieser ist jedoch vollauf damit beschäftigt, die schöne Sklavin zu retten und in ihre Heimat zurückzubringen, wo diese als Tochter des Wojwoden der Siedlung Ralsvik ihre Stellung als Anführerin wiedererlangt und in die Heirat mit Helgi einwilligt. Bevor die beiden jedoch glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben können, müssen sie sich erneut gegen die räuberischen Dänen und nicht zuletzt gegen den wahnsinnigen Odo wehren.

_Axel Meyer_ hat für seinen historischen Roman umfangreiche Recherche betrieben. Daher kann man den Protagonisten leicht durch die von Dreck gesäumten Nebenstraßen Paris‘ über die kontrastierend angelegte geistige und geistliche Hochburg des Klosters Sankt Gallen ins heillos übervölkerte, nach Fisch und Exkrement stinkende Haithabu mit seinen heidnischen Bewohnern folgen. Dagegen erscheint das Land der Ranen, die Insel Rügen, wie das unberührte Paradies auf Erden. Auch die barbarisch anmutenden Bräuche der Dänen, ihr wildes kultisches Leben und ihre Aggressivität sind sehr anschaulich dargestellt; ebenso die gewalttätige Umsetzung des Buches der Sünden, die Odo als Christen auf die gleiche Stufe mit den von ihm so verachteten Heiden stellt. Dagegen zeigen die zarten Gefühle, die Helgi der Sklavin entgegenbringt, diesen von einer Seite, die für seine Lebensumstände fast schon zu weich erscheint.

Meyer zieht in seinem Erstlingswerk alle Register, um Helgi die Sympathien der Leser zu sichern. Er rettet nicht nur mehrmals das Leben seiner Geliebten, er gibt auch seine Heimat für das Land der Ranen auf, wobei er ebenfalls sein Leben riskiert. Er erweist sich als mutig und willensstark, wenn er mit zerschlissenen Händen und halbtot durch eine Vergiftung über das Meer nach Rügen rudert, um sein Versprechen zu erfüllen. Aber so richtig kann man sich unter der Bezeichnung Helgi keinen blonden, muskulösen und schwertbewehrten Hühnen vorstellen, sondern denkt eher an einen Freund von Wicki, dem Wikinger, ungefähr in dessen Alter. Da fragt man sich, warum niemand den Autor von dieser Namenswahl abgehalten hat.

Mit Teska der Sklavin stellt Meyer Helgi eine starke Frau zur Seite, die von ihrem Vater alles gelernt hat, was ein Sohn hätte können müssen, wenn er einen gehabt hätte. Ihr unbändiger Überlebenswille und ihr kluges Vorgehen bei der Rückerlangung ihrer Position lassen Helgi trotz seiner Leistungen etwas blass aussehen. Odlo wird in seiner Besessenheit plastisch und glaubhaft geschildert. Sein Kindheitstrauma steht dem Leser zwar immer vor Augen, aber die kaltblütige Vorgehensweise und die Konsequenz, mit der er Verbrechen und körperliche Strapazen auf sich nimmt, um sein Ziel im Namen Gottes zu erreichen, wirken wahrhaft beängstigend.

Abgesehen von diesen drei Figuren beleben weitere liebevoll ausgearbeitete Nebenfiguren den Roman. Der Zauberer der Siedlung Ralsvik haucht dem Roman als promiskuitive Plaudertasche Witz ein. Figuren wie Helgis hart arbeitender Vater oder seine besonnene Ziehmutter verkörpern abseits von allen heroischen oder geisteskranken Figuren etwas Normalität und sind dem Leser näher als die Haupthelden des Romans. Natürlich – so viel sei noch verraten – gibt Odo seine Pläne nach Helgis und Teskas Flucht aus Haithabu nicht auf. Somit bleibt „Das Buch der Sünden“ bis zur letzten Seite spannend und zeigt, dass der erste Preis beim historischen Romanwettbewerb des |rororo|-Verlags verdient verdient an Axel Meyer vergeben wurde.

|784 Seiten, broschiert
ISBN-13: 978-3499253805|
http://www.rowohlt.de

James, Henry – Drehung der Schraube, Die

_Mehr als eine Gruselgeschichte_

An einem gemütlichen Kaminabend liest ein junger Mann seinen Freunden einen Brief der Gouvernante seiner Schwester vor. Diese übernimmt als junge Frau die Betreuung eines kleinen Mädchens und deren älteren Bruders auf dem abgelegenen, aber romantischen Landsitz Bly. Der Vormund der überschwänglich als engelsgleich beschriebenen Kinder möchte mit deren Angelegenheiten nicht behelligt werden. Nach einer Weile beginnt die Gouvernante, die Geister der verstorbenen früheren Gouvernante und des früheren Kammerdieners ihres Herren zu sehen. Plötzlich wittert sie hinter dem freundlichen Wesen der Kinder Falsch- und Verlogenheit. Schließlich steigert sie sich so stark in ihre Überzeugung, die Geister würden das Böse in den Kindern hervorbringen, hinein, dass die Geschichte nur ein unglückliches Ende nehmen kann.

Der |Manesse|-Verlag hat dieses Werk des amerikanischen Schriftstellers Henry James aus dem Jahr 1898 in einer überarbeiteten Version der Übersetzung von Ingrid Rein für den |ars vivendi|-Verlag wieder aufgelegt. Die Erzählung gilt als eine der rätselhaftesten Geschichten der Weltliteratur und wird von der Literaturtheorie als kompositorisches und sprachliches Meisterwerk gefeiert sowie unter verschiedenen Aspekten diskutiert.

Man muss nicht so weit gehen, „Die Drehung der Schraube“ als eine Horrorgeschichte zu betrachten. Hundert Jahre nach ihrem ersten Erscheinen kann sie höchstens eine leichte Gänsehaut hervorrufen. Was man ihr jedoch lassen muss, ist, dass man sie durchaus mehrmals lesen kann, denn mit dem Ende vor Augen, kann man sich umso besser auf die Details der Geschichte und auf das Nicht-gesagte konzentrieren sowie die Aussagen von Personen innerhalb des Handlungsgeschehens anders bewerten.

Die umständliche Einleitung über die mit zeitlicher Verzögerung herangebrachte Abschrift des Briefes findet jedoch keinen runden Abschluss, da es sich nicht um eine Rahmengeschichte handelt. Es wird nicht mitgeteilt, was die Zuhörer denken oder was aus der Gouvernante in späteren Jahren geworden ist, welche Konsequenzen ihr Handeln auf Bly eventuell gehabt haben mögen. Was man als gemeiner Leser für unausgearbeitete Handlungssprünge halten könnte, kann als kalkulierte Leerstellen betrachtet werden, die das Geschehen gleich der Umdrehung einer Schraube immer weiter vorantreiben, bis sie sich nicht länger weiterdrehen lässt. Die Geschichte ist voller Twists, nach denen der Leser seine Haltung dem Geschehen gegenüber jedes Mal prüfen und neu ausrichten muss. Das ist verhältnismäßig spannend, denn schon bei den unkritischen Lobpreisungen ihrer Schüler schleicht sich der Eindruck an, dass man sich auf die erzählende Instanz nicht verlassen kann.

|Manesse| hat, wie man es vom Verlag bei der Reihe „Bibliothek der Weltliteratur“ gewohnt ist, handwerklich solide gearbeitet. Der kleine Band präsentiert sich in Leinen gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen. Ein ausführliches Nachwort macht mit den wichtigsten Diskursen über das Werk vertraut und editorische Notizen befassen sich mit der Übersetzung. „Die Drehung der Schraube“ ist eine Erzählung, die den Leser fordert, ja geradezu auffordert, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Wer dazu nicht bereit ist, wird keine Freude an dem Buch haben.

|Originaltitel: The Turn of the Screw
Übersetzung: Ingrid Rein
304 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3717523307|
http://www.randomhouse.de/manesse/

|Siehe ergänzend dazu auch unsere [Rezensionen]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1383 zur Hörspielumsetzung „Die Unschuldsengel“.|

Dirk Hack – Reifkalte Nächte durchwacht

_Erste Gehversuche auf schwierigem Terrain_

Lyrik rezensieren – Als ich das schmale Büchlein „Reifkalte Nächte durchwacht“ von Dirk Hack in den Händen halte, wird mir die Schwierigkeit meines Unterfanges sofort bewusst. Schon aus den ersten Versen sprechen der Erfahrungshorizont und das handwerkliche Vermögen eines Schreibenden, der noch am Anfang seines Lebens und seiner schriftstellerischen Laufbahn steht. Ich fühle mich an meine eigenen lyrischen Versuche erinnert und daran, dass sich ein Autor mit Lyrik mehr als mit jeder anderen literarischen Form entblößt und seine Leser tief in das eigene Empfinden vordringen lässt.

So windet sich auch Dirk Hack im Weltschmerz der Jugend, der klagt, anklagt, aber keine Lösungen, sondern nur das beklemmendes Gefühl bieten kann, dass der Klagende irgendwie Recht hat und dem wunden Punkt ziemlich nahe kommt, ihn aber dennoch nicht trifft und deshalb in seinem Verlangen, die Welt zu verstehen und zu verändern, erfolglos bleibt, wie der „unweise Mann“ aus der „Edda“, der zwar die Nächte durchwacht und sich um alles sorgt, jedoch an den Gegebenheiten nichts ändert. Auch über die Edda hinaus kennt Hack sich mit den Standardwerken der Literatur und den Großen der Branche aus. Sein Prolog aus einer Gleichsetzung von „nichts Sinnvollem“ mit dem Menschen „auf dem Höhepunkt seines Schaffens“ verrät eine Affinität zu Nietzsche. Den Romantikern wie dem zitierten Eichendorff gleich hängt er der Melancholie des Herbstes („Herbstlandschaft“) und von Vollmondnächten („Wolkenverhangener Vollmond“) nach. Er beschwört die „Nächtliche Einsamkeit“, betrauert den Verlust der Kindheit („Später Nachmittag“) und der ursprünglichen, als wahrhaftig empfundenen Natur, die der modernen Lebenswelt gewichen ist („Vertrocknetes Laub, verdorrter Hain“). Er scheut sich auch nicht, sich der Schwermut hinzugeben („Tränenregen“). Immer wieder werden Motive aus der nordischen Mythologie verwendet. So stehen beispielsweise die dramatisch wirkenden Götter und mythischen Momente gleichberechtigt neben vom Minnesang des hohen Mittelalters inspirierter empfindsamer Lyrik.

Der Autor probiert sich auch in Form und Wortwahl aus. Gedichte in freien Reimen wechseln mit streng gereimten. So manches Mal holpert der Rhythmus und einige Reime klingen bemüht. Auch die Verwendung altertümlicher Ausdrücke mutet etwas befremdlich an, als müsse Hack noch zu sich selbst und einer eigenen Sprache finden, zumal modernere Wortformen den Versen an einigen Stellen viel besser stehen und sie mehr in der Gegenwart verankern würden. So steht in „Nachruf“ die Verwendung von „jetzo“ störend neben sonst aktueller Wortwahl und dem gelungenen Bild „will das Hirn dem Herz entrennen“.

Neben Gedichten finden sich kurze Prosastücke wie das Gleichnis „Vom Muttermord“, welches als Vision von der Zerstörung der Erde durch ihre gierigen Menschenkinder, die sich schließlich gegenseitig umbringen, gelesen werden kann. Man fragt sich nur, wer noch übrig geblieben ist, um sich viele Jahrhunderte später noch den Namen der Mutter zuzuraunen.

Selbstverständlich orientiert sich jeder Schriftsteller an den Sujets der Literaturgeschichte, und es dürfte Weniges geben, über das noch nicht geschrieben wurde. Daher kann man zwar an den Texten eines jungen Autors vieles kritisieren. Man kann dem jungen Menschen jedoch auch für sein bisher Erreichtes auf die Schulter klopfen und etwas auf den Weg geben: weiterzuschreiben, dabei am Bilderreichtum zu arbeiten, über die Vorbilder hinauszuwachsen und mit ihnen zu spielen, um Originalität zu erreichen. Aus dieser Perspektive bildet „Reifkalte Nächte durchwacht“ den ersten Schritt auf einem langen Weg. Jugendliche Leser dürften sich in den Themen wiedererkennen. Erfahrenen Lesern wird das liebevoll aufgemachte Bändchen aus dem |Mischwesen|-Verlag nicht viel Neues bringen, außer der beruhigenden Gewissheit, dass sich die Jugend auch heute noch mit Lyrik beschäftigt und sie nicht aussterben lässt.

http://www.mischwesen-av.de

Moravia, Alberto – Römische Erzählungen

_Kurzweilige Reise in die jüngere Vergangenheit Roms_

Über die Vampire und Zauberer, von denen es in der zeitgenössischen Literatur nur so wimmelt, über historische Romane und andere überwiegend unterhaltenden Literatur vergisst man fast, dass es auch noch Schriftsteller gab und gibt, die sich durchaus realistisch mit der sie umgebenen Welt auseinandergesetzt haben. So ist es leicht möglich, dass man sich Alberto Moravias „Römische Erzählungen“ in Vorfreude auf einen Italienurlaub in der Buchhandlung greift und überrascht wird. Rot wie der Mohn zwischen den Steinen im Forum Romanum dominiert die Zeichnung eines leichten Schals den Einband von Luchterhands Wiederauflage. Sie zeigt bereits, wo die Reise hingeht: in undurchsichtige, in erotische, sogar in blutige Gefilde. „Meisterhafte literarische Momentaufnahmen (…) Ein Buch über Rom, über die Liebe, die Tragödien des Alltags und die Labyrinthe der menschlichen Seele.“ verspricht der Umschlagtext. Und er hält, was er verspricht.

Mit seinen 1954 und 1959 zum erstem Mal veröffentlichten „Racconti romani“ nimmt Moravia den Leser mit in das Nachkriegsitalien der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Bereits die erste Geschichte „Der Dickschädel“ skizziert das Milieu, in dem sich alle Erzählungen bewegen. Der männliche Ich-Erzähler, ein römischer Taxifahrer, lässt sich in der Hoffnung auf ein amouröses Abenteuer darauf ein, zwei Männer und eine Frau nach außerhalb von Rom ans Meer zubringen. Obwohl die Frau wie eine Schlange wirkt, sind ihr roter und voller Mund sowie ihre schwarzen leuchtenden Augen zu verführerisch, um die Fahrt abzulehnen. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass die Bande ihn erschießen und sein Auto stehlen will. Der Mordversuch missglückt, weil selbst die Pistole zu heruntergekommen ist, als dass sie noch richtig funktionieren würde. So recht trauen sich die Männer einen Mord auch gar nicht zu. Nach einer absurden Diskussion fährt der Taxifahrer nur mit der Frau nach Rom zurück und muss unterwegs auch noch feststellen, dass diese ihn die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hat und es kein amouröses Abenteuer geben wird. Ganz im Gegenteil – er, der Arbeitszeit und Benzin vergeudet hat, wird am Ende noch als „Dickschädel“ beschimpft.

So oder ähnlich sind auch die Protagonisten der anderen Erzählungen gelagert. Man bekommt es mit leichten Mädchen, mit Mördern, Dieben, Messerstechern, Krüppeln, Kleinhändlern und merkwürdigen Figuren zu tun, die sich mehr schlecht als recht durch das Leben schlagen. Wie der Lastwagenfahrer aus der gleichnamigen Erzählung oder Gino aus „Das Double“ sind sie auf der Suche nach Freundschaft und Liebe. Dabei blickt Moravia auch in die Abgründe der menschlichen Seele, in der sich auch Hass und der Wunsch nach Rache ausbreiten können. Doch wie in der Erzählung „Das perfekte Verbrechen“ schlägt die bedrohliche Atmosphäre häufig ins Komische um und macht das perfekte Verbrechen auf ironische Weiser zu einem Verbrechen, das gar nicht erst geschieht.

Der Leser schmunzelt immer wieder über die Fehlinterpretation der Situationen durch die durchweg männlichen Ich-Erzähler Moravias. Diese sind nicht in der Lage, ihr Leben zu reflektieren, und versuchen nie, den Ursachen der ihnen widerfahrenden Schicksale auf den Grund zu gehen. Am Ende stehen sie meist so gewollt ahnungslos da wie der Erzähler aus „Laß es gut sein“, der bis zum Schluss der Geschichte nicht versteht, warum ihn seine Frau verlassen hat, obwohl durch die Schilderung des Charakters und der Taten des Protagonisten dem Leser auf didaktisch anschauliche Weise ganz genau vermittelt wird, dass es sich um einen Mann handelt, der seine Frau Tag und Nacht nicht für eine Minute allein gelassen hat und ihr in seiner „Anhänglichkeit“ sogar bis auf öffentliche Toiletten nachgelaufen ist. In seiner Verzweiflung wirkt er, der sich für den besten Ehemann hält, schon fast tragisch. Doch auch der Leser erkennt, dass es für diesen selbstverliebten Menschen nur den einen Rat gibt: „Lass es gut sein.“

Tatsächlich wirken die Geschichten, auch wenn sie von Versagen, Zurückweisung und Misserfolg erzählen, nie sentimental, sondern amüsant; bestes Beispiel ist auch die Geschichte des Müllmanns Luigi aus „Und du bist dran“, der seinen Beruf vor seiner Freundin geheimhalten will, weil er denkt, dass Frauen keine Müllmänner mögen, bis er schließlich seinen Job aufgibt und arbeitslos wird, woraufhin sie schließlich jemand anderen heiratet – einen Müllmann nämlich.

Einen beispielhaft mustergültigen Menschen gibt es trotz der didaktischen Absichten Moravias nicht. Seine Figuren sind nicht nur moralisch fehlerbehaftet wie jeder gewöhnliche Mensch. Sie sind auch äußerlich nicht perfekt und stehen dem Leser gerade deshalb nahe. Die Männer verlieben sich nicht in wunderschöne weibliche Überwesen, sondern beispielsweise in „ein kräftiges, nicht sehr großes Mädchen mit einem breiten, frischen, von Sommersprossen übersäten Gesicht und einer Brille für Kurzsichtige“ („Die Krankenschwester“) oder „dralle Mädchen, klein und krumm“ („Tarzans Revanche“).

Moravia, der in Rom geboren wurde und viele Jahre seines Lebens in dieser Stadt verbrachte, skizziert in den kurzen Geschichten eine bunte Stadt voller Leben. Sein Rom besteht aus kleinen Cafés und Bars, schmuddeligen Straßen, nachtfinsteren Parks, der braunen Dreckbrühe des trägen Tibers, dem hinter sonnenverbrannten Gräsern und trockenen Sträuchern gelegenem Meer sowie Wohnungen der Unter- und Mittelschicht. Es gibt kleine Geschäfte, mit denen sich die Inhaber gerade so über Wasser halten können. Die Menschen müssen im Kampf ums tägliche Überleben erfinderisch sein. Vom beginnenden Nachkriegsaufschwung hingegen zeugen Autos, Theater und Kinos. Man amüsiert sich beim Spazieren, bei Pferde- oder Windhundrennen oder bei einer Partie Billard, während man auf dem Land „die Hühner zwischen den Beinen hat“ und noch auf Pferde als Fortbewegungsmittel angewiesen ist. Solchermaßen kontrastierend erhält Rom seine Gestalt als Magnet für alle, die sich nach Fortschritt und einem besseren Leben sehnen. Die Landbevölkerung schneidet in Moravias Geschichten dabei schlechter ab als die Variation recht schlitzohriger oder trotteliger Römer. Tuda, das „Mädchen aus Ciociaria“, kann beispielsweise weder lesen noch schreiben und ist so einfältig, dass sie den Wert von Büchern allein an deren Anzahl und nicht an ihrem Inhalt misst.

So einfach wie die Menschen selbst und ihre Lebenswelt ist auch ihre Sprache. Schwarze Augen werden mit Kohlen verglichen; Körper mit Kohlköpfen. Schimpfwörter wie Nichtsnutz, Drückeberger, Faulpelz, Schurke, Hundsfott, gerissenes Luder oder Hexe begegnen dem Leser allenthalben. Sie klingen im Deutschen fast zahm, aber wenn man sie sich zusammen mit lebhaften Gesten und der leidenschaftlichen Intonation der Italiener vorstellt, ahnt man das Unbehagen, das die Darstellung der ungeschminkten Realität der einfachen Bevölkerung in ihren Entstehungsjahren ausgelöst hat. In diesem Sinne ist dieser moderne Klassiker der italienischen Literaturgeschichte dann doch wieder richtig aufgehoben im Urlaubsreisegepäck; als eine kurzweilige Reise in Roms jüngere Vergangenheit und die italienische Kultur, sicherlich keine ganz leichte Kost, aber in Häppchen dargeboten und daher gut verdaulich.

|Originaltitel: Racconti romani, 1954
Übersetzung: Michael von Killisch-Horn
476 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-630-62180-7|
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